Was tun gegen die Krawalle in Frankreich?
Nach neuer Gewalt auf einer Kundgebung gegen die Arbeitsmarktreform am Dienstag in Paris hat Präsident François Hollande mit einem Demonstrationsverbot gedroht. Ein solches würde allerdings die Demokratie aushöhlen, warnen einige Kommentatoren. Andere fordern eine härtere Gangart gegen die Gewerkschaften und kritisieren insbesondere die CGT.
Demonstrationsverbot wäre kontraproduktiv
Mit seinen Drohungen schießt Hollande übers Ziel hinaus, mahnt Libération:
„Es ist nur logisch, dass die Exekutive Entschlossenheit zeigt. Die CGT selbst und alle verantwortungsvollen Gewerkschaften verurteilen die Ausschreitungen der Randgruppen. Und die Regierung ist für die Sicherung der demokratische Ordnung zuständig... Allerdings nicht ohne Wenn und Aber: So gerechtfertigt eine Bestrafung der Randalierer ist, so übertrieben ist die Drohung, Demonstrationen generell zu verbieten. Ein Verbot würde die soziale Bewegung - was auch immer man von ihren Zielen halten mag - für Taten verantwortlich machen, die ihr nicht zuzuschreiben sind. Antidemokratische Gewalt darf nicht zu einer Schwächung der Demokratie führen. Die Prinzipien und Prozeduren der Demokratie müssen beibehalten werden, auch in schwierigen Lagen. Andernfalls würde man den Aktivisten, die man kritisiert, in die Hände spielen.“
Hollande wieder einmal zu zahm
Frankreichs Staatspräsident muss endlich eine angemessene Härte gegenüber den Demonstranten an den Tag legen, fordert hingegen Le Figaro:
„François Hollande droht damit, gegebenenfalls weitere Versammlungen gegen das El-Khomri-Gesetz zu untersagen. Dabei könnte er schlicht und einfach anordnen, dass der Ausnahmezustand ein Verbot jeglicher Demonstrationen verlangt und ein für alle Mal klarstellen, dass die Polizei, die durch die islamistische Barbarei in tiefe Trauer gestürzt wurde, anderes zu tun hat, als vermummte Randalierer auseinander zu treiben, deren Grausamkeit für Entsetzen sorgt. Doch wie immer ist der Präsident um unwahrscheinliche gütliche Einigungen bemüht und traut sich nicht. Genauso wie er sich nicht traut, sich mit der nötigen Entschlossenheit gegen die CGT zu stellen und eine finanzielle Wiedergutmachung für die verheerenden Schäden zu fordern, die ihre Protestmärsche auslösen. Nach wie vor dominiert dieses fatale Bemühen, vorsichtig zu sein, obwohl die Realität unerbittliches Handeln verlangt.“
Minderheit nimmt ganzes Land in Geiselhaft
Allein der Gewerkschaftsbund CGT ist für das Chaos verantwortlich, wettert Jean-Marie Colombani in der Tageszeitung Corriere della Sera:
„Man vergisst über den Aufruhr die Tatsache, dass die Gewerkschaften, die gegen das Gesetz sind, in der Minderheit sind. Die anderen, reformorientierten Gewerkschaften, allen voran der Dachverband CFDT, sind für die Reform und das mit gutem Grund. … Sie haben an der jetzigen Fassung mitgearbeitet und zahlreiche und wesentliche Änderungen des Textes eingefordert. Und das genau ist der Kern des Problems: die CGT, die vor allem im öffentlichen Bereich stark ist, droht ins Hintertreffen zu geraten und von der CFDT überrundet zu werden. Diese dürfte bald zur ersten Gewerkschaft Frankreichs aufsteigen. Wir haben es folglich mit einem eher pathetischen Versuch der CGT zu tun, durch ihr Aufbegehren eine neue Legitimation zu finden.“
Der Zusammenhalt der Franzosen schwindet
Als Symptom für das Auseinanderdriften der französischen Gesellschaft sieht der Deutschlandfunk die Proteste:
„Die sogenannten 'Ausschreitungen' von Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben eine kriminelle Intensität erreicht, die nur noch durch Hass begründet werden kann: auf die Polizei vor allem, aber auch auf 'die da oben': die gesamte politische Klasse. Sie hat im ganzen Land an Ansehen verloren, bei der Linken kommt die große Enttäuschung über die Präsidentschaft Francois Hollandes hinzu. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, Integrationsbemühungen kommen nicht voran, im Gegenteil: in Zeiten täglicher und gefühlt allgegenwärtiger Terror-Berichterstattung sieht sich der arabisch-stämmige Teil der Bevölkerung mehr und mehr unter Generalverdacht. Der Zusammenhalt der Franzosen schwindet - und das ist vielleicht das größte Problem des Landes, führt es doch zu einem ganz grundlegenden Gefühl der Verunsicherung und auch: der Vereinzelung, der Abschottung.“
Die überhöhten Ansprüche der Franzosen
Die französischen Protestler wollen einfach die Realität nicht anerkennen, meint der Journalist Dinu Flămând im Blogportal Adevârul:
„Andere liberale Staaten, wie Großbritannien oder Deutschland, ganz zu schweigen von den USA, verkomplizieren sich bei den Arbeitsrechten deutlich weniger. Dort entlassen und engagieren die Arbeitgeber ganz ungezwungen. In Frankreich hat man das nie ganz akzeptieren wollen. Doch in einer globalisierten Wirtschaft, in der große Unternehmen in Länder gehen, die keine Gewerkschaften kennen (wie in China), erscheinen die 'traditionellen' Ansprüche der französischen Gewerkschaften wie Phantome aus einer anderen Zeit. … Weder die Gewerkschaften, noch die französische Öffentlichkeit scheinen sich damit abfinden zu wollen, dass die Globalisierung nun einmal soziale Auswirkungen hat.“
Deutschland ist schuld
Die Proteste in Frankreich richten sich gegen Hollande und die Regierung - doch damit leider gegen die Falschen, bemerkt die Tageszeitung taz:
„Die Arbeitslosigkeit in Frankreich steigt, weil die Deutschen ihre Arbeitslosigkeit exportiert haben. Das Symbolwort heißt 'Agenda 2010': Systematisch wurden die deutschen Reallöhne gedeckelt, um sich Wettbewerbsvorteile zu erschleichen. Die Franzosen hingegen verhielten sich bisher fair. Sie ließen ihre Gehälter mit dem technischen Fortschritt steigen, haben also nicht über Dumpinglöhne konkurriert. Der Preis ist bitter: Durch seine Trickserei hat Deutschland jetzt einen Wettbewerbsvorteil von etwa 20 Prozent. Hier herrscht fast Vollbeschäftigung, während in Frankreich etwa 10 Prozent arbeitslos sind. Gegen diese deutsche Aggression ist die französische Politik machtlos. ... Die Lösung liegt nicht in Frankreich, sondern in Deutschland: Hier müssten die Gehälter so lange steigen, bis die unfaire Wettbewerbslücke wieder geschlossen ist.“
CGT will nur ihren Einfluss wahren
Während andere Gewerkschaften sich im Kampf um die Arbeitsmarktreform auf Kompromisse eingelassen haben, hält die CGT an ihrem harten Kurs gegen das Gesetz fest. Le Point erläutert die Beweggründe des Gewerkschaftsbunds:
„Dass die CGT der französischen Wirtschaft, die sich gerade wieder zu erheben begann, derzeit fleißig zusetzt, ist dadurch zu erklären, dass sie nicht Beschäftigung und Kaufkraft verteidigt, sondern einzig und allein ihre kleinkrämerischen Interessen: Indem der berüchtigte Artikel 2 der Arbeitsmarktreform die Verhandlungen auf Betriebsebene über die Tarifverträge stellt, beschneidet er den Einfluss der Gewerkschaft, von dem innerhalb der Arbeitswelt ohnehin schon kaum mehr etwas übrig ist. Die CGT ist wie ein Fisch im Wasser eines kafkaesken Systems hunderter beruflicher Sparten, inmitten derer alle außer ihr mit ihrem Latein am Ende sind.“
Das soziale Europa liegt im Sterben
Nicht nur in Frankreich werden die Rechte von Arbeitnehmern massiv eingeschränkt, erinnert Viriato Soromenho Marques in der Tageszeitung Diário de Notícias:
„Was in Frankreich gerade auf dem Sterbebett liegt, ist das Projekt eines Europas, das eigentlich geschworen hatte, die Arbeit gegen den Missbrauch des globalen Kapitalismus zu schützen. Jacques Delors, der frühere Präsident der Europäischen Kommission, warnte bereits 1989 vor einer rein wirtschaftlichen Vision des europäischen Projekts: 'Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt!'. ... Das gegenwärtige Europa von Manuel Valls jedoch verschmäht die im EU-Vertrag verankerten Arbeitsrechte und trivialisiert die Tatsache, dass eine ganze Nation, die griechische, für ein soziales Experiment des extremen Sparens genutzt wird.“
Front National profitiert von Streiks
Aus der Pattstellung zwischen französischer Regierung und den Gewerkschaften im Streit über die Arbeitsmarktreform wird der rechte Front National wohl den größten Nutzen ziehen, meint die linke Tageszeitung Népszava:
„In vielen Industriestaaten wurden bereits ähnliche Reformen auf den Weg gebracht wie jene, die Hollande nun den Franzosen aufzwingen will. Das Ergebnis ist allenthalben eine Ausbreitung der Lebensform des sogenannten Prekariats. Mithin ist es wenig verwunderlich, dass der Widerstand der Gewerkschaften enorm ist. ... Während aufgrund des Kräftemessens zwischen der sozialistischen Regierung und den linken Gewerkschaften das Leben in Frankreich zum Erliegen kommt, kann sich der rechtsradikale Front National unter Marine Le Pen zufrieden die Hände reiben - das ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Le Pen weiß allzu gut, dass die radikale Rechte nur dann eine Chance hat, wenn das natürliche Bündnis zwischen den linken Parteien und den arbeitenden Menschen zerfällt.“
Blockadehaltung schadet den Gewerkschaften
Die Proteste der Gewerkschaften richten sich insbesondere gegen Artikel 2 der Arbeitsmarktreform, wonach eine Aushandlung der Wochenarbeitszeit auf Unternehmensebene - unabhängig von den Tarifverträgen - möglich sein soll. Ökonom Jean-Pierre Bompard schüttelt darüber auf seinem Blog bei Alternatives économiques den Kopf:
„Der Artikel 2, der in Sachen Arbeitszeitregelung die Hierarchie umkehrt, ist unverzichtbar, um unsere wirtschaftlichen Aktivitäten an die Globalisierung anzupassen. Zumal diese Änderung - abgesehen von den Überstunden - mit den Löhnen nichts zu tun hat. Dieser Artikel ist außerdem die letzte Chance für die Gewerkschaften, sich gegenüber den Beschäftigten neu zu legitimieren. … Die Konflikte um dieses Gesetz machen deutlich, dass Gewerkschaftsarbeit auf unterschiedliche Art und Weise verstanden werden kann: als Weigerung und als Kompromiss. Es bleibt abzuwarten, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, der Ablehnung etwas Anderes hinzuzufügen und neue Rechte einzuführen. Mit ihrer ablehnenden Haltung verlieren die Gewerkschaften letztlich immer mehr Rückhalt.“
Paris sollte sich vor Eskalation hüten
Mehr als 160 französische Wissenschaftler und Intellektuelle fordern in einem Appell des liberalismuskritischen Think Tanks Fondation Copernic die Pariser Regierung dazu auf, die Spannungen im Land nicht weiter zu schüren. L'Humanité hat den Aufruf veröffentlicht:
„Die Regierung hat keine Mehrheit im linken Spektrum, um diesen enormen sozialen Rückschritt durchzusetzen, der die Geschichte zurückdreht. Sie sieht sich mit der Haltung der Gewerkschaften und einer Mobilisierung konfrontiert, die seit drei Monaten Millionen von Beschäftigten, jungen Menschen sowie Personen mit prekären Arbeitsbedingungen und solchen ohne rechtliche Ansprüche neue Hoffnung verleihen. Nuit Debout zeugt von ihrem Potential. Verschärfung von Spannungen und Polizeigewalt, Drangsalierung von Streikenden, Putsch im Parlament - wo soll das noch enden? Wie viele Andere derzeit machen auch wir uns Sorgen. Braucht die Regierung ein Todesopfer wie im Streit um die Universitätsreform 1986? Besser wäre es, wenn sie schnellstens aufhörte, tragische Entwicklungen zu riskieren.“
Die ewige Nostalgie der Franzosen
Die Franzosen sind ziemlich romantisch in ihrem Festhalten an alten Idealen, findet die konservative Naftemporiki:
„Die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer weichen nicht zurück, stattdessen lassen sie ihre Proteste eskalieren und legen öffentliche Verkehrsmittel, Flughäfen und Häfen lahm. Dies ist ein großer Schlag für den Tourismus in Paris, das sich noch von den Terroranschlägen vom November zu erholen versucht. ... Derzeit rebellieren die Franzosen gegen jede Maßnahme, die ihre Arbeitsrechte betrifft, und hören nicht auf die Argumente der Ökonomen. ... Sie kämpfen weiter, im Gegensatz zu den Griechen, die aufgehört haben zu glauben, dass der 'Frühling' kommen wird. Die Franzosen glauben nicht an das Recht des Marktes. Sie halten noch an den Parolen der französischen Revolution fest: Liberté, Egalité, Fraternité.“
Streiks künden vom Untergang Europas
Die Proteste und Streiks in Frankreich zeugen davon, dass der Traum von Europa zerbröckelt, glaubt die regierungstreue Tageszeitung Sabah:
„Wir nähern uns dem Ende eines Paradigmas! Der alte Kontinent siecht dahin. Sein Produktionsstil, seine Beziehungen und Modelle passen nicht zum neuen Zeitalter. Die Werte, auf denen er beharrt, funktionieren in der heutigen wirtschaftlich-politischen Realität nicht mehr. Der Kontinent verliert seine Flexibilität und die Fähigkeit, sich zu hinterfragen. ... Es scheint, als würden wir auf nie gedachte Weise Zeuge der ersten ernsthaften Zerstörung durch die Globalisierung in Europa. Dieser Wandel wird natürlich nicht von heute auf morgen passieren und vielleicht auch nicht in Frankreich, sondern in einem anderen Land Europas. Aber die jetzigen Ereignisse läuten den Anfang vom Ende ein.“
Sehr schlechtes Timing für die Reform
Dass die französische Regierung die Arbeitsmarktreform noch schnell vor der Fußball-Europameisterschaft durchboxen will, ist nach Ansicht von Diário de Notícias ein Fehler:
„Unmittelbar bevor mehr als zwei Millionen Touristen zur EM 2016 nach Frankreich stürmen, haben der Stillstand der Raffinerien und die Demonstrationen von Gewerkschaften das Land auf den Kopf und die parlamentarische Mehrheit in Frage gestellt. Es mag zwar stimmen, dass der Kalender bis zur Präsidentschaftswahl eng getaktet ist und ein Hinausschieben der Arbeitsmarktreform auf einen Zeitpunkt nach dem Sommer nicht die gewünschten Auswirkungen auf die Wirtschaft bis zum Frühjahr 2017 haben würde - und zudem ein Bonus für Marine Le Pen wäre. Doch in der Politik kommt es eben nicht nur auf das richtige Timing an, sondern auch auf die Art und Weise, wie die Dinge umgesetzt werden.“
Gesetz nur in einem Punkt umsetzen
Stark umstritten ist Artikel 2 der Reform, demzufolge Sozialpartner auf Betriebsebene unabhängig von geltenden Branchentarifverträgen unter anderem über Arbeitszeiten verhandeln können. Den Passus sollte man behalten, den Rest der Reform zurücknehmen, fordert der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Attali fordert in seinem Blog bei L'Express:
„Die Debatte wird sich auf die vorzunehmenden Änderungen am Artikel 2 konzentrieren, um ihn seines Inhalts zu entleeren, doch ich schlage das Gegenteil vor: den Artikel in der aktuellen Ausführung beizubehalten, denn er ermöglicht eine echte Demokratie in den Unternehmen, da er die Beschäftigten dazu drängt, zum Durchsetzen sozialer Forderungen einer Gewerkschaft beizutreten. Den Rest der Reform sollte man verwerfen und stattdessen ein Gesetz für die berufliche Bildung von Arbeitslosen ausarbeiten, das unser Land dringend braucht und mit dem die Gewerkschaften nichts anfangen können.“
In Frankreich steht Europa auf dem Spiel
Die gewaltsamen Proteste in Frankreich bringen einen wichtigen Stützpfeiler der europäischen Integration ins Wanken, warnt El País:
„Was in Frankreich geschieht, ist nicht nur eine innere Angelegenheit. Wenige Tage vor dem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU zerfleischt sich ein bedeutender Teil Europas im Streit um das künftige Gesellschafts- und Arbeitsmarktmodell. Zufrieden schaut die Ultrarechte zu, wie sich die Links- und Mittelinks-Parteien kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2017 gegenseitig zerhacken. So platt es auch klingen mag: Dialog und Moderation sind der einzige Ausweg aus dieser komplizierten Krise, die eine Gefahr für die französischen Institutionen bedeutet.“
Parlament muss über die Straße siegen
Die aktuellen Streiks in Frankreich und Belgien weisen auf ein gefährliches Demokratie-Verständnis hin, kommentiert die Kolumnistin Mia Doornaert in De Standaard:
„Für die nördlichen, überwiegend protestantischen Länder Europas sind Parlamente und Gesetze Früchte der Freiheit. Schließlich hatte der Freiheitskampf das Ziel, aus Untertanen Bürger zu machen, ihnen eine Stimme zu verleihen, um das Land mit zu führen. ... Im südlichen Europa hingegen werden demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente häufiger als Hindernisse für die Freiheit dargestellt. Dort kommt es kräftig und revolutionär rüber, sich diesen Institutionen mit einer 'Asphaltdemokratie' zu widersetzen. ... Es wäre sehr kurzsichtig, beiden Ansätzen dieselbe Sympathie entgegenzubringen. ... Gerade jetzt, wo so oft vor dem Vormarsch des Populismus gewarnt wird, dürfen die parlamentarischen Spielregeln nicht geschwächt, sondern müssen gestärkt werden.“
Diese Reform darf nur der Anfang sein
Frankreich braucht dringend die geplanten und noch weitere Wirtschafts- und Arbeitsmarktreformen, mahnt The Times:
„Der Präsident und die Regierung von Manuel Valls dürfen bei ihrem Bemühen, jene Bestimmungen zu überarbeiten, die die Unternehmen an die Leine nehmen, nicht nachgeben. ... Sie müssen nicht nur die derzeit geplanten Reformen durchsetzen, sondern weiter gehen. Kollektive Tarifvereinbarungen sollten auslaufen und Regeln zur Auszahlung von Arbeitslosengeld verschärft werden. Eine Verkleinerung von Frankreichs riesigem öffentlichem Dienst und eine Anhebung des Renteneintrittsalters sollten helfen, das Budgetdefizit zu begrenzen. Präsident Hollande ist offensichtlich nicht gewillt, die Initiative zu ergreifen, weil er fürchtet, dass das seinem Bemühen schaden würde, im kommenden Jahr wiedergewählt zu werden. ... Er hat einen unglücklichen und gefährlichen Kurs eingeschlagen.“
Es wird nur Verlierer geben
Die wachsenden Massenproteste gegen die Arbeitsmarktreformen in Frankreich, die unter anderem die Rücknahme der 35-Stunden-Woche vorsehen, schaden aus Sicht der Neuen Zürcher Zeitung allen Seiten:
„Bisher haben die Franzosen nicht den Beweis erbracht, dass ihre 35-Stunden-Woche das richtige Modell ist. Im Wettbewerb mit vergleichbaren europäischen Volkswirtschaften stehen sie nicht besonders gut da. Die Arbeitslosigkeit wurde keineswegs überwunden; beträchtliche Segmente der Bevölkerung stecken in der Armutsfalle. Ohnehin scheint die Anspruchshaltung, dass man mit weniger Arbeit gleich viel verdienen soll wie andere mit mehr Arbeit, etwas frivol. Die umkämpfte Reform des Arbeitsrechts wird, falls sie wirklich in Kraft tritt, dem Land kaum den erhofften Impuls geben; dafür ist sie zu zaghaft. Die Kosten der Blockaden aber werden die Konjunktur auf jeden Fall beeinträchtigen. Es wird nur Verlierer geben.“
Starrsinn bringt Protestler nicht weiter
Die deutsche Linke schaut neidisch auf die Protestler in Frankreich - nicht ganz zu Recht, findet die linke taz:
„Die trauen sich was, die Franzosen, denken sie. Wenn wir Deutsche nur halb so radikal wären wie die Franzosen, würde es uns - und Europa - besser gehen. An diesem Gedanken ist sicher etwas dran, aber es ist auch nur die halbe Wahrheit. ... Auch in Deutschland gab es Widerstand gegen die Hartz-IV-Reform, aber er war lange nicht so radikal wie in Frankreich. Davor haben die Gewerkschaften zurückgeschreckt. ... Immerhin haben es die Gewerkschaften später geschafft, die Reform ein bisschen zu reformieren - und den Mindestlohn durchzusetzen. Der Mindestlohn wiederum gehört seit Langem zu Frankreich wie radikaler Sozialprotest. Trotzdem geht es dem durchschnittlichen Arbeitnehmer an der Seine nicht besser als dem am Rhein - im Gegenteil. Ein starres Festhalten am Status quo kann also in Frankreich nicht der Weisheit letzter Schluss sein.“
Hollandes Unbeirrbarkeit sollte Schule machen
Beeindruckt von der Standhaftigkeit der französischen Sozialisten hofft dagegen die konservative ABC, dass sich auch die spanischen Genossen der PSOE eine Scheibe vom unbeirrbaren Reformwillen abschneiden:
„Die PSOE sollte sich an Hollande ein Beispiel nehmen und sich von der radikalen Linken distanzieren, um stattdessen an das Wohl des Staats zu denken und Vorschläge zu machen, die dem ganzen Land dienen. Seit Tagen erschüttert Frankreich eine Welle von gewaltsamen Protesten aufgrund der direkten Ablehnung der von Hollandes Regierung geplanten Arbeitsmarktreform. Doch statt sich von den Demonstranten erpressen zu lassen, halten die französischen Sozialisten an ihrem Vorhaben fest, den kümmerlichen Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Diese wertvolle Lektion sollten sich die spanischen Genossen sehr zu Herzen nehmen.“
Blockade der Reform ist Unsinn
Mit massiven Arbeitsniederlegungen wird am heutigen Donnerstag in Frankreich wieder gegen die Reform des Arbeitsrechts protestiert. Die Drohung der Gewerkschaften, das Land lahm zu legen, hält Libération für völlig übertrieben:
„Worum geht es in diesem Konflikt wirklich? Nicht um einen groß angelegten Angriff auf das Arbeitsrecht, wie manche Demonstranten behaupten. … Nein, es geht darum, dass lediglich die Verhandlungen über die Arbeitszeit im Unternehmen stattfinden sollen (nicht über die Gehälter, die Arbeitsbedingungen, die Kündigungsregelungen und so weiter). ... Ist diese Sache eine Blockade des ganzen Landes wert, wie sie die Gewerkschaft CGT möchte? Eher nicht. Käme die Reform nicht zum Tragen, hätte das einen erheblichen Nachteil: die eindeutigen Fortschritte, die sie mit sich bringt, wären hinfällig.“
Hollande kann nur verlieren
Die geplante Arbeitsmarktreform hat den Präsidenten in ein ziemliches Dilemma gebracht, konstatiert L'Opinion:
„Ein Jahr vor dem Ende seiner Amtszeit steht François Hollande vor seinem härtesten sozialen und politischen Test, denn er muss eine unmögliche Gleichung lösen: Gibt er dem Druck der Straße nach und überarbeitet seine Arbeitsmarktreform oder zieht er sie gar zurück, könnte er sich für den Rest seines Mandats entmachten. Wenn er hart bleibt, sich der Krise stellt, der Gewalt standhält, die staatliche Autorität demonstriert und auf der Rechtmäßigkeit des Gesetzes beharrt, erstickt er jegliche Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung im Keim. Wie auch immer er sich entscheidet - er muss sich bewusst machen, dass das El-Khomri-Gesetz - ob es nun verabschiedet wird oder nicht, ob es so beibehalten oder verändert wird - unnütz geworden ist. Bei dieser Entscheidung kann man nur verlieren.“
Allein Sozialliberale können Land reformieren
Angesichts der Zerstrittenheit von Konservativen und Linken sind die Sozialliberalen die einzige Hoffnung auf Veränderungen, meint die französische Interessengruppe Les Gracques in Le Temps:
„Die Sozialliberalen glauben an Frankreichs Fähigkeit, zum Wachstumskurs zurückzukehren, die Arbeitslosigkeit und die Chancenungleichheit zu reduzieren und die Lage der Ärmsten zu verbessern, ohne dem Unternehmergeist zu schaden. … Besser gesagt: Sie sind wahrscheinlich die einzige politische Kraft, die Frankreich reformieren kann und dazu sowohl die nötige Entschlossenheit, als auch die nötige Mäßigung und Legitimation mitbringt. ... Der Sozialliberalismus steht für ein inspirierendes und glaubwürdiges Gesellschaftsprojekt. Dies macht ihn zu einer echten Antwort auf die Sinnkrise, die so viele unserer Mitbürger in die Arme des politischen und religiösen Extremismus treibt.“
Zu Reformen wohl wirklich nicht in der Lage
In Frankreich steht viel mehr auf dem Spiel als nur ein neues Gesetz, mahnt De Volkskrant:
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder die Regierung hält trotz der breiten Proteste an dem Gesetz fest. Oder die Regierung gibt doch unter dem Druck der Straße nach. Vor zehn Jahren tat eine rechte Regierung das Letztere, als ein anderes Arbeitsgesetz zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ebenfalls auf großen Widerstand stieß. Eine weitere Niederlage nun für eine linke Regierung würde beweisen, dass die politische Klasse in Frankreich nicht zu solchen Reformen in der Lage ist. Damit würden sich noch mehr Menschen von der Politik abwenden - was ein Jahr vor der Wahl sowohl der Extrem-Linken als auch der Extrem-Rechten in die Hände spielt. Man kann daher nur hoffen, dass die Regierung hart bleibt, auch wenn es hier um ein wenig effektives Gesetz geht.“
Außer Langeweile und Randale nichts gewesen
François Hollande hat in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1 wissen lassen, dass er in Sachen Arbeitsmarktreform nicht nachgeben werde. Warum auch, fragt Les Echos:
„Wem gegenüber soll er nachgeben? Gegenüber ein paar hundert Personen, die sich auf der Place de la République in Paris ihre Langweile vertreiben? Gegenüber ein paar tausend Berufsdemonstranten, denen es nicht gelingt, eine umfassende Mobilisierung gegen ein Gesetz in Gang zu bringen, das alles andere als revolutionär ist? … Die Reform von [Arbeitsministerin] El Khomri entspricht eher kleinen Schritten als einem großen sozialen Durchbruch. Die Demonstrationen sind Anarchisten und Randalierern ausgeliefert und haben oft nichts mehr mit den Protesten gegen die Arbeitsmarktreform zu tun.“
Parteien nicht für Neuwahl bereit
Dass die Regierung durch die Opposition und Kritiker in den eigenen Reihen gestürzt wird, bezweifelt bezweifelt Ouest-France:
„Wie viele linke Politiker sind zu diesem kollektiven Selbstmord bereit? Gewillt, die Sozialistische Partei zu verlassen und sich [dem Chef der Linkspartei] Jean-Luc Mélenchon anzuschließen? Wie viele akzeptieren es, die Verantwortung für eine Parlamentsauflösung zu übernehmen? In der Konsequenz müssten sie den Rechten und dem Front National das Feld überlassen und Nicolas Sarkozy als Premier gutheißen. Wie viele aus den Reihen der Rechten sind angesichts der ungenügenden Vorbereitung seitens der Republikaner willens, einem Misstrauensantrag zuzustimmen? ... In der Praxis wird die Bildung einer neuen Regierung wohl am fehlenden Mut der Politiker und der dazu erforderlichen Kohärenz scheitern.“
Nicht am Volk vorbei regieren
Die Arbeitsmarktreform mit einem Verfassungstrick durchzudrücken, ist nach Ansicht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der falsche Weg:
„Dass sich französische Regierungen seit 1958 mehr als 80 Mal so über ihre Volksvertreter hinweggesetzt haben, macht es nicht besser. Wer diesen Würgegriff anwenden muss, gesteht seine Schwäche ein. Die Regierung ist mit ihrem Versuch gescheitert, nicht nur die Abgeordneten von ihrer Reform zu überzeugen, sondern auch die Öffentlichkeit. ... Dabei ist eine Arbeitsmarktreform in Frankreich dringender denn je. Gerade junge Menschen bleiben Außenseiter des Arbeitsmarktes, weil scharfer Kündigungsschutz und hohe Abfindungen die Schaffung neuer Stellen verhindern. Gleichzeitig schnüren eine streng reglementierte Arbeitszeit und Lohnsteigerungen oberhalb der Produktivität die Unternehmen ein. Dennoch: Eine Regierung darf nicht am Volk vorbeiregieren. Sie muss die Bürger durch ein stimmiges Programm gewinnen. Das hat Hollande versäumt.“
Adäquater Schutz vor Dominanz der Minderheit
Als mitunter unvermeidbaren Sonderweg betrachtet Les Echos das Vorgehen:
„Artikel 49,3 der Verfassung ist ein angemessenes demokratisches Instrument. Er ermöglicht es einer Regierung, Blockaden durch eine Minderheit zu verhindern. Zu allen Zeiten lassen sich linke wie rechte Widerständler finden, die versuchen, mehr zu erreichen als ihrem politischen Gewicht entspricht. Gerne würden sie diesen Verfassungsartikel als fehlerhaften Auswuchs der Demokratie darstellen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Artikel schützt die Demokratie gegenüber einer Minderheit, die entscheiden will. Und wenn das Prozedere brutal erscheint, liegt das an unserer politischen Geschichte, die vom Stillstand der Vierten Republik [1946-1958] geprägt wurde.“
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