Wird die Türkei zur Diktatur?
Nach den Verhaftungen und Suspendierungen mutmaßlicher Putschisten vor allem in der Armee und im Bildungssystem, geht die türkische Regierung nun gegen Medien und Journalisten vor. Die Gülen-Bewegung bietet eine ideale Angriffsfläche für Erdoğan, mit der er seine Macht uneingeschränkt ausbauen kann, meinen Kommentatoren.
Erdoğan hat sich perfekten Feind ausgesucht
Erdoğan weiß genau, warum er die Gülen-Bewegung als Feind auserkoren hat, erklärt La Tribune de Genève:
„Die Laizisten haben wenig Empathie für diese islamistische Bewegung, die wieder religiöse Werte in den Institutionen der Republik verankert und dank einer Vielzahl von Privatschulen ihre Ideologie bereits den Jüngsten vermittelt. ... Die Kurden wiederum haben nicht vergessen, dass die der Hizmet-Bewegung nahestehenden Richter vor einigen Jahren die geheimen [Friedens]verhandlungen enthüllt haben, die Erdoğan mit der PKK begonnen hatte. Was schließlich zum Bruch zwischen dem Herrscher von Ankara und dem Sufi-Führer geführt hat. Die Anhänger des türkischen Präsidenten sind diesem natürlich treu. Und selbst Durchschnittstürken ohne ideologische Zugehörigkeit misstrauen diesem Netzwerk und fürchten dessen Manipulationen. Kurzum, Erdoğan hat die perfekte Zielscheibe gefunden und nutzt somit ein ideales Trittbrett zur ungeteilten Macht.“
Warum sollte der Westen Erdoğan unterstützen?
In türkischen Medien wird der Vorwurf laut, dass der Westen der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch nicht genügend beistehe. Warum sollte er das tun, kontert das liberale Onlineportal T24:
„In der demokratischen Welt ist der türkische Staatspräsident Erdoğan nicht gerade als ein Führer bekannt, der der Demokratie ausreichend Respekt zollt. ... Der Grund sind seine bei jeder Gelegenheit gezeigten Einstellungen und Praktiken gegenüber der Demokratie. Die Putsch-Gefahr mag schnell überwunden gewesen sein, doch die Nachrichten darüber, wie viele Menschen entlassen wurden, verbreiteten sich sofort. ... Dazu gibt es Videos, die die Regierung selber veröffentlicht hat: von [inhaftierten] Menschen mit geschwollenen Mündern, Nasen, Armen und Beinen. Der Justizminister erklärte, dass dies keine Folter oder ähnliches sei. ... Was soll zum Beispiel jetzt Merkel tun? Was würde die deutsche Öffentlichkeit wohl sagen, wenn sie zu Besuch käme, um 'Gute Besserung' zu wünschen?“
Wir dürfen Meinungsfreiheit nicht preisgeben
Im Kampf gegen mutmaßliche Putschisten hat die türkische Regierung am Mittwochabend die Schließung von 45 Zeitungen und 16 Fernsehsendern angeordnet. Zuvor erließ die Justiz Haftbefehl gegen 47 Ex-Mitarbeiter der einst Gülen-nahen Zeitung Zaman. Ein heikles Unterfangen, unterstreicht die regierungstreue Yeni Şafak:
„Die Behauptungen der westlichen Presse, der Putsch werde als Vorwand genutzt, die Opposition systematisch zu unterdrücken, ist natürlich haltlos. Allerdings sollten die Staatsanwälte, die die Ermittlungen leiten, bei ihren Entscheidungen nicht nur eine Akte, sondern eine ganze Periode, ein Klima berücksichtigen. Sie haben eine Verantwortung gegenüber unserem Gewissen, unserem Recht, unserer Zukunft. Zwar sollten sie im Verfahren gegen die Putschisten keine Schwäche zeigen, dabei aber nicht zulassen, dass die Meinungsfreiheit zerstört und das Recht auf Opposition zu einer Bedrohung verkehrt wird.“
Ende der Gülen-Bewegung zeichnet sich ab
Erdoğans Reaktion auf den gescheiterten Putschversuch hat die Gülen-Bewegung enorm geschwächt, beobachtet die Neue Zürcher Zeitung und fragt, ob die Anhänger des islamistischen Predigers sich davon jemals wieder erholen werden:
„War der Putschversuch vom 15. Juli das letzte Aufbegehren der Gülenisten? Eine andere Geschichte ist in der Türkei kaum noch zu hören. Allenfalls einige Hardcore-Kemalisten, sagen manche, könnten mit Gülen-treuen Offizieren gegen Erdoğan paktiert haben. Ein 'letztes Zucken' nannte der Journalist Can Dündar den Umsturzversuch - schließlich standen für August die letzten Personalentscheide aus dem Hohen Militärrat an, wo man sich der verbliebenen Gülenisten wohl entledigt hätte. Die massiven 'Säuberungen' nach dem Putschversuch aber treffen die Bewegung ungleich härter. Und es ist fraglich, ob sie sich davon jemals erholen wird.“
EU muss Ankara zu Transparenz zwingen
Erdoğans Vorgehen nach dem Putschversuch ist unverhältnismäßig brutal und ein Angriff auf die Freiheit der Türken, findet der spanische Richter Baltasar Garzón und fordert in El País Konsequenzen seitens der EU:
„Wir haben kaum Informationen und müssen unbedingt herausfinden, was in diesem Land passiert, wo die Regierung keinerlei Transparenz zulässt. ... Europa muss die Türkei dazu zwingen, die Wahrheit offen zu legen. Wir müssen den Weg freimachen für eine internationale Forschungskommission, denn wir müssen der türkischen Bevölkerung helfen, ihre Freiheit und ihre Grundrechte zurückzuerobern, die schwer bedroht sind, fürchte ich. Nur eine strenge und effektive Überwachung seitens europäischer Institutionen und der Zivilgesellschaft können die Folgen dieses erschreckenden, zweiten Putsches mildern.“
Noch leben wir nicht in einer Diktatur
Die Berichterstattung in den westliche Medien nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei ist unausgewogen und Erdoğan-feindlich, ärgert sich Kolumnistin Barçın Yinanç in der liberalen Hürriyet Daily News:
„Seit dem 15. Juli scheinen westliche Medien den Fakt unterschätzt zu haben, dass die türkische Nation einen Demokratie-Test bestanden hat, indem sie einen Putschversuch stoppte. ... Ich bestreite nicht, zu denen zu gehören, die seit dem ersten Tag nach dem Putsch vor dem Risiko warnten, dass Erdoğan die Chance nutzen wird, um seine autoritäre Herrschaft zu festigen. ... Für einige europäische Journalisten und Kommentatoren ist das jedoch kein Verdacht, sondern schon Realität. Ein ausländischer Kollege schrieb mir gar 'viel Glück in dieser Diktatur'. Die Richtung in die sich die Türkei entwickelt, mag ungewiss sein, doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen und die Türkei ist noch keine Diktatur.“
Der Machtkampf eskaliert
Was sich momentan in der Türkei abspielt, ist ein brutaler Machtkampf, urteilt das liberale Onlineportal T24:
„Was wir erleben ist kein Kampf um Demokratie. Es ist ein Konflikt zwischen dem politischen Islam (AKP) und dem Sekten-Islam (die Gülen-Bewegung). Und egal welche Seite gewinnt, ihr Ergebnis wird nicht Demokratie sein. Was passiert, ist keine Demokratisierung, sondern eine Operation zur Ausschaltung der schwächeren Seite (Gülen) durch die stärkere Seite (Erdoğan) unter dem Vorwand des Putsches. ... Die Türkei wird seit ihrer Gründung von der Mehrheit der sunnitischen Türken regiert. ... Den anderen wurden Grundrechte und Freiheiten vorenthalten. Diese Situation hat sich unter der AKP-Regierung noch verschlimmert. ... Die Gülen-Bewegung war der kleinere Partner dieser verwurzelten 'Sunnitisierungs-Operation'. Sie war einer ihrer Motoren und Moderatoren. Der Konflikt brach aus, als sie übermäßig erstarkten und versuchten, der AKP die Macht aus den Händen zu entreißen.“
Türken stellen Rache vor Gerechtigkeit
Besorgt angesichts der Rachegelüste der türkischen Gesellschaft gegenüber den Putschisten zeigt sich Agos, die Wochenzeitung der armenischen Minderheit in der Türkei:
„Unklar ist, ob die festgenommenen oder verhafteten Putschisten gerechte Gerichtsverfahren durchlaufen werden oder nicht. Die Stimmung, die im Land herrscht oder geschürt wird, tendiert überwiegend dazu, diese Personen ohne Prozess aufzuhängen. Ob die Regierung die Todesstrafe wieder einführt oder nicht, weiß man noch nicht. Und selbst wenn sie eingeführt wird, kann sie nicht rückwirkend angewandt werden. Doch wir befinden uns an einem Punkt, an dem es als ganz natürlich empfunden wird, dass Fotos von Folter an Festgenommenen veröffentlicht werden. ... Die Gesellschaft tendiert zu einem Konsens, wonach diejenigen, von denen man glaubt, dass sie der Gülen-Gemeinde angehören, grenzenlose Gewalt und jede Art von Strafe auch ohne Anklage verdienen.“
Westen fallen nur mahnende Worte ein
In Folge der Ausrufung des Ausnahmezustands wird in Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise ausgesetzt. Was tun Europa und die USA? Sie beruhigen ihr Gewissen mit Mahnungen, konstatiert La Repubblica:
„In der Politik zählt das Interesse, es ist häufig Synonym für Verantwortung, während die eigenen Prinzipien in die Sphäre der Worte verbannt werden. Im Fall Türkei wird da keine Ausnahme gemacht. Sie stoppt den Flüchtlingsstrom nach Griechenland und bisher stellt niemand das Abkommen zwischen der EU und Ankara infrage. Sie ist eine tragende Säule der Nato und verfügt nach den USA über die größte Streitmacht. Ihre geografische Position macht sie zur unverzichtbaren Basis im Kampf gegen den 'Islamischen Staat'. Die demokratischen Prinzipien können Slogan bleiben, zum freien Gebrauch für Ministerpräsidenten und Außenminister. Sie wahren das Gesicht, das in internationalen Beziehungen mehr zählt als das Gewissen.“
Erdoğan steht am Scheideweg
Verständnis dafür, dass Erdoğan den Ausnahmezustand verhängt hat, zeigt die Financial Times:
„Angesichts der Brutalität der Rebellen, die Luftangriffe auf die Hauptstadt flogen und auf Zivilisten schossen, kann man den Ausnahmezustand rechtfertigen. Einige sind möglicherweise noch auf freiem Fuß. Die Frage ist nun, ob Erdoğan die Gelegenheit nutzen wird, um einen neuen nationalen Konsens zu finden und die angeschlagenen türkischen Institutionen wieder aufzubauen, oder ob er die Repressionen verstärkt und seinen Weg zu einer ausgewachsenen Autokratie weiter verfolgt. ... Die Krise gibt Erdoğan die Möglichkeit, zum moderaten Stil seiner frühen Jahre als Premierminister zurückzukehren, als die türkische Gesellschaft in einer Atmosphäre größerer Toleranz aufblühte.“
Überrumpelungstaktik á la Putin
Ein klares Déjà-vu ist das Vorgehen des türkischen Präsidenten für die Zeitung L’Opinion:
„Die großen Partner der Türkei, allen voran die USA, wirken nun wie gelähmt. Dies liegt vor allem daran, dass Präsident Erdoğan schnell und skrupellos handelt. Wie Wladimir Putin macht er sich die Umstände zunutze: Er stellt nach einem Putschversuch die Ordnung wieder her, verwendet Erpressung schamlos als Waffe, setzt auf den Überraschungseffekt und zwingt der festgefahrenen westlichen Diplomatie sein Tempo auf. Wie der russische Präsident profitiert er von der Größe seines Landes und seiner unverzichtbaren Rolle, um seine eigenen Regeln zu erlassen. Wie Russland wird die Türkei zu einem Nachbarn, den Europa sich gerne erspart hätte.“
Frontalangriff gegen den säkularen Staat
Europa darf sich keine Illusionen mehr über den türkischen Präsidenten Erdoğan machen, warnt die Pravda:
„Beobachter, die Erdoğan eine 'Hexenjagd' vorwerfen, haben noch nicht begriffen, worum es geht. Eine Hexenjagd ist das Synonym einer sinnlosen Verfolgung selbst ausgedachter Feinde. Die Repressalien Erdoğans sind ein zielgerichteter und keineswegs improvisierter Frontalangriff gegen den modernen säkularen türkischen Staat. Schon vor dem Putschversuch zeichnete sich ein gefährlicher Trend ab. Die Säuberungen und die Rufe nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe haben diesen Trend nur verschärft. Erdoğans Putsch ist aber gefährlich real und erfolgreich. Die Internationale Gemeinschaft sollte nicht zögern und den türkischen Präsidenten und sein Regime in Quarantäne stecken. Je länger wir damit warten, desto schlimmer wird es für die Türkei und womöglich am Ende auch für uns.“
Opposition kämpft um ihr Überleben
Die Oppositionsparteien in der Türkei sind nach dem gescheiterten Putschversuch in starker Bedrängnis, zeigt sich Der Standard besorgt:
„Der ungewöhnliche Parteienkonsens, der sich gegen den Putsch artikuliert hat, bricht jetzt unter dem Eindruck der enormen 'Säuberungswelle' wieder auseinander. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, ebenso wie die prokurdische Minderheitenpartei HDP lehnen die Wiedereinführung der Todesstrafe ab. Sie wollen die Türkei in Europa halten. In Wahrheit kämpft die Opposition nun auch um ihr Überleben. Gerichtsverfahren gegen führende Parlamentarier der Opposition waren schon vor dem Putsch eingeleitet worden. Die Ausschaltung der Kurdenpartei ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Sozialdemokraten bäumen sich auf. Sie haben für Sonntag eine Kundgebung auf dem Istanbuler Taksim-Platz angekündigt. Den hat das Erdoğan-Volk in der Hand. Ein Bürgerkrieg ist nun das schlimmste Szenario.“
Erdoğan will Volk dummer Gefolgsleute
Die Repressionen gegenüber Gelehrten in der Türkei lassen vermuten, dass Erdoğan den Widerstand der Intelligenz brechen will, um sich ein dummes Volk von Gefolgsleuten zu schaffen, schreibt Duma:
„Etwas ähnliches haben die Roten Khmer in Kambodscha gemacht, als sie alle Brillenträger im Land abschlachteten nach der Logik: Wer nicht gut sieht, liest zu viel und wer zu viel liest, weiß zu viel und wer zu viel weiß, wird gefährlich für das Regime. Hoffentlich kommt Erdoğan nicht auf ähnliche Gedanken, aber wer weiß. … Wie es aussieht, kann keine Kritik aus dem Ausland den wütenden türkischen Präsidenten besänftigen. Ihn interessiert weder die EU noch die Beziehungen zu den USA. … Doch scheinbar hat Erdoğan im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst oder er hatte schlechte Lehrer. ... Hätte er nämlich besser aufgepasst, würde er wissen, dass Diktatoren kein langes Leben haben.“
Erdoğans Schwarze Liste stand längst fest
Erdoğans blitzschnelle Abrechnung mit großen Teilen des Justiz-, Polizei- und Militärapparates in Folge des Putschversuchs deutet darauf hin, dass sie von langer Hand vorbereitet war, meint der Politologe Zoltán Lakner in der Zeitung Népszabadság:
„Wenige Tage nach dem gescheiterten Putsch liegt die Zahl derjenigen Personen in der Türkei, die verhaftet worden sind, bei mehr als 6.000. Knapp 8.000 Polizisten wurden entlassen. Mehr noch, es wurden fast 3.000 Richter und Staatsanwälte in Gewahrsam genommen. Das rasende Staatsoberhaupt und seine Gefolgsleute sieben nun ohne größere Ermittlungen all Jene aus, die ihnen im Weg stehen. Der Vorwand lautet in allen Fällen gleich: Die Betroffenen könnten mit den Putschisten Kontakt gehabt haben. ... Die Vergeltung Erdoğans läuft dieser Tage derart geschmiert, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die 'Schwarze Liste' sei schon vor langer Zeit erstellt worden. Man habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.“
Arabisierung der Türkei in vollem Gange
Die Türkei wird den arabischen Staaten immer ähnlicher, analysiert der US-amerikanische Militärstratege Edward Luttwak im Corriere del Ticino:
„Vorherzusagen was nun geschieht, ist leider furchtbar einfach. Der gescheiterte Staatsstreich und die laufenden willkürlichen Verhaftungen werden viele der gut ausgebildeten Türken veranlassen zu emigrieren, statt in einem Staat zu bleiben, der sich immer mehr islamisiert und immer repressiver wird. Zudem wird Erdoğan den Krieg gegen die Kurden suchen. ... Da die Kurden die östlichen Provinzen besiedeln, die an die von irakischen und syrischen Kurden beherrschten Gebiete grenzen, könnte die Folge der Separatismus und das Auseinanderbrechen des türkischen Territoriums sein. Sollte es außerdem zu einem weiteren Putsch kommen, wird man Erdoğan direkt an den Kragen gehen, statt unnütze Straßenblockaden an Brücken zu errichten. Das bedeutet, dass der Präsident auf seine Weise sehr erfolgreich ist: sein Hauptanliegen ist schließlich, die Türkei zu arabisieren. Sie wird mit jedem Tag dem Irak und Syrien ähnlicher.“
Erdoğan führt sein Land in die Sackgasse
Die politische Polarisierung und Konzentration der Macht stärkt Erdoğan, schadet aber der Türkei, meint der griechische Ex-Bildungsminister Konstantinos Arvanitopoulos in Ta Nea:
„Somit isoliert sich das Land in Europa, die türkische Gesellschaft wird gespalten, und man schafft chaotische Bedingungen für die Zeit nach Erdoğan. Die ständige Instabilität wird die Wirtschaftseinnahmen schrumpfen lassen. ... Die Türkei hat sich vom Westen entfremdet, hat ihre strategischen Beziehungen zu Israel und ihre privilegierten Beziehungen zu Russland abgebrochen. Diese geopolitische Schwächung in Verbindung mit der ständigen Schwächung der Streitkräfte waren die Hauptgründe des Militärputsches. Die diplomatischen Sackgassen haben Erdoğan zur einer Normalisierung der Beziehungen mit Russland, Israel und den USA geführt. Diese Normalisierung konnte aber nicht das Misstrauen seiner Gesprächspartner gegenüber seiner wahren Agenda beseitigen, die in ihrem Kern eine islamistische ist.“
Der wahre Putschist ist Erdoğan
Die massive Verhaftungswelle, die dem misslungenen Putsch folgte, lässt den Journalisten Rimvydas Valatka auf Delfi erschauern:
„Das einstige Vorbild für Demokratie in der islamischen Welt, die Türkei, verabschiedet sich von Europa und der Demokratie. Statt den Generälen, die nach dem Vorbild Atatürks erzogen wurden, sehen wir einen selbstverliebten, rachsüchtigen, islamistischen Kalifen. ... Wieso haben alle EU-Führer der Türkei dazu gratuliert, die Demokratie vor den Soldaten verteidigt zu haben? Die 'Verteidiger der Demokratie', die mit Messern wehrlose Soldaten köpften? Nach solchen Siegen der 'Demokraten' bleibt einem das Wort 'Terrorist' in der Kehle stecken. Erdoğan hat schon 3.000 Richter entlassen. Das erinnert an Säuberungen in der Sowjetunion 1937. Wozu? Was verbindet Richter und Soldaten? Nichts. Die Attacke gegen die Richter beweist, dass die Türkei zur Diktatur wird, in der die Richter die Befehle der Regierung ausfüllen sollen. Ist das nicht der wahre Putsch?“
Wer soll öffentliche Ordnung aufrechterhalten?
Nach der Entlassungs- und Verhaftungswelle in Militär und Justiz fragt sich Milliyet, ob der Staat überhaupt weiter funktionieren kann:
„Es scheint, als haben die türkischen Streitkräfte den verheerendsten Schlag abbekommen, insbesondere in Bezug auf Moral und Ruf. Schon die nötigsten Militärübungen werden von nun an den Verdacht eines Putschs erwecken. ... Wie werden die gestörten Streitkräfte, die viel Personal verloren haben, mit dieser Moral den Kampf im Südosten [gegen die PKK] führen? Können sie das überhaupt? ... Auf der anderen Seite wird die Entlassung von 7.000 Polizisten und 3.000 Mitgliedern der Justiz diese Institutionen zweifellos schwächen. Es wird Schwierigkeiten geben, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. In der Justiz werden sich die Fälle stapeln. Besonders in den Streitkräften und in der Justiz wird es Jahre dauern, einen Nachwuchs heranzuziehen, der die Reihen füllt.“
Auch die Macht von Autokraten währt nicht ewig
Erdoğan dürfte nach dem gescheiterten Putsch das Ziel verfolgen, eine Autokratie zu errichten, doch er muss sich vorsehen, warnt die Tageszeitung Népszava:
„Die Türkei ist seit Langem keine echte Demokratie mehr. Gleichwohl hat Erdoğan Kritik aus dem Ausland nicht sonderlich zu fürchten. Für die USA ist die Türkei ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, aus Sicht der EU wiederum ist das Land ein unerlässlicher Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise. Mit dem Putsch wurde das letzte Hindernis für Erdoğan beiseite geräumt, um sich seinen großen Traum zu erfüllen: die Einführung einer Präsidialrepublik, um wie einst Muammar al-Gaddafi in Libyen und Saddam Hussein im Irak über sein Volk zu herrschen. ... Die Geschichte lehrt uns indes, dass die Macht von Autokraten nicht ewig währt. Der Machthabende erleidet Realitätsverlust. ... Der türkische Sultan sollte sich dies vor Augen halten.“
Schlägertrupps verteidigten die Regierung
Mit ihrem Widerstand gegen die Panzer haben sich die Türken mitnichten zu demokratischen Grundprinzipien bekannt, warnt der Deutschlandfunk:
„Was auf den ersten Blick wie ein mutiger Widerstand von Demokraten aussah, entpuppte sich als eine Masse von Schlägertrupps, die bereit waren, für ihren Führer Erdoğan zu töten und, wenn es sein muss, zu sterben. Sie töteten Soldaten, urinierten vor laufenden Kameras auf ihre Leichname, und ganz in Manier des barbarischen IS enthaupteten sie sogar einen Soldaten. ... Erdoğans Gefolgschaft stürmte auf die Straßen, skandierte lauthals Allah-u Akbar, zeigte den Gruß der Islamisten und Faschisten. In Istanbul zogen sie durch Stadtteile, wo Aleviten leben und durch Viertel, wo junge Menschen in Cafés und Bars Alkohol trinken. Dieser Putschversuch, von wem und warum auch immer er organisiert wurde, hat ein klares Ergebnis hervorgebracht: Er verhalf Erdoğan zur Zementierung seiner Macht und zur Stärkung des Selbstbewusstseins seiner islamistischen Anhänger.“
Erdoğan kleineres Übel als die Junta
Obwohl kein Fan der Erdoğan-Regierung, zeigt sich Kolumnist Yusuf Kanlı in der liberalen Hürriyet Daily News erleichtert, dass der Putschversuch in der Türkei gescheitert ist:
„Die schlechteste zivile Regierung ist besser als eine Putsch-Verwaltung. ... Die Regierung ist eine gewählte und muss an der Wahlurne ausgetauscht werden. Die Türkei sollte das dieses Mal zustande bringen. ... So seltsam und paradox es auch erscheint, die Erdoğan-Regierung wurde von den türkischen Medien gerettet, die sie in den letzten 14 Jahren so heftig attackierte. Hätten sich Sender wie CNN Türk, NTV und andere nicht den Putsch-Befehlen widersetzt, nicht ihre Sendungen fortgesetzt und Erdoğan und seinem Kabinett eine Plattform geboten, die Massen zu erreichen um sie aufzufordern, auf die Straßen zu gehen, wäre der Putsch höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen und statt der Junta und ihren Männern würden jetzt andere im Gefängnis sitzen.“
Opposition ist noch aktiv
Der Widerstand gegen Präsident Erdoğan ist auch nach dem vereitelten Putschversuch nicht vollständig verschwunden, zeigt sich der Journalist und Dichter Jean-Noël Cuénod auf seinem Blog bei Mediapart zuversichtlich:
„Erdoğan ist durch den Zuspruch an den Wahlurnen sowie auf der Straße gestärkt. Er wird nicht zögern, bei der Sultanisierung der Türkei aufs Gaspedal zu treten und das abzubauen, was in den Institutionen noch von der Laizität übrig ist. ... Die Türkei der Städte verfügt über eine Mittelschicht, der Glaubensfreiheit weiterhin wichtig ist. Die Medien werden zwar von der Regierung zurechtgewiesen, doch stehen den Türken die sozialen Netzwerke und ihre Verbindungen zum Ausland zur Verfügung, um sich zu informieren und auszutauschen. Die Reaktion eines Teils der Armee gegen das Demokratur-Regime Erdoğans zeigt, dass die Opposition noch nicht vollständig ausgerottet ist. Auch wenn sie durch den gescheiterten Putschversuch stark geschwächt ist.“
Putschisten waren zu ungeduldig
Die Putschisten in der Türkei sind dem falschen Beispiel gefolgt, schreibt Cyprus Mail:
„Die Anführer der Putschisten machten denselben Fehler wie die ägyptischen Liberalen, als sie 2013 die Armee baten, dort den gewählten Präsidenten zu stürzen. Ägypten hatte einen Präsidenten, den die Bürger fürchteten und hassten. Sie hatten aber auch eine Demokratie, die ein friedliches Mittel vorsah, um ihn zu vertreiben. Erdoğans Popularität wäre mit der Zeit geschrumpft. Die türkische Wirtschaft stagniert, seine Syrien-Politik ist eine Katastrophe, und die offenkundige Korruption der Leute um ihn herum ist immer schwerer zu ignorieren. Früher oder später hätte er eine Wahl verloren. Aber wie die ägyptischen Liberalen hatten die Offiziere, die den türkischen Coup führten, nicht genug Vertrauen in die Demokratie, um abzuwarten.“
Drift in Richtung Autoritarismus stoppen
Erdoğan sollte nun die Demokratie stärken und das Land einen, appelliert El País:
„Jetzt, wo die größten Spannungen abgeklungen sind und wir einige bedauerliche Szenen von Lynchjustiz an aufständischen Soldaten mitansehen mussten, ist es wichtiger denn je, dass allein die Justiz, in aller Unabhängigkeit, gegen die Aufständischen und ihre Unterstützer ermittelt. Doch die Absetzung am Tag nach dem Putsch von tausenden Richtern und Staatsanwälten und die Verhaftung von zehn Richtern des Obersten Gerichtshofs macht uns Sorge. Das könnte die an sich schon zweifelhafte Gewaltenteilung noch mehr schwächen, die ohnehin schon von Erdoğans permanentem Drift in Richtung Autoritarismus unterwandert wird. Der gescheiterte Putsch sollte die Demokratie und den Rechtsstaat stärken und das Land einen, angesichts der großen Herausforderungen, vor denen es steht. Und es nicht noch mehr polarisieren.“