In or out? Europa hält den Atem an
46,5 Millionen registrierte britische Wähler entscheiden heute darüber, ob ihr Land in der EU bleibt oder austritt. Die Wahllokale schließen um 22 Uhr Ortszeit, mit dem Ergebnis wird erst Freitagmorgen gerechnet. Brexit oder Bremain - während einige Kommentatoren diese Frage spürbar nervös macht, mahnen andere zu Gelassenheit.
Clowns von gestern machen Politik von heute
Für den Tagesspiegel ist das Referendum ein Beweis dafür, dass die Populisten in der echten Politik angekommen sind:
„Es ist jetzt kein Spaß mehr und auch kein Protest. Jetzt hat es Folgen. In Europa und den USA sind die Populisten auf dem Vormarsch. Sie alle eint, dass sie dereinst als Polit-Clowns und Krawallmacher belächelt wurden, dann verteufelt und nun in einer Position sind, in der sie ernst genommen werden müssen. ... Am deutlichsten wird das an [Ukip-Chef] Farage. Ohne ihn gäbe es das Brexit-Referendum wohl nicht. ... Wir hier unten gegen die da oben - mit dieser Formel begeistern Populisten Menschen überall. Doch seit Kriegsende waren die Konsequenzen nie so greifbar und potenziell fatal wie bei der heutigen Abstimmung im Vereinigten Königreich. Wie real das Risiko ist, scheint den Wählern klar zu werden. Nachdem die Brexit-Befürworter in Umfragen lange vorne lagen, führte nun zwischenzeitlich das Remain-Lager.“
Brexit-Lager verführt die Machtlosen
Die Wortführer des Brexit-Lagers ködern britische Globalisierungsverlierer mit falschen Versprechungen, kritisiert The Irish Times:
„Der Brexit verortet den Schmerz dieser Menschen: bei den Zuwanderern und den Brüsseler Bürokraten. Er setzt ihrem Gefühl der Machtlosigkeit die Möglichkeit entgegen, zu einem bestimmten Zeitpunkt echte Macht auszuüben. Der Brexit wäre schließlich ein wirklich großer Schritt. Und doch wäre er eine Selbstverletzung. Die zynischen Anführer des Pro-Brexit-Lagers sehnen sich nach einer Freiheit, die es ihnen ermöglicht, Umwelt- und Sozialstandards sowie Arbeitnehmerrechte abzubauen, die sie als 'Bürokratie' bezeichnen. Sie wollen die letzten Schranken für jene Kräfte des Marktes beseitigen, die den Schmerz erst verursacht haben. Sie bieten leidenden und ausgeschlossenen Teilen der Gesellschaft das zackige Rasiermesser eines wirren englischen Nationalismus' und sagen: 'Kommt schon, schneidet Euch ins eigene Fleisch, es fühlt sich gut an!'“
Den Lügen der EU-Fans keinen Glauben schenken
Brexit-Gegner warnen vor den wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts, was die Daily Mail wiederum als leeres Geschwätz abtut:
„Die Wahrheit ist, dass niemand weiß - außer scheinbar einer plutokratischen Elite -, was passieren wird, wenn wir uns für den Brexit entscheiden. Doch wir wissen, dass wir als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt in der Lage sein sollten, mit Ländern Abkommen zu schließen, die unseren wohlhabenden Konsumenten ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen wollen. Wir wissen, dass die Deutschen immer noch heiß darauf sein werden, uns ihre Autos zu verkaufen. Die Spanier werden unsere finanzstarken Urlauber nach wie vor willkommen heißen. Und die Welt wird weiterhin die einmaligen Fähigkeiten der Londoner City beanspruchen wollen. Sollte das Pfund fallen, wäre das gut für die Exporte.“
Status quo ist immer noch der beste
Tschechische Brexit-Befürworter und Euroskeptiker hoffen auf einen Zerfall der ganzen EU, Lidové noviny warnt aber davor:
„Der Zerfall der EU würde einen noch größeren Durchsetzungswillen vor allem der mächtigen Nationalstaaten nach sich ziehen. Unser Land und weitere zwischen dem großen Deutschland und dem großen Russland würden die Chance verlieren, ad-hoc-Koalitionen zu bilden, mal mit den Briten, mal mit den Franzosen, mal den Deutschen oder mal den Skandinaviern. Wir würden unter die Hegemonie der Großen fallen. Klar, lieber dann das demokratische Deutschland als das autokratische Russland. Aber noch besser ist der derzeitige Zustand, wo wir eine Wahl haben. Der status quo ist die am wenigsten schlechte von allen schlechten Lösungen.“
Verwöhnte Demokratien vor der Selbstzerstörung
Europas Gesellschaften sind drauf und dran, sich selbst zugrunde zu richten, ist ABC überzeugt:
„Der Abgrund, an dem die britische Gesellschaft heute steht, symbolisiert die selbstzerstörerischen Tendenzen westlicher, verwöhnter Demokratien. Sie scheinen vergessen zu haben, wie viel es gekostet hat, einen Wohlfahrtsstaat und stabile Institutionen aufzubauen. Der Aufschwung von Podemos in Spanien, Le Pen in Frankreich und die rassistischen Bewegungen in Mittel- und Nordeuropa sind das Symptom gefährlicher Tendenzen innerhalb der europäischen Gesellschaften: Sie leiten begründete, von den politischen Institutionen und ihren Führern kaum aufgefangene Ängste und Zukunftssorgen der Bürger in irrationale Kanäle. Das Klischee, dass das System nicht funktioniert, dient Opportunisten als Argument dafür, die ewig gleichen, alten Parolen zu wiederholen.“
Den Puls wieder runterfahren
Dass alles den Bach hinunter geht, glaubt De Standaard nicht:
„Die Briten beschwören nicht ihren eigenen Untergang herauf. Genauso wenig wird einen Tag nach dem Brexit die europäische Kultur in einem schwarzen Loch verschwinden. ... Und der Kanal wird auch nicht breiter oder schmaler werden. Fest steht, dass miteinander geredet werden muss, wie groß der Ärger über die aufmüpfigen Inselbewohner auch sein mag. Wir können uns Europa nicht aussuchen. Es ist, was es ist. Mit seiner Geschichte, seinen Unterschieden und seinem Unverständnis. Aber wir dürfen Europa nicht aufgeben. Was auch immer heute Nacht das Ergebnis sein wird, eine Auflösung der Union ist keine Antwort. Auf der Suche nach 'Einheit in Vielfalt' ist sehr stark das Erste betont worden. Aber um vereint zu werden, müssen wir zunächst mit dem Zweiten ins Reine kommen.“
Wer soll künftig britische Klos putzen?
Dass in der Wahlkampagne für den Brexit oft Stimmung gegen EU-Migranten gemacht wurde, erzürnt die Wirtschaftszeitung Ziarul Financiar:
„Brexit-Anhänger meinten, dass Migranten Großbritannien und ihre königliche Sippe verpesteten, dass sie nur Probleme schaffen und Diebe sind, von denen die besten auch noch die gutbezahlten Jobs wegnehmen, weil sie mehr für weniger Geld arbeiten. ... Die Hälfte der Briten will die Migranten rauswerfen. Aber wer wird dann ihre Klos putzen und ihre Eltern pflegen, die sie in Altersheime geschickt haben, weil sie zuhause stören; wer wird ihnen die Bettpfanne im Krankenhaus bringen, das Licht reparieren oder im Erbseneintopf rühren, wenn die Fremden weg sind? ... Ohne Ausländer könnte Großbritannien nicht überleben, denn die Briten haben niedere Arbeiten verlernt. Es wäre keiner mehr da, der für sie arbeitet und ihnen die Renten bezahlt.“
Benehmt Euch nicht wie bockige Kinder!
Um die Briten vom Verbleib in der EU zu überzeugen, appelliert der Chefredakteur des Boulevardblatts Fakt, Robert Feluś, an deren Ehre:
„Euer Stolz als Insulaner besteht doch auch darin, dass Ihr zur Gemeinschaft der europäischen Völker gehört. Dabei ist für Euch besonders wichtig, dass ihr ein starkes Gegengewicht zu Deutschland bildet, das derzeit den Kontinent dominiert. Wollt Ihr das wirklich aufgeben? Wenn ihr Euch beim Referendum gegen die EU aussprecht, dann benehmt Ihr Euch wie ein beleidigtes und ungezogenes Kind, das sagt: 'Eurer Buddelkasten gefällt mir nicht, ich packe mein Spielzeug und hau ab'.“
Großbritannien als lästige große Schwester
In ein echtes Dilemma würde ein Brexit die Schweiz katapultieren, glaubt die Zeitung Le Temps:
„Vom Erfolg der Isländer, Norweger und Schweizer verführt, träumen immer mehr Europäer von einem Leben außerhalb der EU. Es ist nicht sicher, ob die Briten beim Referendum diesen Sprung wagen. Sollten sie es tun, wird das die Architektur des Kontinents grundlegend verändern - und damit auch die Stellung der Schweiz. Seit 1992 hat sich die Schweiz daran gewöhnt, zusammen mit den Nachbarn aus dem Norden und einigen anderen in einer Vorhölle am Rande der EU zu leben. ... Doch im Falle eines Brexit hätte sie dort ab morgen eine lästige, große Schwester zur Seite, der gegenüber sie sich schnell positionieren müsste. ... Die Schweiz wäre zu einem Kräftemessen gezwungen, mit dem sie überfordert wäre. Was erklärt, warum der Bundesrat fast genauso leidenschaftlich für den Verbleib Großbritanniens ist wie die EU selbst.“
Cameron könnte zum Retter der EU werden
Sollten die Briten am Ende für den Bremain stimmen, würde den Euroskeptikern in anderen Ländern ein echter Dämpfer verpasst werden, meint schließlich Helsingin Sanomat:
„Camerons Spiel ist in gewisser Weise ulkig, denn obwohl er sich auf jeden Fall beschmutzen wird, kann er doch die EU retten. Falls die Befürworter der EU-Mitgliedschaft gewinnen, ist dies ein Rückschlag für die EU-kritischen Kräfte in anderen Mitgliedsländern, die ebenfalls einen Austritt wollen. Wenn der Austritt schon für Großbritannien unmöglich ist, gelingt er auch keinem anderen Land.“
Brexit wäre ein heilsamer Schock
Europa steckt in einer fundamentalen Krise, beklagt der Journalist José Vítor Malheiros von der Zeitung Público - und wünscht sich genau deshalb den Sieg des Brexit-Lagers:
„Ich hoffe inbrünstig, dass am Donnerstag der 'Brexit' gewinnt. Nicht, weil ich der Meinung bin, dass es Großbritannien außerhalb der EU besser gehen würde. Oder der EU ohne Großbritannien. Sondern weil ich hoffe, dass der britische Austritt der Schock ist, der endlich eine politische Umwälzung und einen Akt der Selbstreflexion herbeiführt - und der EU den demokratischen Stoß gibt, den sie so bitter benötigt. Ohne den 'Brexit' wird es nicht möglich sein, dass sich die EU reformiert und sich in einem anderen Format (und ganz im Zeichen des Anstands) wieder aufbaut. ... Der Punkt ist, dass die EU nicht mehr das 'Europa der Werte' ist, welches wir uns erträumt hatten. Die EU hat Europa gefangen genommen und in ein Bordell verwandelt. Der Traum wurde zu einem Alptraum.“
Der Kontinent könnte sich neu erfinden
Durch das Brexit-Referendum wird Europa endlich diskutieren, wo es hin will, ist Cumhuriyet überzeugt:
„Das Selbstverständnis der Inselbevölkerung ist begründet in der europäischen Invasion 1066, dem Krieg gegen Hitler-Deutschland, dem Imperium über sieben Weltmeere und dem Erbe der Händler. Und in der Vorstellung, dass das Land die Wiege der Demokratie ist und autonome Entscheidungen treffen kann. … Doch das eigentliche Problem liegt in Europa. Die Probleme, die die Finanzkrise 2008 verursacht hat, haben die EU an einen Scheideweg gebracht. ... In den Niederlanden, Frankreich, Dänemark und Österreich erstarken die Europa-Skeptiker. ... Ob der Brexit kommt oder nicht, der Vorstoß wird in anderen Ländern Widerhall finden. Eine Diskussion um ein neues Europa mit den Hauptthemen nationale Identität, Migranten und alternative Globalisierung steht vor der Tür.“
Nur besseres Europa kann Austritte verhindern
Will die EU verhindern, dass weitere Staaten Austrittsgelüste entwickeln, muss sie ihren Bürgern dringend etwas bieten, mahnt La Stampa:
„Wie auch immer das Referendum ausgeht, für Europa ist die Frist abgelaufen. Bevor das nächste Land den Austritt aus der Union anstrebt oder euroskeptische Bewegungen noch stärker werden, müssen die Politiker konkrete Signale an die Bürger senden: Europa kann bessere wirtschaftliche Bedingungen ermöglichen und helfen, Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb wäre es schön, übermorgen Staats- und Regierungschefs in Brüssel Entscheidungen fällen zu sehen, die von der Vereinfachung der Bürokratie über Eurobonds für Flüchtlinge bis zur Aufstockung des Haushaltsbudgets der EU reichen würden.“
Auch Polen könnte austreten
Ein Austrittskandidat könnte beispielsweise Polen werden, befürchtet der Generalsekretär der liberalen Partei Nowoczesna, Adam Szłapka, auf seinem Blog beim Portal naTemat.
„Ich bitte die Polen in London eindringlich, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Denn der Brexit würde die weitere Integration grundsätzlich in Frage stellen. Und diese Integration hat Europa einen 70 Jahre währenden Frieden und Polen eine schnelle Modernisierung und ein rasches Wachstum gebracht. … Der Brexit würde die nationalistische Rhetorik der PiS noch einmal stärken. Polen gilt derzeit bei vielen ausländischen Partnern als ein antieuropäisches Land, das die Werte nicht anerkennt, auf denen die Gemeinschaft aufgebaut ist. Und man mutmaßt schon jetzt, dass nach einem Brexit ein Polexit folgen könnte. Diese Befürchtungen sind nicht unberechtigt, weswegen wir den Gegnern des Austritts von Großbritannien die Daumen drücken.“
Es geht um Freiheit oder Knechtschaft
Europas Nationen könnten sich als eigenständige Staaten viel besser gegen innere und äußere Feinde verteidigen, plädiert Kolumnistin Melanie Phillips in The Times für den Brexit:
„Das grundlegende Ziel des europäischen Projekts bestand darin, den deutschen Militarismus in Schach zu halten. Doch die Zeiten haben sich geändert, und Deutschland ist nun eine Demokratie. Außerdem ist es die EU selbst, die den Aufstieg neofaschistischer Parteien begünstigt. Diese ziehen Nutzen daraus, dass die EU nationale Interessen mit Füßen tritt. Europas freie Gesellschaften werden nur dann imstande sein, sich gegen ihre Feinde zu verteidigen - ganz gleich ob diese aus der islamischen Welt, aus Russland oder aus Fernost kommen -, wenn sie das als eigenständige Nationen tun, die im Verbund mit anderen Nationen für ihre eigene Zukunft kämpfen. ... Freiheit oder Knechtschaft? Vor dieser Wahl stehen wir am Donnerstag.“
Warum Briten Brexit bald bedauern könnten
Britische EU-Gegner klagen über die Freizügigkeit, die eine schrankenlose Einwanderung aus anderen EU-Staaten möglich gemacht hat. Genau diese Freiheit könnten sie nach einem Brexit selbst schmerzlich vermissen, meint The Irish Times:
„Die Netto-Zuwanderung nach Großbritannien in den vergangenen Jahren zeugt vom wirtschaftlichen Erfolg des Landes, insbesondere mit Blick auf das Erreichen der Vollbeschäftigung. ... Netto-Zuwanderung kann sich leicht in Netto-Auswanderung umkehren, wenn die Wirtschaft ins Stocken gerät. Sollten die Briten für den Brexit stimmen, könnte ihre Wirtschaft in eine Rezession stürzen – so wie es auch beinahe alle sachkundigen Kommentare voraussagen. Das würde das Zuwanderungsproblem 'lösen'. Doch anschließend würde es der Ironie nicht entbehren, dass die britischen Arbeitskräfte wegen des Brexit nicht ungehindert in die EU, der auch Irland angehört, auswandern könnten, um dort Arbeit zu finden.“
Nexit-Debatte würde den Niederlanden schaden
Nach einem Brexit würde den Niederlanden ebenfalls eine Austrittsdebatte drohen, warnt Kolumnist Peter de Waard in De Volkskrant:
„Die wirtschaftlichen Folgen eines Brexit können beträchtlich sein - aber nicht, weil der Export sinkt, sondern weil die Niederlande dann in einer uferlosen Nexit-Debatte versinken würde. Die niederländischen 'homeguards' werden die TV-Talkshows mit ihrem Plädoyer für ein niederländisches Referendum beherrschen. … Dafür gibt es im heutigen Parlament zwar keine Mehrheit, aber angesichts der bevorstehenden Wahlen [im März 2017] werden sie die Parteien unter großen Druck setzen. Die Stimme des Populismus ist mächtig. ... Ein viel größeres wirtschaftliches Risiko als ein Brexit sind die indirekten Folgen einer politischen Unruhe in Den Haag. Wenn sich die Briten für einen Austritt entscheiden, wird sich der Exit-Virus auf die Niederlande ausbreiten. Wilders und Co. werden dies als Erfolg im Kampf gegen die Brüsseler Bürokratie feiern.“
Bremain würde die EU nicht retten
Selbst wenn die Briten am 23. Juni für "Remain" stimmen sollten, stünde die EU auf wackligen Füßen, glaubt Le Figaro:
„Es ist nicht überraschend, dass man in Europa den Aufstieg EU-feindlicher Gruppierungen beobachten kann: Es stagniert, es schafft keine Arbeitsplätze, es hetzt die Gemeinschaften gegeneinander auf, indem es eine Sparpolitik durchzieht, die von den einen als zu drastisch und von den anderen als nicht ausreichend angesehen wird. Die Probleme, die Europhobe anprangern, mögen ja real sein, aber das macht aus ihren Vorschlägen (Ausstieg aus der EU, Rückkehr zur nationalen Währung, Ausweisung von Immigranten) noch lange keine richtigen Lösungen. Es ist genau diese Kopf-in-den-Sand-Politik des europäischen Establishments und seine Untätigkeit, die ihnen zu Glaubwürdigkeit verhilft. ... Selbst wenn die Anhänger eines Verbleibs gewinnen würden, wäre die Union noch immer von Gefahren an ihren Außengrenzen, wirtschaftlicher Stagnation und der Entfremdung eines Großteils ihrer Bürger bedroht.“
Renaissance der Nationalstaaten innerhalb der EU
Egal wie das Brexit-Referendum ausgeht, muss die EU ihre Überheblichkeit gegenüber den Nationalstaaten ablegen, meint Jyllands-Posten:
„Die EU muss die Balance zwischen Brüssel und den Mitgliedsländern wiederfinden. Dabei ist es nicht mit einem Wettbewerb getan, wer das glühendste Essay zur EU schreiben kann. Die EU-Zusammenarbeit ist grundlegend richtig und zu wertvoll, dass man nach dem Donnerstag weiterwursteln kann, unabhängig davon, wie das Referendum ausgeht. Brüssel und die Mitgliedsstaaten müssen versuchen, Lehren aus den vielen Fehlern der letzten Jahre zu ziehen und die EU-kritische Stimmung in eine positive Unterstützung für ein Europa umwandeln, das nie zuvor freier und friedlicher war. Ein guter Ausgangspunkt ist das Zugeständnis, dass der Nationalstaat eine Renaissance erlebt. Aber die EU kann ein ausgezeichneter Rahmen für eine absolut notwendige europäische Zusammenarbeit sein.“
Von der Weisheit der Briten profitieren
Europa müsste aus der Geschichte des britischen Empires lernen, findet die Welt am Sonntag:
„[Dessen] Zerfall hat die Briten noch klüger gemacht als sein Erwerb. Und es ist diese Weisheit, die wir in der Zukunft dringend brauchen. Dieses Volk lässt sich heute unter anderem von pakistanischstämmigen weiblichen Lords regieren und zeigt damit eine Integrationsfähigkeit für fremde Menschen und genauso die eigenen Eigentümlichkeiten, die es sonst nirgends in Europa gibt. ... Britannien hat das geschafft, weil es sich etwas klüger und sorgfältiger als andere zurückgezogen hat. Die Formel hieß nach 1945 'manageable decline', handhabbarer Niedergang. Der Begriff sollte beschreiben, wie man loslässt, ohne zu verlieren. Wie man noch gewinnen kann, obwohl man die Spielregeln nicht mehr bestimmt. Dann muss man trotzdem irgendwie für Fairness sorgen, wenn man nicht eingemacht werden will. Das ist die Formel, die ganz Europa lernen muss.“
Europa braucht Großbritannien
Ohne Großbritannien ist Europa nicht viel wert, erklärt Kristeligt Dagbladet:
„Eines der belastbaren Pro-EU-Argumente ist die Feststellung, dass die EU in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg ein Friedensprojekt ist. Und kann man sich ernsthaft heute ein Europa vorstellen, ohne die eine oder andere Art der Zusammenarbeit? Nein, natürlich nicht. ... Die Wahrheit, mit der wir mit Blick auf den 23. Juni konfrontiert werden, ist die, dass das Europa auf dem Kontinent die Briten ebenso stark braucht, wie die Briten uns. Die tiefe britische Skepsis gegenüber Zentralismus, sozialen Unionsträumen und dem Europrojekt ist unverzichtbar für das Ganze. Dabei ist nämlich das Ganze bei näherer Betrachtung nur das, worauf sich die Regierungschefs der einzelnen Länder geeinigt haben. In diesem Zusammenhang brauchen wir die Briten.“
Überall nur Angstmache
David Cameron warnt in seiner Kampagne vor den wirtschaftlichen Konsequenzen eines Brexit. Eine politisch ungeschickte Entscheidung, kritisiert Le Soir:
„Cameron und seine Anhänger haben nun ihr eigenes Angstargument entwickelt, und zwar das eines wirtschaftlichen Niedergangs. Finanzminister George Osborne hat noch eins drauf gesetzt, indem er eine sofortige Rezession im Fall eines Brexit angekündigt hat, die Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen erforderlich machen würde. Angesichts dieser Drohung, die einer Erpressung gleichkommt, hegen die Briten zurecht Zweifel: Wie kann man glauben, dass David Cameron seinen Mitbürgern ein Referendum versprechen konnte, wenn er auch nur einen Augenblick erwägt hätte, dass eines der beiden möglichen Resultate ein wirtschaftlicher Zusammenbruch wäre? Den armen Briten, die als so vernünftig angesehen werden, wird nur ein Argument für einen Verbleib in oder einen Austritt aus der Europäischen Union offeriert: Angst.“
Nach dem Brexit gibt es kein Zurück
Die Abstimmung am kommenden Donnerstag ist für die Briten ein Point of no Return, warnt der Ökonom Tomáš Sedláček in seiner Kolumne in Hospodářské noviny:
„Steigt Großbritannien aus der EU aus, dann wird das eine Entscheidung für immer sein. Natürlich ist dieser Ausstieg möglich. Wir leben schließlich in einer freien Welt. Aber einen neuerlichen Beitritt wird es danach nicht geben. Wir sind ja keine Narren. Die Tür zur EU wird geschlossen bleiben. Ja, Europa ist eine Prüfung. Wenn wir jetzt zerschlagen, was wir nach dem Krieg aufgebaut haben, bekommen wir das niemals wieder gekittet. Lösen wir dagegen die derzeitigen Probleme gemeinsam, bringt uns nichts mehr auseinander.“
Über Brexit wird auch auf dem Rasen entschieden
Die Ergebnisse der englischen Fußballnationalmannschaft bei der Fußball-EM könnten die Brexit-Debatte in den letzten Tagen vor dem Referendum stark beeinflussen, meint der New Statesman:
„Die EM ist ein Beispiel für eine aktive Beteiligung unsererseits an Europa, welche die Bürger mehr anregt als sie zu langweilen oder gar zu entfremden. Die EM könnte in den letzten Tagen vor dem Brexit-Referendum eine dringend benötigte Dosis Leidenschaft in den Wahlkampf injizieren. ... Eine Erschütterung des Nationalstolzes in einer Zeit, in der grundlegende Fragen zur Disposition stehen, könnte sich in ungewöhnlicher und unvorhersehbarer Weise auf unser Identitätsgefühl in der Welt und in Europa auswirken. Der legendäre Trainer des FC Liverpool und Sozialist Bill Shankly hat es einmal so formuliert: 'Einige Menschen glauben, im Fußball geht es um Leben und Tod. Ich kann Ihnen versichern, es geht um viel, viel mehr.'“
Der einzige Gewinner ist der Populismus
Die Debatte über den Austritt Großbritanniens aus der EU wurde von den Brexit-Befürwortern rein emotional geführt und ist zur reinen Populismus-Schlacht verkommen, kritisiert Göteborgs-Posten:
„Trotz der Schuldenkrise schafft der EU-Binnenmarkt nach wie vor den größten Zuwachs an Wohlstand, den Europa je erlebt hat. Dennoch kommen die Argumente der EU-Anhänger, dass Exportchancen und Wachstumsmöglichkeiten verloren gehen, nicht durch. Genau wie die Brexit-Kampagne, die auf Emotionen fußt, hätten die Bremain-Fürsprecher die Volksabstimmung zu einer Frage der Werte machen müssen. ... Egal wie die Abstimmung ausgeht, bleibt als Erbe die starke Polarisierung in Großbritannien zurück. Dass die Brexit-Debatte dem Populismus Tür und Tor geöffnet hat, muss als Warnung an die anderen EU-Länder verstanden werden. Die Briten können sich für einen Austritt entscheiden, aber die Probleme der regionalen Unterschiede, der himmelhohen Immobilienpreise und der düsteren Zukunftsaussichten für Geringqualifizierte bleiben.“
EU-Gegner nutzen Zugeständnisse für ihre Zwecke
Brüssels Zugeständnisse gegenüber London, mit denen die Briten vom Verbleib in der EU überzeugt werden sollten, könnten am Ende nach hinten losgehen, fürchtet La Vanguardia:
„Die Bemühungen aus Brüssel, Premier David Cameron gegenüber mehr Souveränität zuzugestehen und die Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu begrenzen, scheint nicht nur wirkungslos verpufft zu sein. Sondern sie werden sogar von Seiten der Brexit-Befürworter genutzt. Insbesondere nachdem der Europäische Gerichtshof am Dienstag Londons Recht anerkannte, die legale Meldebescheinigung als Voraussetzung für bestimmte Sozialleistungen gegenüber EU-Arbeitnehmern zu verlangen. 'Die Richter geben uns Recht', behaupten sie.“
EU hat Briten niemals Zügel angelegt
Die EU hat im Gegensatz zu dem, was Brexit-Anhänger gerne behaupten, Großbritannien nicht daran gehindert, sich äußerst erfolgreich und anders als andere EU-Staaten zu entwickeln, meint Kolumnist Daniel Finkelstein in The Times:
„Seit unserem EU-Beitritt 1973 ist unsere Wirtschaft schneller gewachsen als die deutsche, die französische und sogar die US-amerikanische. Seit Inkrafttreten des Binnenmarkts 1993 ist unsere Wirtschaft um 62 Prozent gewachsen, die deutsche nur um 35 Prozent. ... Man kann jetzt dazu leicht sagen, dass es dieses Wachstum trotz und nicht wegen der EU gegeben hätte. Wir hätten nur deshalb so gut abgeschnitten, weil wir ein anderes Wirtschaftsmodell als unsere Partner angenommen haben. Doch wir müssen erkennen, was dieses Argument impliziert, nämlich dass die EU uns unsere Gesetze und unser Wirtschaftsmodell nicht vorgibt. Wir waren in der Lage, uns anders zu entwickeln als unsere Nachbarn, anstatt uns an diese anzupassen.“
Wenn Rumänen kein Geld mehr nach Hause schicken
Schädliche Auswirkungen für die rumänische Wirtschaft fürchtet die Wochenzeitung Revista 22 im Falle eines Austritts Großbritanniens aus der EU:
„Ein Brexit könnte Druck auf jene Rumänen ausüben, die in Großbritannien arbeiten und die nach Schätzungen der BCR-Bank jährlich mehr als eine halbe Milliarde Euro nach Hause schicken. ... Derzeit leben rund 170.000 Rumänen in Großbritannien, rund 85 Prozent von ihnen haben einen Job. Im Falle eines Brexit kehren sie entweder nach Hause zurück oder suchen sich Arbeit in einem anderen europäischen Land. Doch wenn die im Ausland arbeitenden Rumänen kein Geld mehr nach Hause schicken, das in der Gesamtsumme rund 0,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht, könnte sich das problematisch auf das Leistungsbilanzdefizit auswirken und die einheimische Währung zusätzlich unter Druck setzen.“
Es droht die Alleinherrschaft rechter Tories
Sollten die Briten für einen EU-Austritt stimmen, würde der rechtskonservative, euroskeptische Flügel der Tories das Ruder in der Regierung übernehmen, warnt Kolumnist Jon Danzig in The Independent:
„Stellen Sie sich vor, unsere derzeitige Tory-Regierung verwandelt sich in eine andere, die nur aus rechten, euroskeptischen Tories besteht, weil sich der moderatere Flügel der EU-freundlichen Konservativen nach der Niederlage beim Brexit-Referendum aufgelöst hat. Diese neue konservative Regierung wäre nicht mehr den fortschrittlichen Regelungen und Schutzmechanismen der EU unterworfen. Betroffen wären etwa Arbeitnehmerrechte, die Freizügigkeit und der Umweltschutz. Wenn Sie sich zu jenen zählen, die gerne verkünden, dass sie 'ihr Land zurückhaben' wollen, sollten Sie darüber nachdenken, was für eine Art Land Sie zurückbekommen würden, wenn wir die EU verlassen, und wer in diesem Land wirklich das Sagen hätte. Würden Sie sich von dieser Regierung vertreten fühlen?“
Und wieder wird die Grenze an der Oder verlaufen
Der EU-Austritt Großbritanniens hätte eine erneute Ost-West-Spaltung Europas zur Folge, fürchtet Kolumnist Jan Hartman auf seinem Blog beim Nachrichtenmagazin Polityka:
„Der Brexit wird Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten dazu zwingen, eine kleine EU zu bilden. Dazu werden wir wohl nicht gehören. Denn Polen, Ungarn und größtenteils auch Tschechien und die Slowakei passen gefühlsmäßig nicht zu ihnen. Und zwar weder jetzt, noch in Zukunft. Der Westen wird für immer Westen bleiben, und wir stellen ewig nur den Osten dar. Der Traum von der westlichen Zivilisation und der politischen Kultur wird in Polen zerplatzen. Unter dem Vorwand, dass es Anschläge geben könnte oder dass man die Migrationsprobleme lösen müsse, werden wieder die Grenzen dichtgemacht - und zwar mit Sicherheit an der Oder.“
Ansporn für Autonomie-Bewegungen
Welche Konsequenzen ein Brexit haben könnte, skizziert der Journalist Ricardo Costa in der Wochenzeitung Expresso:
„Der Brexit würde nicht nur einen Austritt Englands bedeuten. Langfristig gesehen könnte er auch einen Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich nach sich ziehen und kurzfristig die Errichtung einer klassischen Grenze zwischen Nordirland und Irland. Allein angesichts dieser drei Szenarien sollten bereits alle Europäer eine Gänsehaut verspüren. Wenn man aber die Erschütterungen des Bebens auf dieser Seite des Ärmelkanals betrachtet, dann jagt einem das einen noch viel größeren Schauder über den Rücken. Würde ein unabhängiges Schottland innerhalb der EU akzeptiert werden, wäre das ein Ansporn für Katalonien und andere Regionen, die eine vollständige Autonomie anstreben, aber in der EU bleiben wollen.“
Bürgern jetzt eine EU-Beihilfe zahlen
Politiker müssen angesichts der Brexit-Debatte dringend klarstellen, dass die EU ihren Bürgern auch etwas bietet, findet Jurek Kuczkiewicz. Einen konkreten Vorschlag dafür liefert der EU-Redakteur von Le Soir unter anderem in der italienischen Zeitung La Repubblica:
„Die Europäer brauchen jetzt einfach ein Projekt, das ihnen einen direkten und spürbaren Nutzen bringt und zumindest dieses Gefühl der Unsicherheit wieder nimmt, das den ganzen Kontinent beherrscht. Ein traumhafter Ansatz wäre: der Sozialbereich. Man wagt dabei gar nicht erst von einem europäischen Arbeitslosengeld zu träumen. Aber warum kann man nicht eine zusätzliche europäische Beihilfe einführen (bei Arbeitslosigkeit, für Kinder, Ausbildung, Krankheit oder Rente?), die eine wirtschaftliche und soziale Funktion hätte und gleichzeitig den so erheblich ramponierten sozialen Pakt Europas wieder festigen würde? Falls sich die Briten also für den Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft entscheiden sollten, wären die führenden europäischen Politiker gut beraten, ein Incentive zu bieten.“
Frankreich muss den Weg in die Zukunft weisen
Besonders Frankreich muss in der Krise des europäischen Projekts die Initiative ergreifen, fordert der frühere Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing in Le Point:
„Seltsamer- und paradoxerweise versetzt das britische Referendum Frankreich zurück in seine - vergessene - Rolle als Gründerstaat. Egal, wie das Referendum ausgeht, es wird die beiden Projekte Binnenmarkt und europäische Integration endgültig voneinander trennen. Daher sind von nun an zwei unterschiedliche Ansätze notwendig. Frankreich, das seit der Erklärung von Robert Schuman vor nunmehr 66 Jahren das Projekt eines schrittweise immer stärker integrierten Europas vorantreibt - und es bereits bis zur gemeinsamen Währung geführt hat, muss allen, die um die Notwendigkeit eines starken Europas in einer neuen Welt wissen, den Weg weisen.“
Britische Demokratie so lebendig wie lange nicht
Das anstehende Referendum hat in Großbritannien wichtige Grundsatzdebatten angestoßen, freut sich Kolumnistin Mary Dejevsky in The Independent:
„Es handelt sich um ein wahrlich landesweites Referendum ohne unterschiedliche Kampagnen in den einzelnen Wahlkreisen. Die verschiedenen Ansichten über Europa sind in allen Parteien zu finden. Dies ermöglicht einen landesweiten Diskurs und sorgt für das Gefühl, dass nationale Politik stattfindet. Führende Regierungsmitglieder streiten öffentlich über die Zukunftsaussichten für die Metropole London und für Fabrikarbeiter. Sie debattieren über das gewünschte Ausmaß an Migration und die Bedeutung nationaler Eigenständigkeit im 21. Jahrhundert. All das macht uns zu Zeugen einer Auseinandersetzung mit den großen Fragen, die schon viel früher eine tiefgehende Debatte verdient hätten. ... So viel gelebte Demokratie hat es, soweit ich mich erinnern kann, seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.“
EU muss sich ihren Defiziten widmen
Die EU sollte das Brexit-Referendum zum Anlass nehmen, sich selbst zu reflektieren, fordert die Neue Zürcher Zeitung:
„Es mag ein frommer Wunsch sein. Doch auch die EU sollte die seltene direktdemokratische Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, sondern die Chance ergreifen, um sich stärker mit den eigenen, offenkundigen Defiziten auseinanderzusetzen. Sonst könnte ein Nachahmer-Effekt eintreten, bei dem sich Länder wie die Niederlande, Dänemark oder Finnland ebenfalls in kräftezehrende Austrittsdiskussionen verwickeln. Beiden Seiten wäre mit einem konstruktiven Engagement für ein besser funktionierendes Europa mehr geholfen. Wären London und Brüssel ein Paar, würde man eine Beziehungstherapie empfehlen.“
Cameron verkauft EU unter Wert
Das britische Pro-EU-Lager, angeführt von Premier David Cameron, sollte viel entschiedener auf die historischen Errungenschaften der EU hinweisen, fordert The Wall Street Journal:
„Eine selbstbewusste Pro-EU-Kampagne könnte eine starke Botschaft aussenden: Die EU spielt eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, dass auf einem in historischer Weise instabilen Kontinent 28 eigenständige Staaten gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme finden können. Es ist rätselhaft, dass Cameron nicht bereit ist, darauf hinzuweisen, wie wichtig die EU bei grenzübergreifenden Herausforderungen ist - von terroristischen Bedrohungen über illegale Migration bis hin zum Klimawandel. Das trifft auch auf seinen Widerwillen zu, darüber zu reden, wie er sich persönlich vom Brüssel-Schlechtmacher zum Kämpfer für eine britische EU-Mitgliedschaft gewandelt hat und was er dabei über die Realitäten der internationalen Diplomatie gelernt hat.“
Argumente der EU-Kritiker grenzen an Rassismus
Die britischen EU-Gegner machen Zuwanderer aus anderen EU-Staaten zu Unrecht zu Sündenböcken, kritisiert The Irish Times:
„Nirgendwo sonst [in der Brexit-Debatte] war die Manipulation der Wahrheit zynischer und mehr an Rassismus grenzend als beim Thema Zuwanderung. Brexit-Befürworter spielen mit den Ängsten der Menschen, wonach das nationale Gesundheitssystem, das durch die Arbeit von Migranten am Leben erhalten wird, sowie das soziale Wohnen von Zuwanderern überlastet würden. Obwohl diese in Form von Steuern nachweislich mehr Geld an den Staat abführen, als sie von diesem erhalten. ... Außerdem ist es zynisch, Zuwanderern aus dem Commonwealth gegenüber anzudeuten, dass einzig die EU-Migranten schuld daran sind, dass ihre Familien nicht nach Großbritannien nachziehen können. ... Als ob sich eine von den EU-Gegnern Boris Johnson und Justizminister Michael Gove geführte Regierung plötzlich für die Einwanderung Schwarzer neu erwärmen würde.“
All die Hysterie können wir uns sparen
Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird - das gilt nach Ansicht von Politologe Hendrik Vos auch für die Brexit-Debatte. In seiner Kolumne in De Standaard schreibt er:
„Alle möglichen Varianten sind denkbar, aber im Kern wird mit den Briten ein Deal geschlossen werden, der den Vereinbarungen zwischen der Union und Norwegen oder der Schweiz sehr ähneln wird. Auf dem Papier sind diese Länder keine Mitgliedsstaaten, praktisch schon. ... Das ist entscheidend für ihr Überleben. Wenn es demnächst einen Brexit geben sollte, dann werden in Großbritannien Köpfe rollen, vor allem der des Premiers. Politische Akrobatik hat Grenzen. Doch am Ende wird sich die Frage stellen, ob der Brexit all die Hysterie wert war. Es wird komplizierte Regelungen mit der Union geben, voller Klauseln und Protokolle. Es wird sicher kostbare politische Energie vergeudet werden. Aber die Chance ist groß, dass Großbritannien in der EU bleibt, auch wenn es austritt.“
Warum die Schweizer den Brexit gutheißen
Wohl nirgendwo sonst auf dem Kontinent stößt die Idee eines EU-Austritt Großbritanniens auf derart große Sympathien wie in der Schweiz, beobachtet der Tages-Anzeiger:
„Das ist naiv, kurzsichtig und auch ein bisschen wahnhaft - aber es lässt sich erklären. Erstens fühlen sich die Schweizer den Briten in ihrer Abneigung zur EU ziemlich verbunden. Wir sehen uns, wie die Briten auch, als Sonderfall - als Land im Herzen Europas, das aber nicht wirklich dazugehört. Das sich immer über die Abgrenzung definierte. Und das im vereinigten Europa weniger ein Friedensprojekt erkennt als ein Kaufhaus, in dem es sich gut geschäften lässt. Das kann man auch dann, wenn man nicht Mitglied ist. Zweitens hält sich in der Schweizer Politik hartnäckig die Vorstellung, ein Austritt Grossbritanniens aus der EU würde unsere Probleme mit Brüssel beheben, besonders beim freien Personenverkehr.“
Wasser auf die Mühlen Orbáns
Warum ein Verbleib Großbritanniens in der EU gefährlich wäre, erklären Soziologe László Bruszt und Ökonom Nauro F. Campos in Népszabadság:
„Für den Fall, dass Großbritannien in der Union bleiben sollte, hat das Land für sich ausgehandelt, bei einer weiteren Vertiefung der Integration außen vor zu bleiben. Davon würden illiberale osteuropäische Nationalisten wie Ungarns Premier Orbán profitieren, die mit Vorliebe die nationale Souveränität ihrer Länder gegenüber Brüssel verteidigen. Sollte Großbritannien in der EU bleiben, wäre das Wasser auf die Mühlen Orbáns und seiner Verbündeten in Osteuropa, die sich gegen eine Vertiefung der Union zur Wehr setzen. ... Mit Blick auf die EU-Integration wäre ein Brexit also durchaus positiv zu bewerten.“
Europäische Integration neu denken
Die EU muss in zwei Gemeinschaften umstrukturiert werden, fordert Politikwissenschaftler Sergio Fabbrini in Il Sole 24 Ore:
„Ganz gleich wie das Referendum ausgehen wird: Die Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und den westlichen Ländern Kontinentaleuropas, die mehrheitlich zur Währungsunion gehören, muss geklärt werden. ... Es bedarf eines Prozesses, der sowohl eine politische Union zum Ziel hat, die exklusiv den Euroraum betrifft, als auch eine wirtschaftliche Union, die den Binnenmarkt betrifft und alle 28 Mitgliedstaaten einbezieht. Es wird leichter sein, eine solche Korrektur mit dem Bremain vorzunehmen. Doch auch im Falle des Brexit stehen zwei oder mehr Jahre Verhandlungen aus, die genutzt werden sollten, um zwei unterschiedliche Modelle zu entwickeln. ... Die Zeit ist reif, den Gedanken der Integration aller EU-Länder in eine einzige Organisation aufzugeben.“
Ähnlich folgenreich wie Lehman-Krise
Ein EU-Austritt Großbritanniens könnte ähnlich weitreichende Folgen haben wie die Lehman-Brothers Krise im Jahr 2008, analysiert Aivar Rehe, der ehemalige Estland-Chef der Danske Bank in Äripäev:
„Die mögliche Entscheidung der Briten für einen Brexit und die Lehman-Krise tragen ähnliche Züge, weshalb wir auf die Folgen vorbereitet sein müssen. Ich empfehle den Unternehmern, den Staub von ihren Notizen über Lehman zu wischen und an mögliche Risikoszenarien zu denken. Entscheidungen von solcher Tragweite werden Unruhe und Ungewissheit auf die Finanzmärkte bringen - in der Finanzsprache auch als Volatilität bekannt. Die Lehman-Krise hat die Risikobereitschaft in der Immobilienwirtschaft stark gesenkt. Ein Brexit würde zudem einen ähnlich erhöhten Konservatismus beim Risikomanagement der Banken mit sich bringen. Und auch Familien empfehle ich einen finanziellen Zusatzpuffer einzubauen.“
Tut uns den Gefallen und stimmt für den Brexit!
Die Briten sollten für den Austritt ihres Landes aus der EU stimmen, empfiehlt der Brüsselkorrespondent von Libération, Jean Quatremer:
„Liebe englische Freunde, euer Verbleib in der Union würde zwar eine akute Krise verhindern, das europäische Projekt jedoch dauerhaft lähmen, bis zu seinem endgültigen Zerfall. Europa, das einst Bedeutung in einer Welt erlangen wollte, in der der Westen unweigerlich an Bedeutung verliert, wird nur mehr ein gescheitertes Projekt sein, das von chinesischen, indischen und gar US-amerikanischen Politikern müde belächelt wird. Einzig ein schneller Austritt eures Landes könnte dem Kontinent neuen Schwung verleihen. Ich bin kein Anhänger des Konzepts der 'heilsamen Krise', aber Europa liegt bereits regungslos da. Nur ein immenser Ruck könnte es wachrütteln und die visionärsten Führungspolitiker (sofern es noch welche gibt) zum Handeln bewegen, damit ein tödliches Auseinanderbrechen verhindert wird.“
Briten würden unter Norwegen-Modell leiden
Um nach einem Brexit weiter Zugang zum europäischen Binnenmarkt behalten, müsste sich Großbritannien weiterhin an dessen Regeln halten ohne diese aber mitbestimmen zu können, warnt The Independent:
„Eine EU ohne Großbritannien wäre aus Sicht der Briten zweifelsohne viel weniger attraktiv. ... Mit einer 'norwegischen Lösung' wäre Großbritannien verpflichtet, die Regeln der EU einführen, um Zugang zu diesem Markt zu behalten. Dabei handelt es sich um Regeln, die dann maßgeblich von der Politik in Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und Spanien vorgegeben würden, und mit denen Großbritannien mit Sicherheit weniger zufrieden wäre. Die Niederländer, die Nordländer und andere Staaten, die auf Flexibilität pochen, würden sich vielleicht zunehmend isoliert fühlen. Doch mehr als alle anderen würden die Briten leiden.“
Brüssel ist zu passiv
Das Ende der EU, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen, könnte fast widerstandslos kommen, fürchtet Der Standard:
„Hinter den Kulissen geht das große Zittern vor dem 'Undenkbaren' um. Das zeigt sich indirekt am Verhalten der Kommissare in Sachen Brexit. Sie vermeiden derzeit offizielle Reisen nach Großbritannien. Auch Juncker selbst wirbt nicht um die Briten. Offenbar glaubt man in Brüssel, sich vor den Bürgern zu verstecken würde dem Lager der Befürworter auf der Insel mehr nützen als eine starke eigene Präsenz. Ein trauriger Befund. Das Juncker-Team ist Ende 2014 angetreten, um eine 'starke politische Kommission' zu sein, die die EU auch global weiterbringen wollte. ... Die EU-Staaten hätten viele Gründe, flammend um London zu werben. Derzeit sieht es aber so aus, als sei es 'dem Kontinent' gleichgültig.“
Brexit könnte EU weiter spalten
Ein Austritt Großbritanniens könnte die Uneinigkeit in der EU noch verstärken, warnt La Tribune:
„Wie sich die EU nach einem Brexit gegenüber Großbritannien verhalten wird, ist noch nicht sicher. Exportländer wie Deutschland, die Niederlande und Irland werden sich - unabhängig davon, was sie während der Brexit-Kampagne sagen - darum bemühen, den 'Schaden zu begrenzen', indem sie verhindern, dass die Bedingungen für den Handel erschwert werden. … Aus politischen Gründen könnte Frankreich auf die Bremse treten und dabei möglicherweise von Italien unterstützt werden, wo Matteo Renzi vom Movimento 5 Stelle, dem Ukip-Verbündeten im Europaparlament, bedroht wird. Eines ist sicher: Eine auf 27 Staaten geschrumpfte EU könnte sich in widersprüchlichen Haltungen verfangen. Und das deutsch-französische Tandem könnte Kollateralopfer eines eventuellen Brexit werden.“
EU nicht weniger demokratisch als Einzelstaaten
Brexit-Befürworter beklagen häufig, dass die EU-Institutionen nicht demokratisch legitimiert seien. Dem widerspricht die Journalistin Imke Henkel auf dem Blog Europp der London School of Economics:
„Die EU ist weit weg, schwer zu verstehen und oft intransparent. Doch sie ist nicht undemokratisch. So wie die britische Regierung sind auch die europäischen Institutionen durch eine repräsentative Demokratie legitimiert. Der britische Premier wird von seiner Partei gewählt, nicht vom Volk. ... Für die Demokratie der EU spricht, dass die EU-Kommissare von den nationalen Regierungen bestimmt werden, die vom jeweiligen Volk gewählt wurden. ... Das EU-Parlament wird von Europas Bürgern in den Einzelstaaten gewählt. Der Europäische Rat besteht aus gewählten Staats- und Regierungschefs jedes Landes. Und die Kommission wird, wie bereits erwähnt, von den nationalen Regierungen eingesetzt und muss vom EU-Parlament bestätigt werden.“
Schottland als letzte EU-Festung der Insel
Schottland würde sich im Falle eines Brexit schon alleine aus wirtschaftlichen Gründen von England lossagen, um Teil der EU bleiben zu können, meint The Independent:
„Wenn sich die Schotten entscheiden müssen, entweder an England gefesselt einen Schritt ins Ungewisse zu machen oder Teil einer stabilen, wenn auch risikobehafteten EU zu bleiben, dann werden sie auf Europa setzen. Mit dem Verbleib in der EU im Falle eines Austritts Englands vermeiden die Schotten nicht nur einen Schritt ins Ungewisse, sondern sie nehmen auch eine einmalige wirtschaftliche Chance wahr. Jedes Unternehmen, das erwägt, England nach dem Brexit in Richtung Kontinentaleuropa zu verlassen, könnte stattdessen Schottland als neuen Standort ins Auge fassen. Schottland, das vermutlich den Euro als Währung einführen würde, wäre aus kontinentaleuropäischer Sicht besser gelegen als Irland. Und es hat einen hochentwickelten Sektor erneuerbarer Energien.“
Nicht nur mit Bedrohungen argumentieren
Die Brexit-Gegner sollten sich nicht ausschließlich auf Angstargumente stützen, findet Kolumnist Ferreira Fernandes bei Diário de Notícias:
„Rund drei Wochen vor dem Referendum in Großbritannien argumentieren die Brexit-Gegner fast allein mit der 'Angst': mit dem wirtschaftlichen Desaster, das ein EU-Austritt Großbritanniens mit sich bringen würde, dem Desinteresse der arabischen und chinesischen Investoren und einer Londoner City, die auf sich alleine gestellt wäre, mit Vergeltungsmaßnahmen aus Brüssel. Nun, sie mögen wohl Recht haben, aber die Gegner eines Austritts sollten auch im Stande sein, mit anderen Argumenten zu überzeugen: mit den politischen und kulturellen Interessen oder mit der 'Schicksalsgemeinschaft Europa' - aber an diese glaubt man offensichtlich selbst nicht so ganz.“
Brexit klingt viel besser als Bremain
Wenn es um die Schlagworte für ihre Kampagnen geht, haben die Austrittsbefürworter auf jeden Fall die Nase vorn, überlegt The Irish Independent:
„'Brexit' hat so viel mehr Schlagkraft als 'Bremain', was wie ein ungewöhnlicher Nachnahme oder eine Markenbezeichnung für eine Medizin klingt. Daher ist es keine Überraschung, dass 'Bremain' nie wirklich durchgestartet ist. Welche Alternativen gab es überhaupt? Eigentlich nur 'Bray' für 'Stay'. ... Daher ist es 'Brexit', und das Wort ist so erfolgreich, dass sogar die EU-Befürworter es verwenden, wenn sie darüber sprechen, ob die Menschen für oder gegen den Brexit stimmen sollen. Das ist bereits ein Sieg für die EU-Gegner, denn indem wir über den 'Brexit' sprechen, zeigen wir, dass wir - zumindest im Unterbewusstsein - schon für den britischen EU-Austritt bereit sind.“
Und was, wenn die Briten bleiben?
Anlässlich der Warnung des britischen Finanzministeriums vor einem Brexit rät Le Monde eher zu einer Strategie für den Fall, dass Großbritannien in der EU bleibt:
„Ein siegreicher David Cameron wird Europa seine politische Agenda aufzwingen wollen: den Binnenmarkt ankurbeln, die EU von der Technokratie befreien und den nationalen Parlamenten eine aktivere Rolle verleihen. Diese Ziele sind löblich, doch sollte man die daraus resultierende politische Dynamik nicht unterschätzen: Ein 'Brexin' [Verbleib] könnte die ökonomische Konvergenz zwischen Deutschland und Großbritannien, den beiden größten Wirtschaften Europas, verstärken. … Um nicht ins Abseits gedrängt zu werden, muss Frankreich einen echten Plan B für die Eurozone und die EU-28 vorbereiten. Bleiben die Briten in der Gemeinschaft, müssen die Franzosen als Erste vorpreschen.“
Polen wäre nach einem Brexit wichtiger
Als Chance für Polen sieht Rzeczpospolita hingegen den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU:
„Die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Verbindungen zwischen Großbritannien und der EU sind so eng, dass selbst ein Brexit daran nichts ändern wird. Es gibt somit auch ein Leben danach. ... Der Brexit bedeutet mit Sicherheit nicht das Ende der Gemeinschaft, sondern nur, dass sich die Möglichkeit eröffnet, sie gründlich umzubauen. Polen ist das größte Land, das außerhalb der Eurozone liegt. Somit dürfte es dann eine bedeutende Rolle innerhalb der EU übernehmen. Lasst uns einen Brexit deshalb nicht als Katastrophe auffassen, sondern als Chance, unsere eigenen Vorstellungen bei diesem Umbau einzubringen.“
Ein Horrorszenario für Irland
Ein EU-Austritt Großbritanniens würde Irland und Nordirland vor große politische, gesellschaftliche und ökonomische Probleme stellen, warnt The Irish Times:
„Die Aussicht auf den Brexit sollte Irland mit Furcht erfüllen. Dieser könnte gravierende wirtschaftliche Auswirkungen haben und zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen führen, wie das die EU bei einem Nicht-Mitgliedstaat außerhalb des Schengen-Raums vorsieht. Außerdem könnte er die Spannungen in Nordirland neu entfachen. All das ist nicht deshalb möglich, weil es irgendeine Veränderung in Irland oder irgendwelche neuen Probleme zwischen Dublin und London gibt. Nein, es die Folge der Schwierigkeiten Großbritanniens mit der EU. Kurz gesagt wird die englisch-irische Beziehung nicht durch eine rein zwischenstaatliche, sondern durch eine breitere, europäische Dynamik bestimmt.“
Alle Argumente sprechen dagegen
Das Pro-Brexit-Lager verschleiert die schädlichen Folgen eines EU-Austritts, kritisiert Dagens Nyheter:
„Die Nein-Sager behaupten, dass die Briten bald eine neue Vereinbarung mit der EU erreichen können, die freien Zugang zum Binnenmarkt sichert. Aber nichts deutet darauf hin, dass die Union einen Deserteur mit Samthandschuhen behandeln würde. Alle EU-Abkommen würden erfordern, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erhalten bleibt, so wie in Norwegen und der Schweiz. Je mehr Autonomie das Vereinigte Königreich fordert, desto weniger wahrscheinlich ist der Zugang zum EU-Marktplatz. ... Die wirtschaftlichen und politischen Argumente sprechen für die EU-Mitgliedschaft. Die Nein-Seite entwirft eine Utopie der Unabhängigkeit, der niemand aufsitzen sollte.“
Große Gefahr für kleine EU-Staaten
Das politische Risiko eines britischen EU-Austritts wird unterschätzt, meint Satakunnan Kansa:
„Es ist eindeutig, dass im Falle eines Brexits sowohl der Einfluss der EU als auch Großbritanniens in der Weltpolitik abnehmen würde. Darunter würden insbesondere kleine Länder wie Finnland leiden. Wenn die gemeinsame EU-Front bröckelt, wäre es in der aktuell angespannten weltpolitischen Lage einfacher, zu provozieren und Druck auszuüben. ... Nach einem Brexit würden die Austrittsforderungen in den Mitgliedstaaten zunehmen. Auch in Finnland. Die EU ist für Finnland sowohl ein wirtschaftliches als auch ein politisches Projekt gewesen, das gezeigt hat, dass die Finnen zum Westen gehören. Die Austrittsbefürworter führen wirtschaftliche Argumente an, vergessen aber die politische Dimension. Für Finnland bedeutet die EU eine lebenswichtige verteidigungspolitische Bindung an den Westen. Wenn es sie nicht gäbe, stünden wir direkt unter dem Einfluss Russlands.“
Brexit-Befürworter haben nichts mit IS am Hut
Die Terrormiliz Islamischer Staat würde sich über einen EU-Austritt Großbritanniens freuen, hat Premier David Cameron am Dienstag gesagt und damit seine Warnung vor den Gefahren eines Brexits erneuert. Das kann noch ein böses innenpolitisches Nachspiel haben, schimpft The Daily Telegraph:
„Die Aussage ist nicht nur beleidigend, sondern auch politisch unklug. Rund die Hälfte der Wahlberechtigten und ein Großteil der Mitglieder der Tories sind für den Brexit. Sie haben dafür ehrenhafte Motive und glauben, dass es das Beste für ihr Land ist. Dennoch legt Cameron nahe, dass sie einen Todeskult des Massenmordes, der Vergewaltigung und Versklavung unterstützen. Wenn sich der Regierungschef nach dem Referendum bitteren Anschuldigungen von Seiten der Wähler und Tory-Kollegen gegenübersieht, dann kann er niemand anderem als sich selbst die Schuld dafür geben.“
Ein unverantwortliches politisches Spiel
Als einen Riesenfehler sieht die Zeitung Jyllands-Posten die Entscheidung Camerons, die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen:
„Das Land ist gespalten und eine klare Mehrheit ist nicht in Sicht. Großbritanniens Zukunft in Europa liegt in der Verantwortung von Premier David Cameron. Seine Entscheidung, eine Volksabstimmung anzusetzen, war weder den Wählern geschuldet noch einer politischen Forderung nach einer ultimativen Entscheidung über die EU-Mitgliedschaft. Die Abstimmung ist allein ein Ergebnis von Camerons missglücktem Versuch, ein für alle Mal die ständig vor sich hin köchelnde konservative Debatte über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens zu beenden. Er wollte den EU-kritischen rechten Flügel in der Partei zum Schweigen bringen und gleichzeitig die Wählerflucht hin zu den EU-Widerständlern der Unabhängigkeitspartei Ukip bremsen. Doch das ganze Projekt ist ein massiver strategischer Fehler, ein politisches Spiel mit unverantwortlichem Einsatz.“
Ungarn wäre ohne EU unter Moskaus Kontrolle
In Ungarn gibt es Befürchtungen, dass ein Brexit Viktor Orbán und seine Regierung dazu bewegen könnte, aus der EU auszutreten. In diesem Falle wäre Orbán allerdings Moskau auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, meint Péter Béndek auf dem Blog 1000 A Mi Hazánk:
„Orbán würde in Ungarn sehr rasch seinen Nimbus verlieren und denkbar negativ in die Geschichtsbücher eingehen. Er sollte ein solches Szenario aus eigenem Interesse vermeiden. ... Mit einem EU-Austritt Ungarns würde Orbán sein Land gleichsam freiwillig in die Arme Russlands treiben. ... Jenen Stimmen in Ungarn, die den Verlust unserer Unabhängigkeit und Souveränität in der EU befürchten, sei Folgendes gesagt: Sie würden sich wundern, wie rasch die Souveränität des Landes nach einem EU-Austritt dahinschmelzen würde. Ungarn würde mit hoher Wahrscheinlichkeit unter die Vormundschaft Moskaus geraten und Orbán wäre nur so lange Premier, wie er den Interessen Putins dienen würde.“
Beide Lager übertreiben maßlos
Die Brexit-Debatte wird von keiner Seite sachlich geführt, kritisiert die Süddeutsche Zeitung:
„Beliebtestes Stilmittel ist die grobe Übertreibung. Die Gegner warnen unter anderem vor unkontrollierbarer Masseneinwanderung, die ehrbare Briten um ihre Jobs bringe, während die Befürworter unken, jeder Haushalt verliere bei einem Austritt Tausende Pfund im Jahr. Glaubt man beiden Lagern, steht Großbritannien so oder so vor Chaos und Ruin. Das ist deshalb etwas überraschend, weil das Verhältnis Großbritanniens zur EU immer von Pragmatismus geprägt war. ... Zu erwarten wäre eine nüchterne Abwägung gewesen, und schließlich eine ebenso nüchterne Entscheidung. Da die EU-Gegner jedoch ahnen, dass am Ende eines solchen Wägens die Erkenntnis stehen könnte, dass es in vielerlei Hinsicht in Großbritanniens ureigenem Interesse ist, Teil des Verbunds zu bleiben, haben sie die Debatte emotionalisiert. Vor allen Dingen haben sie es geschafft, dass die Befürworter nun glauben, Emotion mit Emotionen beantworten zu müssen.“
Briten träumen noch immer vom Empire
Wenig überrascht von der emotionalen Debatte zeigt sich hingegen La Stampa:
„Die starken Gefühle, die das Thema Europa hervorruft, sind nichts Neues in einem Großbritannien, das seiner imperialen (und imperialistischen) Vergangenheit noch nachtrauert und sich seiner geografischen und kulturellen Zugehörigkeit zu Europa nicht sicher ist. ... Für viele andere europäische Länder war die moderne Geschichte vor der Gründung der EU eine Abfolge von Diktaturen, Blutbädern, kolonialen Abenteuern und zwei verheerenden Weltkriegen. Doch Großbritannien hat eine alternative 'Geschichte', zumindest in der Theorie: Ein großes Imperium, das in der kollektiven Erinnerung dank der Institutionen des Commonwealth fortlebt. 'Jahrhundertelang haben wir in einer 'wunderbaren Isolation' gelebt, beschützt durch unsere Marine und das Empire', schreibt der britische Historiker Vernon Bogdanor. 'Diese Isolation besteht nicht mehr, doch im Unterbewusstsein der Briten ist etwas davon hängengeblieben, sie verweigern sich zu engen Verbindungen mit Europa.'“
Hinter antieuropäischen Bewegungen steht Moskau
Die Gefahr durch einen Brexit sollte nicht unterschätzt werden, warnt allerdings die Tageszeitung Rzeczpospolita:
„Das Referendum, das Cameron ausgeschrieben hat, ist ein Beispiel für die antieuropäischen Bewegungen, die von Jahr zu Jahr immer stärker werden. Es ist kein Zufall, dass Russland diese Initiativen politisch und finanziell unterstützt. Denn sie stiften im Westen massiv Unruhe und zerlegen die EU als politische und wirtschaftliche Gemeinschaft. Die Partikularisten und Nationalisten spielen heutzutage eine ähnliche Rolle, wie die Pazifisten zur kommunistischen Zeit. Der Unterschied ist nur, dass diese 'nützlichen Idioten', wie sie Lenin einmal genannt hat, damals kaum eine Chance hatten, die Macht zu übernehmen. Jetzt haben sie dies aber durchaus.“
Brexit schützt die Insel vor Antisemitismus
Ein Austritt aus der EU würde Großbritannien vor Judenfeindschaft bewahren, wie sie auf dem Kontinent verbreitet ist, betont Kolumnistin Angela Epstein in The Daily Telegraph:
„Was, wenn sich koordinierter politischer Wahnsinn wieder in ganz Europa ausbreitet? Wäre Großbritannien gerüstet, um eigenständig agieren zu können, obwohl es Teil einer bereits legitimen Allianz mit Europa ist? ... Es ist offensichtlich, dass Europa ein Problem mit blutrünstigem, tief sitzendem Antisemitismus hat. Man führe sich nur die dschihadistischen Morde an Juden in Brüssel, Paris und in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen in den vergangenen zwölf Monaten vor Augen. Oder die schrecklichen Angriffe im französischen Toulouse vor vier Jahren, als ein Bewaffneter einen Lehrer und drei Schüler in einer jüdischen Schule der Stadt erschossen hat.“
Premier hält Wähler für Idioten
Dass Cameron am Montag vor einer steigenden Kriegsgefahr im Falle eines Brexits gewarnt hat, ist Mumpitz, kritisiert die Financial Times:
„Eine solche aufrührerische Sprache über den Krieg ist ein sicherer Weg, um Euroskeptiker und die Wechselwähler gegen sich aufzubringen. Für unentschiedene Wähler sieht es danach aus, als müsse der Premier auf Übertreibungen und blutrünstige Drohungen zurückgreifen, um die Menschen vom Verbleib in der EU zu überzeugen. Das macht aus strategischer Sicht keinen Sinn, wenn man bedenkt, dass die EU-Befürworter die argumentativen Trümpfe in Bezug auf Handel, Wirtschaft und Stabilität in der Hand halten. … Der Premier weiß, dass ein Brexit nicht zu Krieg führen wird; auch die Wähler verstehen das. Er sollte nicht vergessen, dass wir keine Idioten sind und durchaus mit reflektierten Argumenten für den EU-Verbleib umgehen können.“
Cameron ist ein echter Staatsmann
Dass sich David Cameron in seiner Rede im British Museum für den Verbleib in der EU stark gemacht hat, zeigt für La Vanguardia, dass er ein Politiker mit Format ist:
„Während die Befürworter des Brexit behaupten, mit dem Austritt aus der EU würde das Land die Kontrolle über die eigenen Grenzen wiedererlangen verteidigte sich der Premier - ein stärkerer Verfechter der EU als je zuvor -, dass die Abschottungspolitik Großbritannien noch nie gut getan hat. Und dass der Kampf gegen den Terrorismus den Austausch von Geheimdienstinformationen zwischen den Bündnispartnern benötigt. Obwohl die Meinungsumfragen im Land eher zum Austritt aus der EU tendieren, beweist Cameron, dass er sich wie der Staatsmann verhält, den Churchill einst als einen Akteur beschrieb, der nicht an die kommenden Wahlen denkt, sondern an die kommenden Generationen.“
Referendum macht alle zu Verlierern
Ein EU-Austritt Großbritanniens wäre extrem gefährlich für Europa, fürchtet die Wirtschaftszeitung ll Sole 24 Ore:
„Ein Brexit würde die Büchse der Pandora öffnen, und eine Flut von Beschuldigungen und möglichen neuen Austrittsbestrebungen auslösen: Polen, Ungarn, Tschechische Republik oder gar einige Länder des Euroraums wie Finnland und die Niederlande. Durch die Stärkung separatistischer und euroskeptischer Bewegungen innerhalb einzelner Länder, würde ein Brexit nicht nur die Integration der Union sondern auch und vor allem des Euroraums ausbremsen. … Das Referendum legt nur noch deutlicher alle Schwächen und Brüche der europäischen Konstruktion bloß. Es ist nicht konstruktiv, nicht einmal im Rahmen der öffentlichen Debatte, wie der derzeitige Tenor zeigt. Wie auch immer der Entscheid am 23. Juni ausfällt, wir haben bereits alle verloren.“
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