Ungarn nach dem Flüchtlingsreferendum
Einen Monat nach dem Referendum über die Verteilung von Flüchtlingen spielen diese im öffentlichen Diskurs kaum noch eine Rolle. In Ungarn stimmten am 2. Oktober 98 Prozent gegen eine EU-Quotenregelung bei der Verteilung von Flüchtlingen. Allerdings nahmen nur 44 Prozent der Wahlberechtigten teil, nötig wären mehr als 50 Prozent gewesen. Ist Orbán mit dem Flüchtlingsreferendum gescheitert?
Flüchtlinge sind auf einmal kein Thema mehr
Flüchtlinge sind aus öffentlichen Diskurs in Ungarn nach dem 2. Oktober plötzlich verschwunden, kommentiert Zsolt Gréczy auf seinem Blog:
„Es ist wohl auch schon anderen aufgefallen, dass seit dem Scheitern des Orbánschen Referendums die Migranten schlagartig verschwunden sind. Man sieht sie nicht in fingierten Berichten des staatlichen Fernsehens, wo sie an der Grenze ungeduldig und aggressiv Einlass finden wollen. Auch wollen sie plötzlich nicht mehr unsere Töchter und Frauen vergewaltigen. Mehr noch, sie wollen uns aus unerklärlichen Gründen auch nicht mehr die Arbeit und unsere Kultur wegnehmen. Irgendwie ist es um die Flüchtlinge allzu still geworden. Seit Orbán mit seinem millionenschweren Referendum gescheitert ist, ist alle Panikstimmung wie verpufft. Sonderbar!“
Die Zeit für den Premier läuft ab
Als den Anfang vom politischen Ende Viktor Orbáns sieht der Politologe Valentin Naumescu das Referendum auf dem Onlineportal Contributors:
„Orbáns Uhr als Regierungschef tickt. Schon jetzt fordert man seinen Rücktritt wegen des gescheiterten Referendums. … Natürlich wird Orbán deshalb noch nicht gehen, doch ist das alles eben nur der Anfang. 2002 (als Orbán die Wahl verlor) lag die Wahlbeteiligung in Ungarn bei 70,52 Prozent. … 2014 lag sie bei 61,84 Prozent. Jetzt sind sogar nur 40 Prozent zu den Wahlurnen gegangen. Auch das ist ein Zeichen dafür, wie ernst die Bürger die Initiativen Orbáns nehmen. Der Misserfolg vom 2. Oktober wird interne Kritik gegen ihn auslösen (vielleicht sogar innerhalb seiner eigenen Partei) und der Anfang seines politischen Abstiegs sein. Der Wunsch nach zu viel Popularität verdirbt und wird zum Bumerang für denjenigen, der nach Prozenten jagt.“
Es fehlt die politische Konkurrenz
Anders sieht das Journalistin Eva Galambos und erklärt auf Adevărul:
„Auch wenn es Meinungen gibt, die im Misserfolg den Anfang vom Fall des Premiers sehen, wäre ich mir da nicht so sicher. Orbán hat immer wieder Einfallsreichtum bewiesen, Parolen und populistische Maßnahmen zu finden, die bei einem Gutteil der Bevölkerung ankamen. Ich glaube nicht, dass er mit seinem Latein am Ende ist. Damit die Parlamentswahl [im Frühjahr 2018] einen anderen Ausgang nimmt als erwartet, braucht es eine Wiederbelebung der Linken, den Willen, gemeinsam Front zu machen und eine Plattform zu gründen, die mindestens so glaubwürdig scheint wie die Fidesz-Partei, wenn nicht gar glaubwürdiger. Nur leider sehe ich niemanden, der das machen könnte.“
Ungarn durchschauen Propaganda
Orbáns Flüchtlingsparanoia scheint an ihre Grenzen zu stoßen, urteilt Novi list:
„Offensichtlich ist die Mehrheit der 8,3 Millionen ungarischer Wähler nicht auf die göbbelsartige Propaganda hereingefallen. Denn die 2.000 Flüchtlinge, die Ungarn gemäß der vereinbarten EU-Quoten übernehmen müsste, könnten nur schwerlich irgendwem irgendeinen wünschenswerten Job streitig machen. Vielleicht haben sich auch einige vernünftige Ungarn gefragt, warum Orbán 40 Millionen Euro für sinnlose Botschaften und ein Referendum verschwendet hat, dass ohnehin keine juristische Wirksamkeit hat. Mit diesem Geld hätten genügend neue Arbeitsplätze geschaffen werden können - für die Flüchtlinge und für diejenigen, die Angst haben, dass sie wegen der Flüchtlinge ihre jetzige Arbeit verlieren.“
Premier sitzt weiter fest im Sattel
Warum Premier Viktor Orbán zufrieden sein kann, obwohl das Quorum nicht erreicht wurde, erklärt Právo:
„Orbán sieht die Zeit gekommen, die Verfassung zu ändern und Brüssel den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen. Auch die ungarische Opposition will sich den Sieg nicht nehmen lassen, sekundiert von Brüssel, wo man von einem herrlichen Erfolg des 'passiven Widerstands' gegen Orbán spricht. ... Auch wenn der Premier nicht die Mehrheit bekam - wenn er die Unterstützung von drei Vierteln derer behält, die jetzt für ihn stimmten, muss er die nächsten Wahlen nicht fürchten. Zudem war seine Minderheit beim Referendum sehr viel größer als die 'Mehrheit', die die Abgeordneten des Europaparlamentes wählte. Und gegen die Quoten stimmten auch mehr Wähler als vor 13 Jahren für den Beitritt Ungarns zur EU.“
Orbáns Saat ist aufgegangen
Mit seinem Referendum mag Orbán gescheitert sein, der EU-Flüchtlingspolitik hat er jedoch im vergangenen Jahr seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt, analysiert Der Standard:
„Der ungarische Premier ... war ... damals der Erste, der vehement auf strikte 'Abwehrmaßnahmen' an der EU-Außengrenze zu Serbien drängte; der beim EU-Gipfel im Juni 2015 im Kreis der Regierungschefs unverblümt ankündigte, dass er einen hohen Zaun bauen werde, um die Flüchtlinge auf der Balkanroute zu stoppen. ... Viktor Orbáns Saat, dass es vor allem um Abwehr der Fremden gehe, nicht um Integration, ist aufgegangen. Er hat allen seinen Stempel aufgedrückt. Ohne Zweifel ist das Referendum für ihn eine innenpolitische Niederlage. Aber man soll sich nicht täuschen: Die EU-Politik ist inzwischen und vorläufig ganz auf Abwehr von Migranten ausgerichtet, nicht auf Aufnahme – zulasten der Flüchtlinge.“
Hass wird nicht verpuffen
Der von der ungarischen Regierung aufgepeitschte Hass wird wohl auch nach dem Referendum andauern, fürchtet Mandiner:
„In breiten Bevölkerungsschichten greift tatsächlich eine Weltuntergangsstimmung um sich. Viele Menschen haben wirklich geglaubt, dass das Schicksal des Landes, ja ganz Europas von dem Referendum abhängig sei. ... Die Menschen sind von der Regierung in extremer Weise aufgestachelt worden, was letztlich kein gutes Ende haben wird. ... Leider müssen wir feststellen, dass die Hetze gegen die 'Migranten' nur der vorläufige Höhepunkt ist. Seit vielen Jahren schon schlägt in Ungarn lebenden Ausländern der Hass der Mehrheitsgesellschaft entgegen, ganz zu schweigen von der allseits verhassten Minderheit der Roma. ... Es ist ausgeschlossen, dass der kumulierte Hass der vergangenen Wochen nach dem Referendum einfach so verpuffen wird.“