Umstrittener Flüchtlingsdeal mit Ankara
Die Türkei will Migranten aus Griechenland zurücknehmen und verlangt dafür mehr Geld für Flüchtlinge sowie schnellere EU-Beitrittsverhandlungen. Paris und Wien haben sich jetzt gegen dieses Abkommen ausgesprochen. Wird sich die EU auf den Vorschlag aus Ankara einlassen?
Keine beschämenden Abkommen bitte!
Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von Barcelona, Lampedusa und Lesbos - Ada Colau, Giuseppina Nicolini und Spyros Galinos - appellieren in der linksliberalen Tageszeitung El Periódico de Catalunya an die EU-Staaten, den umstrittenen Flüchtlingsdeal mit der Türkei nicht einzugehen:
„Wir fordern, das Abkommen mit der Türkei nicht zu verabschieden, da es gegen internationale Gesetze und Grundrechte verstößt. Menschenleben dürfen nicht als Handelsware gegen Wirtschafts- und Handelsabkommen eingetauscht werden. Das Recht auf Asyl ist ein menschliches Grundrecht, mit dem man nicht feilschen darf. ... Die Grundwerte Europas stehen auf dem Spiel und die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, sind richtungsweisend für die Zukunft der EU. Daher bitten wir die Staaten, dass sie keine beschämenden Entscheidungen in unserem Namen treffen. Sondern dass sie die Städte in ihrer Netzwerkarbeit unterstützen, damit das Mittelmeer wieder zur Brücke der Zivilisation wird.“
EU-Beitritt der Türkei wäre verheerend
Die Türkei verlangt schnellere EU-Beitrittsverhandlungen im Gegenzug dafür, dass sie Flüchtlinge aus der EU zurücknimmt. Ein EU-Beitritt der Türkei würde allerdings völlig neue Probleme mit sich bringen, bemerkt die liberale Tageszeitung Público:
„Diejenigen, die den EU-Beitritt der Türkei befürworten und dabei auf strategische Vorteile hoffen, sollten umfassend über sämtliche Folgen nachdenken. Wäre die Türkei bereits heute ein Teil der EU, dann hätten wir ein weitaus größeres Problem mit syrischen Flüchtlingen in Europa, als gegenwärtig. Mehr als 2,7 Millionen Syrer befinden sich derzeit in der Türkei - Menschen, die dann automatisch in der Europäischen Union wären. Man kann sich nur vorstellen, was eine direkte Ausweitung der europäischen Grenzen zu einem so verheerenden Konflikt bedeuten würde.“
EU hat ihre Seele an Orbán verkauft
Der mögliche EU-Türkei-Deal treibt einen noch tieferen Keil in das gespaltene Europa, kritisiert die Bloggerin Adelina Marini:
„Das Abkommen lässt viele moralische und juristische Fragen offen. ... Das bedeutendste Problem aber ist, dass der Deal die Spaltung innerhalb der Union verstärkt. Man kann der Türkei nicht zum Vorwurf machen, dass sie die Schwächen der EU für ihre eigenen Interessen ausnutzt, wenn selbst die einzelnen Mitgliedsstaaten sich gegeneinander ausspielen. Der Türkei-Deal wurde erst notwendig, weil die EU ihre Seele an Orbán verkauft hat. Nun ist unsicher, ob die Türkei den Flüchtlingsstrom aufhalten wird. Sicher ist jedoch, dass der Orbánismus in der EU gewonnen hat, der Europa täglich weiter spaltet - unter dem scheinheiligen Vorwand der direkten Demokratie und der Souveränität.“
Ungerechtigkeit und Ärger sind programmiert
Sollte sich die EU darauf einlassen, im Austausch für jeden Flüchtling, den Ankara aus Griechenland zurücknimmt, einen syrischen Flüchtling direkt aus der Türkei aufzunehmen, ist das problematisch, meint die konservative Tageszeitung Milliyet:
„Diese Regelung wird Ungerechtigkeit und Reibereien mit sich bringen. Flüchtlinge, die ihr Leben riskierten und unter tausend Schwierigkeiten nach Europa gelangt sind, werden gezwungen, in die Türkei zurückzukehren. Gleichzeitig wird es der gleichen Anzahl von Syrern, die in den Lagern in der Türkei warten, ermöglicht, auf legalem Weg nach Europa zu gelangen. Ist das eine menschliche und gerechte Behandlung? Was passiert, wenn diejenigen, die zurückgeschickt werden sollen, dagegen Widerstand leisten? Oder wenn diejenigen, die nach Europa geholt werden sollen, gezwungen sind, nicht in das Land ihrer Wahl auszuwandern sondern je nach Quote in ein bestimmtes Land?“
Flüchtlinge sind Mittel der Geopolitik
Darauf, dass viele Staatsführer in Europas Nachbarschaft Flüchtlingskrisen zum Machtgewinn nutzen, weisen die christlich-liberalen Salzburger Nachrichten hin:
„Libyens Herrscher Muammar al-Gaddafi galt als Terror-Sponsor, der an der Atombombe bastelte. Dennoch hoben die EU-Staaten die Sanktionen gegen den Despoten auf. Denn Gaddafi setzte Menschen als politische Waffen ein, indem er versprach, den Europäern afrikanische Flüchtlinge vom Leib zu halten. ... Diesmal ist von der Türkei die Rede, die für Europa den Flüchtlingsstrom eindämmen soll. Das ist vielen in der EU ungeheuerlich, denn dieses Land erscheint nicht als vertrauenswürdiger Partner. Indem wir die Türkei als Grenzwächter einstellen, demonstrieren wir, wie sehr die Migration mittlerweile zu einem Mittel in der Geopolitik geworden ist.“
Erdoğan will Europa islamisieren
Erdoğan will mit der Visafreiheit Europa islamisieren, glaubt die Tageszeitung Dnevnik:
„Die Ausweitung der muslimischen und insbesondere türkischen Gemeinschaft in Europa ist eines der langfristigen Ziele der islamischen Regierung in Ankara. Die EU-Visafreiheit für türkische Staatsbürger ist ein besonders wirkungsvolles Mittel zum Zweck. … Die Visafreiheit, die die Türkei den Bürgern vieler arabischer Länder gewährte, hat die Grenzen praktisch geöffnet und die Türkei tief in die Gemeinschaft des Nahen Ostens integriert. Die Öffnung der EU-Grenzen für Türken bedeutet nun nicht mehr und nicht weniger als die Verwandlung Europas und des Nahen und Mittleren Ostens in einen gemeinsamen Raum ohne Grenzen. Wie viele Menschen aus der Region infolge dieser Visa-'Liberalisierung' nach Europa ziehen werden, können wir nur ahnen.“
Merkel von der Innenpolitik getrieben
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat unter Druck der bevorstehenden Landtagswahlen den Deal der EU mit der Türkei geschlossen, analysiert die linksliberale Tageszeitung De Volkskrant:
„Im vergangenen Jahr kamen eine Million Flüchtlinge nach Deutschland, das Land steht unter Spannung, die Europäische Union streitet, Rechtspopulisten florieren und Merkels Position wankt. Sonntag ist der erste Wähler-Test in Baden-Württemberg, Rheinland Pfalz und Sachsen-Anhalt mit insgesamt 12,7 Millionen Wählern. Merkel steht unter großem Druck und handelt entsprechend. ... Ihre Verhandlungen mit der Türkei sind ein Beispiel der Realpolitik. Sie hält die Türkei für unverzichtbar, um die Flüchtlingskrise zu beenden. Aber diese ist ein Partner von zweifelhafter Reputation. ... Normalerweise hält Merkel so jemanden wie Erdoğan auf Distanz. Aber das kann sie nun nicht. Sie braucht ihn, und er fordert dafür einen hohen Preis.“
Einigung steht noch lange nicht
Die Erklärungen, es habe einen Durchbruch beim EU-Türkei-Gipfel gegeben, sind mit Vorsicht zu genießen, warnt die linksliberale Irish Times:
„Der Teufel steckt im Detail, und viele Bestandteile des Abkommens stoßen bei Mitgliedstaaten und wahrscheinlich Gerichten auf resoluten Widerstand. ... Insbesondere Mittel- und Osteuropa weigert sich, feste Verteilungsquoten für Flüchtlinge zu akzeptieren, und die von Deutschland angeführte Gemeinschaft der Willigen ist mager. Frankreich tut sich mit den türkischen Arbeitsvisa schwer und Merkel murmelt etwas davon, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht auf der Agenda stehe. ... Noch ausschlaggebender ist der Fakt, dass der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge die Legalität des Herzstücks des Abkommens in Frage stellt – die massenhafte Rücksendung der Flüchtlinge in die Türkei würde deren Recht auf Schutz nach internationalem Recht verletzen. ... Dieses Abkommen ist noch längst nicht in Sack und Tüten.“
Erdoğan profitiert von Fehlern des Westens
Dass der Westen zu Zugeständnissen gegenüber der Türkei bereit ist, ist durch sein Versagen in Syrien zu erklären, analysiert die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore:
„Das komplizenhafte Verhalten Europas und der USA erklärt sich mit der Tatsache, dass sie im Nahen Osten eine ihrer schwersten Niederlagen haben einstecken müssen: Baschar al-Assad ist an der Macht geblieben, der größte außenpolitische Fehler der vergangenen Jahre. ... Es waren europäische Staaten wie Frankreich, die auf den Sturz von Assad setzten und darüber beide Augen vor dem Autoritarismus Erdoğans verschlossen. Der türkische Präsident ist sicher kein Heiliger. Doch er hat eine ganze Menge darüber zu erzählen was die europäischen Führungskräfte angeht, die jetzt schwerlich die Schockierten mimen können.“
Türkei ist kein vertrauensvoller Partner
Es ist absurd, mit der Türkei über die Lösung der Flüchtlingsfrage zu verhandeln und sie als sicheren Drittstaat zu betrachten, meint die konservative Wirtschaftszeitung Naftemporiki:
„Umso mehr, als dass dieses Land eine Verantwortung für die Situation in Syrien trägt, mit einer offensichtlichen (Bombardierung der Kurden) und einer indirekten Einmischung in den Krieg (Unterstützung des Islamischen Staats). Abgesehen davon bräuchte man eigentlich keine Nato-Schiffe, damit ein koordinierter Staat wie die Türkei seine Arbeit machen und das Schleppergeschäft bekämpfen kann, das dort seit Jahren boomt. … In der Türkei leben viele Flüchtlinge immer noch unter erbärmlichen Bedingungen. Einige wurden nach Syrien abgeschoben, während die Sicherheitskräfte auf Syrer schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren. … Der EU-Gipfel bestätigt die Existenz eines schwer gespalteten Europas, das einer Politik des 'Gebens und Nehmens' folgt, statt eine gemeinsame Lösung in der Flüchtlingsfrage zu suchen.“
Menschenrechte interessieren die EU nicht
Der Deal der EU mit der Türkei zur Bekämpfung der Flüchtlingskrise ist beschämend, empört sich die liberale Internetzeitung T24:
„Ganz Europa - allen voran Deutschland - will sich von den Flüchtlingen befreien, und es gibt nur einen rettenden Ast: die Türkei. In dieser Heiratsatmosphäre ist Europa bereit, alles gutzuheißen, ob es der Zustand der Freiheiten und Menschenrechte oder das autoritäre Regime in der Türkei sind. Mit der Aussage 'wir haben trotz allem keine andere Alternative' gibt die EU das sogar offen zu. Es genügt, wenn die Türkei die Flüchtlinge behält, dann kann sie im Inneren tun, was sie will - weder schreibt die EU Jahresberichte, noch zieht sie die Türkei zur Rechenschaft, und selbst wenn sie etwas notiert, bewahrt sie sich das bis zum kommenden Frühjahr auf. Diese Ignoranz kommt unserer Führung sehr gelegen.“
Ankara genau auf die Finger schauen
Die EU darf sich nach dem Deal mit der Türkei nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern muss prüfen, was diese mit dem Geld anstellt, mahnt die konservative Tageszeitung El Mundo:
„Die EU muss die Verpflichtungen der Türkei gegenüber den Flüchtlingen genau überwachen und kontrollieren, dass Ankara das zugesagte Geld dafür nutzt, die Grundversorgung der Flüchtlinge zu garantieren und aktiv gegen Schlepperbanden vorgeht, die ungestraft auf türkischem Territorium agieren. Selbst wenn die Balkanroute ab heute tatsächlich geschlossen wäre, ist es sehr wahrscheinlich, dass die skrupellosen Schlepper neue Wege finden, um ihr lukratives Geschäft fortzusetzen. Da die Einigung auch die visafreie Einreise der Türken nach Europa und die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU beinhaltet, muss Brüssel die Regierung in Ankara zwingen, Reformen einzuleiten, um die Demokratie im Land zu stärken.“
Endlich wird Schleppern das Handwerk gelegt
Für die Tageszeitung Expressen wäre ein Abkommen mit der Türkei ein Schritt in die richtige Richtung:
„Die EU darf nicht vergessen, mit wem sie verhandelt. Deshalb ist es beruhigend, dass so viele wichtige EU-Staatschefs die Übernahme der größten Oppositionszeitung Zaman durch das türkische Regime verurteilt haben. Dennoch weisen die Verhandlungen in die richtige Richtung. ... Man kann über die Details diskutieren, aber die Tendenz ist begrüßenswert. Es muss Schluss sein mit dem illegalen und chaotischen Flüchtlingsschmuggel in die EU. Das führt zu einem Massentod im Mittelmeer und dient den Verbrechersyndikaten. Außerdem steht die schiere Existenz der EU auf dem Spiel. Keinem - am allerwenigsten den Armen dieser Welt - ist mit einer zerfallenden EU geholfen, die immer schwächer und gespaltener und damit zu einer Heimstatt für massiven Nationalismus wird.“
Viségrad-Gruppe setzt ihre Agenda durch
Europa rückt in der Flüchtlingskrise immer weiter nach rechts, bedauert die linksliberale Onlinezeitung Mediapart:
„Das Scheitern der europäischen Regierenden ist vor allem deshalb so eklatant, weil es in völligem Kontrast zum Engagement der Bürger Europas steht, die den Flüchtlingen seit letztem Sommer Hilfe, Menschlichkeit und Schutz entgegenbringen. … Statt diesem Elan der Solidarität zu folgen, haben sich die meisten Regierenden für Abschottung entschieden. Gleichzeitig gewinnt die egoistische und rückschrittliche Haltung der Visegrád-Gruppe, die in Brüssel bislang in der Minderheit war, immer weiter an Boden. ... Mitteleuropa scheint nun seine Agenda durchzusetzen. Dies geschieht auf die immer gleiche Weise: Zeigt sich eine Regierungspartei flüchtlingsfeindlich, wird sie bei den nächsten Wahlen rechts überholt. Das ist im Oktober in Polen passiert, wo die ultrakonservative Rechte an die Macht zurückgekehrt ist und am letzten Wochenende in der Slowakei, mit dem Einzug der extremen Rechten ins Parlament.“
Absprachen im europäischen Interesse
Absprachen mit der Türkei sind trotz des jüngsten Vorgehens gegen kritische Medien wichtig, meint die konservative Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Die Türkei ist ja nicht deshalb ein 'Schlüsselland', weil sie in Sachen Menschenrechte eine makellose Bilanz hätte, sondern ganz einfach wegen ihrer geographischen Lage (und der geopolitischen Bedeutung). ... Das kann nicht bedeuten, dass man sich von der türkischen Führung erpressen lässt, dass man alles unter den Teppich der Realpolitik kehrt. ... Ganz klein sind die Hebel der EU nicht. Die EU-Mitgliedschaft wiederum liegt in den Sternen - und in den Händen des Präsidenten Erdoğan, der sich systematisch vom Wertefundament der EU entfernt. Darüber sieht niemand hinweg. Doch der Vorwurf, flüchtlingspolitische Absprachen mit Erdoğan seien ein Verrat an den eigenen Werten, geht an der Wirklichkeit und der europäischen Interessenlage vorbei.“
EU hat keine andere Wahl
Die EU konnte auf dem Gipfel ihr Gesicht wahren, ist die liberale Tageszeitung La Stampa erleichtert:
„Im Namen der Solidarität haben die Führungskräfte trotz widriger Umstände Zusammenhalt bewiesen. Es handelt sich nicht um Solidarität mit Migranten und Flüchtlingen, sondern um Solidarität zwischen den Ankunfts-, Transit- und Zielländern, zwischen Griechenland und der Türkei, zwischen Mazedonien und Griechenland. ... Zudem hat Brüssel gestern einen politischen Preis bezahlt, denn es hat den [türkischen Premier] Ahmet Davutoğlu nach der Schließung einer der größten türkischen Tageszeitungen mit offenen Armen empfangen. Vergessen die Menschenrechte, die seit Jahren die Beziehungen zwischen der EU und Ankara lähmen. Realpolitik, aber nicht nur. Jordanien und der Libanon, mit fast einem Flüchtling pro Einwohner, lächeln bitter über die europäische Haltungslosigkeit. Doch bei uns ist die Flüchtlingswelle zur Nervenkrise geworden und die EU musste Abhilfe schaffen.“
Europa frisst Diktator Erdoğan aus der Hand
Die EU lässt sich von Erdoğan am Gängelband führen, schimpft die liberale Tageszeitung De Standaard:
„Europa ist machtlos und gespalten und so zum Spielball des autokratischen Regimes in der Türkei geworden. Ein politischer Block von 28 Ländern mit insgesamt einer halben Milliarde Einwohnern, der größte ökonomische Spieler der Welt, frisst beschämend aus der Hand von Diktator Recep Tayyip Erdoğan. ... Kann dieses geteilte Europa noch eine Grenze ziehen? Oder folgt es nur den Ereignissen? Wie lange noch lassen sich seine Führer beleidigen und lächerlich machen? Dass die türkische Regierung es wagte, zwei Tage vor einem wichtigen Gipfel mit europäischen Führern die größte Oppositionszeitung zu übernehmen, schlägt alles. ... Wenn die Türkei Europa nicht aus der Bredouille rettet, fällt es auseinander. Das ist die kühle Berechnung.“
Flüchtlingskrise anständig meistern
Dass die EU einen Handel mit der türkischen Regierung eingeht, die hart gegen Kritiker vorgeht, empört die liberale Tageszeitung Dagens Nyheter:
„Frankreichs Außenminister hat die Zustände rund um die Zeitung Zaman inakzeptabel genannt, aber andere drückten sich anders aus und Deutschland blieb ganz verhalten. Harte Worte könnten [Präsident] Erdoğans Willen zur Zusammenarbeit schaden. ... Die EU muss die Flüchtlingskrise meistern, aber auf anständige Art und Weise. Die europäische Zusammenarbeit setzt Solidarität voraus. Und die sollte auch auf einer kompromisslosen Verteidigung der Meinungsfreiheit beruhen.“
Türkei nutzt Schwäche der EU geschickt aus
Ankara hat eine geschickte Offensive in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der EU gestartet, betont die liberale Tageszeitung Jutarnji list:
„Das Verhältnis zwischen der Union und der Türkei ist seit Jahrzehnten nicht gerade von Ehrlichkeit geprägt. Daran ist vor allem die EU schuld, die einerseits vorgibt, mit der Türkei über den EU-Beitritt zu verhandeln, andererseits aber führende EU-Politiker immer wieder betonen, dass die Türkei niemals Teil der EU wird. ... Jetzt ist ganz offensichtlich die Türkei am Zug und nutzt die Flüchtlingssituation geschickt zu ihren Gunsten. Dass es mit der Türkei wie auf dem Bazar zugeht ist einigen EU-Führern in der letzten Nacht klar geworden, ebenso wie schwach ihre Verhandlungsposition ist! Für eine Antwort der EU braucht es die Einigkeit aller 28 Staats- und Regierungschefs, was nahezu unmöglich scheint, wenn es um Flüchtlingskrise, Geld, Visa-Befreiung für die Türkei, oder um die Eröffnung neuer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen geht.“
Schließung der Balkanroute wäre wichtiges Signal
Dass die Balkanroute nicht für geschlossen erklärt wurde, ist nach Ansicht der konservativen Tageszeitung The Times äußerst bedauerlich:
„Die Feststellung, dass die Route über den Westbalkan geschlossen ist, schickt ein entscheidendes und abschreckendes Signal an mögliche künftige Migranten. Sie entspricht außerdem den Tatsachen. ... Wenn es sich jene in den türkischen Lagern zweimal überlegen, ob sie die Reise antreten, ist das Ziel schon erreicht. Ihnen gegenüber anzudeuten, dass entweder die Ägäis oder die Teile der Route über den Balkan offen bleiben, ist eine unmenschliche Irreführung. ... Europa hat beinahe ein ganzes Jahr gebraucht, um kollektiv zu begreifen, dass ein uneingeschränktes Willkommen-Heißen von Migranten die schlechteste Antwort auf die syrische Flüchtlingskrise ist. Als Angela Merkel einem menschenfreundlichen Impuls nachgab und ihre Grenzen öffnete, verschärfte sich die Krise.“
Niemand will Griechenland helfen
Vom EU-Gipfel soll das Signal ausgehen, dass keine Flüchtlinge mehr über die Balkanroute nach Mitteleuropa gelangen, konstatiert die liberal-konservative Tageszeitung Corriere della Sera und benennt das prominenteste Opfer dieser Politik:
„Die Balkanroute ist jetzt geschlossen, besagt der vorbereitete Entwurf der Abschlusserklärung. ... Der Gipfel wird auch daran erinnern, dass die Nato in der Ägäis weiter gegen Schleuser vorgehen wird. Zweifelsohne wird er nicht versäumen, hinzuzufügen, dass man Griechenland beistehen und alles tun werde, um dem Land zu helfen. Doch sprechen die Fakten eine andere Sprache. Der Regierung von Athen ist es bisher nicht gelungen, sich mit den Gläubigern der EU und des IWF über die geforderten drastischen Rentenkürzungen zu einigen, im Juli droht dem Land daher erneut die Staatspleite. ... In der Zwischenzeit könnte das Land von der Flüchtlingswelle überflutet werden. Der Plan, Griechenland auszuschließen, wurde offenbar noch nicht aufgegeben.“
Ankara mit Zugeständnissen locken
Die EU hat keine andere Wahl, als der Türkei entgegenzukommen, wenn sie der Flüchtlingskrise Herr werden will, meint die linksliberale Tageszeitung Népszabadság:
„Auf dem Gipfel am Montag muss die EU der Türkei ernsthafte Zugeständnisse machen. Zunächst einmal muss sie die Absicht kundtun, Ankara finanziell noch weit mehr unter die Arme zu greifen, als sie es bisher getan hat, will sie erreichen, dass die Flüchtlinge nicht weiter in Richtung Westen wandern. Der krisengeschüttelte Erdoğan hat Erfolge dringend nötig. Bekäme er also mehr Unterstützung, würde dies seine Bereitschaft zur Kooperation erhöhen. Deshalb sollten denn auch neue Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet werden. ... Ein weiteres wichtiges Signal in Richtung Ankara wäre die Streichung der Visumspflicht für türkische Staatsbürger bei der Einreise in den EU-Raum.“
Türkei muss Rechtsstaatlichkeit achten
Die EU darf Ankara bei ihrem gemeinsamen Gipfel zur Flüchtlingsfrage nach der Stürmung der Zeitung Zaman keine Zugeständnisse machen, fordert das wirtschaftsliberale Handelsblatt:
„Beides, das Flüchtlingsthema und die Rechtsstaatlichkeit, hängen zusammen. Davutoğlu selbst hat diesen Zusammenhang hergestellt, als er im Vorfeld des Gipfels forderte, man dürfe am Montag in Brüssel nicht nur über Flüchtlinge reden, sondern müsse auch über die EU-Perspektive seines Landes sprechen. ... Was Davutoğlu und Erdoğan nicht zu verstehen scheinen: Eine weitere Annäherung an die EU kann es nur geben, wenn Ankara die 1993 von der EU beschlossenen Kopenhagener Kriterien für Beitrittskandidaten achtet und umsetzt. Dazu gehören die Meinungsfreiheit und die Gewaltenteilung. Bei diesen Themen kann es für Ankara keinen Rabatt geben, und sei der Druck in der Flüchtlingskrise noch so groß.“
Zumindest kleine Fortschritte wird es geben
Eine „typisch europäische Lösung“ erwartet der linksliberale Standard von dem Gipfel, nämlich keinen großen Wurf, sondern eine mühsame Annäherung an eine Lösung in kleinen Schritten:
„Die Rundreise von EU-Ratspräsident Donald Tusk von Wien über den Balkan und Athen bis nach Ankara gab erste Hinweise darauf, was kommt: Sperren auf der Balkanroute sollen weg, dafür wird die Ägäis zum Hindernis. Wirtschaftsmigranten werden in die Türkei abgeschoben, Flüchtlinge sollen mit viel EU-Geld in Griechenland gehalten werden, um nach und nach in andere EU-Staaten gebracht zu werden. Der Sondergipfel könnte den Einstieg in ein solches Maßnahmenbündel bringen, indem zumindest eine Gruppe von Staaten erklärt, mit der Umsiedelung von Flüchtlingen 'klein' zu beginnen. Die das nicht wollen, könnten sich in einem EU-Fonds 'freikaufen'. Der Nachteil eines solchen Pakets zur Reduzierung des Migrantenzustroms: Eine echte europäische Flüchtlingspolitik ersetzt das nicht.“
Europa dreht sich im Kreis
Die niederländische Regierung hat vor dem Flüchtlingsgipfel den Plan lanciert, über eine Luftbrücke täglich 400 Flüchtlinge aus der Türkei in die EU zu schaffen. Der Vorschlag ist eine Überlegung wert - aber noch nicht die Lösung, betont die linksliberale Tageszeitung De Volkskrant:
„Dass schon wieder ein neuer Plan vorliegt, zeigt, wie schnell es bergab geht mit Europa, sobald das Prinzip 'Jeder für sich' gilt. ... Die europäischen Führer erwecken den Eindruck, dass ihnen [der Zaun in Mazedonien] gar nicht so ungelegen kommt: Wer nicht nach Mazedonien kommt, erreicht schließlich auch Westeuropa nicht. Im Prinzip tun die Mazedonier genau das, was ein großer Teil der europäischen öffentlichen Meinung will. Zugleich wächst in den Hauptstädten die Einsicht, dass dies keine strukturelle Lösung sein kann – allein deshalb nicht, weil man Griechenland nicht im Stich lassen kann. Damit wendet sich Brüssel wieder dem Auftrag zu, der bereits seit Monaten vorliegt: Die Türkei zu einer echten Bewachung der Küste zu bringen.“
EU hat der Türkei zu wenig zu bieten
Für weder praktikabel noch human hält die regierungstreue Tageszeitung Star den anvisierten Flüchtlings-Deal zwischen der EU und der Türkei:
„Aus den Camps in der Türkei sollen Flüchtlinge ausgewählt und nach Europa gebracht werden. Wie bei einem modernen Sklavenmarkt werden das diejenigen sein, die brauchbar erscheinen, wahrscheinlich Männer in Gruppen von wenigen Personen. Wobei man natürlich daran erinnern muss, dass nicht alle europäischen Ländern diesen Vorschlag gutheißen. Diese Hilfe wäre bloß ein Tropfen auf den heißen Stein und ebenso ist zweifelhaft, ob sie überhaupt verwirklicht wird. ... Wenn der Türkei extra Lasten aufgebürdet werden, muss sie konkret sehen können, was sie im Gegenzug dafür bekommt. Solange die Hilfe der EU nur ein Versprechen bleibt, wird das dazu führen, dass sich die Türkei und die EU nicht weiter annähern, sondern voneinander entfernen.“
Der Grexit war die viel harmlosere Bedrohung
In der Griechenlandkrise hat die EU viel tatkräftiger und entschlossener gehandelt als in der Flüchtlingskrise, bemerkt der Politologe Saulius Spurga in der Zeitung Lietuvos žinios und kann dies absolut nicht nachvollziehen:
„Die EU ist doch eine reiche Region, die größte Volkswirtschaft der Welt. Sie müsste alle nur erdenklichen Ressourcen nutzen, um die Lage zu stabilisieren und sich selbst zu schützen. Nachdem Griechenland 2010 in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist, wurden dem Land Schulden im Wert von Hunderten Milliarden Euro erlassen und neue Kredite in Höhe von mehr als 300 Milliarden Euro vergeben. Dabei war die schlimmste Bedrohung damals nur der mögliche Bankrott Griechenlands und sein Rückzug aus der Eurozone. Selbst wenn das schlimmste Szenario in Erfüllung gegangen wäre, hätten wir diese Krise heute schon vergessen. Die Flüchtlingskrise bereitet viel mehr Sorgen und stellt eine ungleich größere Bedrohung dar. Doch aus irgendwelchen Gründen wird ihr nicht ein Bruchteil der Aufmerksamkeit geschenkt, wie einst dem von der Finanzkrise geplagten Griechenland.“
Europas Schande wird immer größer
Äußerst pessimistisch blickt die liberale Tageszeitung Sydsvenskan auf den Gipfel:
„Von dem EU-Gipfel in Brüssel kommende Woche, mit Vertretern aller EU-Länder und der Türkei, erhofft man sich eine Einigung. Die Türkei soll mit einem Neubeginn der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft gelockt werden. Deutschland und die Niederlande versuchen die Mitgliedsländer auch zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei zu bewegen. Leider besteht wenig Hoffnung, dass sich die EU-Spitzen auf dem Gipfel für eine nachhaltige Krisenbewältigung entscheiden werden. Solange sich die Mitgliedsländer nicht auf eine gleichmäßigere Verteilung der Asylsuchenden einigen können, sind weitere provisorische Lösungen mit Flüchtlingslagern und geschlossenen Grenzen angesagt. Nicht nur der Flüchtlingsstrom wird immer größer, sondern auch die Schande für Europa.“
Heuchelei gegenüber Ankara
Kritik an Ankara vor dem EU-Türkei-Gipfel ist unangebracht, findet die liberale Tageszeitung Sme:
„Mit dem Finger auf die Türkei zu zeigen, die noch immer nicht genug gegen die Menschenschmuggler tue, ist heuchlerisch in einer Situation, da sich zehn Staaten weigern, sich an den von Angela Merkel versprochenen drei Milliarden Euro für Ankara zu beteiligen. ... Merkel trägt Atlas gleich Schengen auf ihren Schultern. Sie schließt die Grenze nicht, obwohl Seehofer von München aus mit dem Verfassungsgericht und dem Bruch der Koalition droht, und appelliert vor dem Gipfel verzweifelt an alle Mitgliedsstaaten, ihrer Verantwortung zur Rettung Schengens nachzukommen. Es ist sehr spät. Aber vielleicht stirbt die Hoffnung doch zuletzt.“
Flüchtlingskrise ist auch eine Chance
Auf die Chancen, die die Flüchtlingskrise für die EU bietet, weist der US-amerikanische Politikjournalist Christian Caryl im Onlinemagazin Slate hin:
„Brüssel hat nun die Gelegenheit, die Probleme anzupacken. Die Herausforderung, die die Flüchtlinge darstellen, könnte der EU einen positiven Schwung verleihen und sie antreiben, endlich lange vernachlässigte Aufgaben zu erledigen: eine Verstärkung der Kontrollen an ihren Außengrenzen, eine Vertiefung der politischen Integration und eine ernsthafte Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Werden diese Aufgaben - in den Augen der Wähler - angemessen erledigt, könnte dies der europäischen Idee neues Leben einhauchen und sogar das Wachstum ankurbeln. Außerdem könnten Flüchtlinge und Zuwanderer dazu beitragen, die Alterung der europäischen Gesellschaften und den Rückgang des Unternehmertums zu kompensieren.“
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