Wie blickt Europa auf die deutsche Wahl?
In weniger als vier Wochen entscheiden die Wähler in Deutschland mit der Bundestagswahl darüber, ob Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Europas Presse sieht Merkel und die CDU auf der Siegesspur, geht aber nicht davon aus, dass die Verhältnisse im Parlament es ihr leicht machen werden.
Jamaika-Koalition ante portas
Merkel wird wohl eine schwarz-gelb-grüne Koalition eingehen müssen, analysiert die Wochenzeitung 168 óra:
„Die Mehrheit geht davon aus, dass CDU und CSU eine Koalition mit der FDP eingehen werden. Die Unionsparteien regierten von Adenauer bis Kohl über mehrere Legislaturperioden mit den Liberalen. Die FDP wird den Sprung in den Bundestag wieder schaffen, doch wird ihr voraussichtliches Wahlergebnis von acht bis neun Prozent für eine Mehrheit zu wenig sein. Mithin werden die Unionsparteien einen weiteren Koalitionspartner benötigen, wobei die Grünen, die laut Prognosen sieben bis acht Prozent erlangen werden, wohl die besten Karten haben. Damit käme es in Deutschland zum ersten Mal zu einer sogenannten Jamaika-Koalition.“
Merkels Flüchtlingspolitik stärkte die AfD
Größte Nutznießerin von Merkels Flüchtlingspolitik war die AfD, erklärt die Deutschland-Korrespondentin von 24 Chasa, Kapka Todorowa:
„Die sich zu Beginn der Flüchtlingskrise im Untergang befindende euroskeptische Partei AfD sah in der Flüchtlingskrise ihre große Chance und verwandelte sich von einer Partei, die ursprünglich gegen den Euro war, in eine Partei gegen Flüchtlinge und Ausländer. Während sich viele Deutsche beklagten, dass jeder, der Merkels Flüchtlingspolitik kritisierte, sofort als Populist abgestempelt wurde, avancierte die AfD zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die in den neuen Bundesländern bis zu 20 Prozent erreicht und bei der Bundestagswahl dritt- oder sogar zweitstärkste Kraft werden könnte. Je näher die Wahlen rücken, desto mehr vollzieht Merkel darum eine Kehrtwende. Von der Flüchtlingskanzlerin wird sie allmählich zur Abschiebekanzlerin.“
Bei Merkel bekommt alles einen Sinn
Auf ihrer Sommerpressekonferenz hat die Bundeskanzlerin einmal mehr bewiesen, warum sie die Wahl aller Voraussicht nach gewinnen wird, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Angela Merkel wird nach menschlichem Ermessen auch nach der Bundestagswahl am 24. September Bundeskanzlerin sein. Der Hauptgrund ist die simple Tatsache, dass es Deutschland so gut geht wie nie, besonders in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Doch bedeutend ist auch Merkels famose Gabe, den Dingen einen Sinn zu geben, selbst dann, wenn sie gar nicht zusammenpassen. Wie beruhigend ist es doch, eine Landesmutter zu haben, die stets Ordnung und Verlässlichkeit in eine Welt bringt, die eigentlich so verstörend unfassbar ist.“
Flüchtlingspolitik ist Schwachstelle der Kanzlerin
Die Sozialdemokraten tun sich im Wahlkampf schwer, dabei ist die Kanzlerin gerade in der Flüchtlingspolitik durchaus angreifbar, findet der Deutschlandfunk:
„Eine Regierungschefin, die seit 2005 im Amt ist und zwölf Jahre später in Fragen der illegalen Zuwanderung die Notwendigkeit der Solidarität mit Italien und Griechenland betont, hat in Vorjahren diesbezüglich offenbar schwerwiegende Fehler gemacht. Noch durchsichtiger aber ist der Versuch, wenige Wochen vor der Wahl den Eindruck zu erwecken, mit Blick auf die Mittelmeerroute sei man durch verstärkte Kooperation mit Ländern wie Libyen auf gutem Wege. ... Die Absicht, Asylprüfungen schon auf nordafrikanischem Boden durchzuführen, steht auf mehr als tönernen Füssen. Legale Zuwanderungswege werden in Aussicht gestellt. Wie, von wem, für wen, woher und wohin? Alles ungeklärt.“
Schulz sollte die Samthandschuhe ausziehen
Financial Times fragt sich, weshalb SPD-Kanzlerkandidat Schulz die Schwachstellen von Merkel und der CDU nicht besser ausnutzt:
„Martin Schulz hat die Kanzlerin nicht mit harten Fragen zum Thema Flüchtlinge und Integration konfrontiert. ... Auch beim Thema Kriminalität hat er es versäumt, sie in die Enge zu treiben. Die Zahl der Einbrüche ist unter Merkel landesweit gestiegen - trotz des Images der CDU als Partei für Recht und Ordnung und ihrer entsprechenden Rhetorik. Auch aus dem Dieselskandal konnte Schulz bisher keinen politischen Nutzen ziehen. Dabei sind auch SPD-Wähler betroffen, die ältere Autos fahren. Alle drei Themen könnten doch eigentlich unter dem Banner der sozialen Gerechtigkeit politisch ausgeschlachtet werden.“
Warum die Kanzlerin bei den Jungen punktet
Merkels unaufgeregter Stil eines konsensualen Verwaltens kommt bei jungen Deutschen gut an, meint The Daily Telegraph:
„SPD-Chef Martin Schulz machte das Thema soziale Gerechtigkeit zum Kern seiner Strategie. Das ist zweifelsohne ein sicherer Boden für die SPD, aber nicht gerade ein wirkungsvoller Lockruf für die Jungen in einem Land, das im Vergleich zu anderen relativ integrativ ist und eine gute Ausbildung und gute Aussichten bietet. Merkel wiederum wirkt auf die Jungen verwalterisch und wirtschaftlich kompetent. Entscheidend ist, dass sie die Jungen nicht vor den Kopf stößt, indem sie sich entweder für einen ungezähmten, vom Markt dominierten Kapitalismus oder eine Rückkehr zum sozialen Konservatismus im Stil der 1950er-Jahre einsetzt.“
Europa braucht Merkels starke Schultern
Svenska Dagbladet analysiert die sicherheitspolitischen Auswirkungen der Bundestagswahl:
„Für Schweden wäre ein Sieg der CDU im September sicher besser. Vor allem aus sicherheitspolitischen Gründen. Schulz hat sich im Wahlkampf als Taube positioniert, als er versprach, bei einem SPD-Sieg nicht das Zwei-Prozent-Ziel der Nato einzuhalten. Mit einem aggressiven Russland und den USA, die sich aus der Welt zurückziehen, wird ein militärisch starkes Deutschland ein Garant für Stabilität in Europa. Das meiste deutet daraufhin, dass Schulz im September verliert. Die große Frage ist vielmehr, wer Merkels Rolle schultern soll, wenn sie dann einmal von der politischen Bühne abtritt.“
Deutsche fühlen sich gut mit "Mutti"
Die Bundestagswahl in Deutschland ist im Prinzip schon entschieden, glaubt Hospodářské noviny:
„Wenn Angela Merkel in den Augen der Wähler kein grundsätzlicher Fehler mehr unterläuft, wird sie problemlos wiedergewählt werden. Die Umfragen geben ihrer Partei satte 15 Prozent Vorsprung vor den Sozialdemokraten. Egal, welches Thema deren Chef Martin Schulz auftischt, sei es ein zu hoher Beitrag für die Verteidigung, ein nichtadäquater Umgang mit der Integration der Flüchtlinge oder zu geringe Rentensteigerungen. Die Deutschen sind mit Merkel zufrieden, getreu deren Wahlkampfmotto: 'Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben'. ... Die Deutschen, wohl auch weil sie sehen, was der Brexit oder ein Donald Trump bringen, bleiben lieber bei dem, was sie haben. Bei ihrer 'Mutti'.“
Stoff für Streit ist genug da
Zum Start des Wahlkampfs in Deutschland identifiziert Dagens Nyheter zahlreiche Probleme im Land:
„Deutschland spart zu viel und investiert zu wenig. Kein reiches Land gibt so wenig für die Infrastruktur aus. Die Dienstleistungsbranche ist noch immer von zu vielen Regeln belastet. Die Integration von mehr als einer Million Flüchtlingen, die in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland kamen, ist eine gigantische Herausforderung. Die Verteidigungsausgaben liegen auf einem lächerlichen Niveau. Die Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten Frankreichs ist eine Chance, die EU wieder in Schwung zu bringen. Aber seine Zielsetzungen unterscheiden sich von denen Deutschlands. Eine verstärkte gemeinsame Finanzpolitik ist nur schwer zu verkaufen und kein Deutscher möchte für Eurobonds bürgen.“
Gesellschaftlicher Konsens ist kein Schaden
Der verbreiteten Klage, dass im deutschen Wahlkampf zu wenig gestritten wird, kann die Frankfurter Allgemeine Zeitung wenig abgewinnen:
„Es ist doch eine große zivilisatorische Errungenschaft, wenn sich eine Gesellschaft in wesentlichen Fragen einig ist und sich nicht dauernd bekriegt. Schon gar nicht mit Gewalt - aber selbst das ist in zahlreichen Ländern keine Selbstverständlichkeit. Ist es nicht auch aus Sicht derer, die mehr Streit vermissen, nicht ein Gewinn für alle, dass nicht jede gesellschaftliche Debatte dazu führt, dass das öffentliche Leben lahmgelegt wird? Und ist es nicht positiv, dass die Gewaltorgie anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg auf fast einhellige Ablehnung auch bei jenen stieß, die generell etwas gegen solche Treffen haben? ... Ein gewisser Grundkonsens in der politischen Landschaft ist also durchaus kein Schaden.“