Verhindert Massenprotest Macrons Reformpläne?
Hunderttausende haben am Dienstag landesweit gegen die geplante Arbeitsmarktreform von Frankreichs Präsident Macron demonstriert. Der Protest der Straße gilt als eine der schwierigsten Hürden bei der Umsetzung der Pläne. Kommentatoren erklären, warum der Widerstand den Präsidenten wohl nicht von seinem Kurs abbringen wird.
Staatschef hat Trümpfe in der Hand
Gegenüber den starken Gewerkschaften in Frankreich hat Macron bessere Karten als sein Vorgänger, beobachtet El Periódico de Catalunya:
„Die Reform war wichtiger Bestandteil von Macrons Wahlprogramm und es war klar, dass sie auf großen Widerstand der Arbeitnehmervertretungen stoßen würde. Nun gab es die ersten Anzeichen, doch der Widerstand hielt sich in Grenzen. Nur eine der wichtigen Gewerkschaften unterschrieb den Protestaufruf und die Zahl der Demonstranten war kleiner als bei seinem Vorgänger François Hollande aus demselben Anlass. Gegenüber den gespaltenen Gewerkschaften hat Macron zudem zwei Trümpfe in der Hand: eine absolute Mehrheit und zweieinhalb Jahre, in denen er sich nicht um Wahlen scheren muss. Das ist nicht wenig.“
Streik wird Präsidenten nicht erschüttern
Macron wird auch angesichts der Proteste gegen seine Arbeitsmarktreform nicht einknicken, glaubt The Independent:
„Alle Präsidenten und Premiers der letzten Jahre haben sich der Macht des Volkes ergeben und wesentliche Reformen nach Streiks oder dem ersten Hauch von Tränengas gestrichen. ... Macron hat die Chance, sich diesem Trend zu widersetzen. ... Heftige Ausschreitungen sind natürlich ein neuer und unwillkommener Test für Macron. Doch dass ein 'Schwarzer Dienstag' unumkehrbares Verderben bringt, ist weit gefehlt.“
Widerstand wird schwächer
Macron hatte im Sommer auch mit Mitarbeitern des französischen Bahnkonzerns SNCF über seine Pläne für eine Bahnreform gesprochen. Deren Reaktion auf den Vorstoß zeigt, dass das Drängen des Präsidenten zu mehr Reformbereitschaft fruchtet, beobachtet La Tribune:
„Spezialrente, der Status als öffentliches Unternehmen, die Öffnung für Konkurrenz. In anderen Zeiten hätten solche Äußerungen bereits Streiks im gesamten öffentlichen Transportsektor ausgelöst. Würden die 'Faulpelze, die Zyniker und Extremisten' [Zitat von Macron] neben der Arbeitsmarktreform auch die Bahnreform bekämpfen, könnten sie Frankreich stilllegen - wie im Winter 1995. Das ist aber (noch) nicht der Fall, was verdeutlicht, dass sich die Einstellungen geändert haben und die öffentliche Meinung nunmehr von der Notwendigkeit der Reformen überzeugt ist oder sich zumindest damit abfindet.“
Macron treibt Franzosen auf die Straße
Die Demos gegen seine Reformpläne hat Frankreichs Präsident Macron selbst zu verantworten, kritisiert Der Standard:
„Macron brüskiert seine Landsleute zunehmend mit herablassenden Bemerkungen, als wäre ihm jedes Fingerspitzengefühl abhandengekommen. Unlängst klagte er: 'Die Franzosen verabscheuen Reformen.' Das war schon fast wie ein Demoaufruf gegen sein eigenes Projekt. Vermutlich wird Macron die Reform durchbringen. Aber zu welchem Preis? Ob die Liberalisierung des Arbeitsmarktes strukturell Jobs schafft, wird sich erst in Jahren weisen. Wichtiger schien der psychologische Effekt der Reform - die dadurch ausgelöste Aufbruchstimmung im Land. Doch wenn Macron nach den Gewerkschaften auch noch die Beamten, die Pensionisten und die Studierenden auf die Straße bringt, muss der Elan unweigerlich zum Erliegen kommen.“
Die "Faulpelze" werden sich wehren
Mit seinem Verweis auf die "Faulpelze" hat Macron sichergestellt, dass richtig viele Menschen auf die Straße gehen werden, konstatiert Libération:
„Die faulen Gewerkschafter werden kommen, die ihre Zeit damit verbringen, Flugblätter zu verteilen und zu Meetings in rauchigen Zimmern gehen. Ebenso die faulen Beamten, die den ganzen Tag lang Origami falten. ... Ihnen werden sich die faulen Arbeiter anschließen, durch die 35-Stunden-Woche zum Müßiggang verdammt, und die faulen Arbeitslosen, mit von Sozialleistungen dick gefüllten Taschen, die sich entspannen, indem sie Tag und Nacht Lebensläufe abschicken. ... Es werden auch all die Leute kommen, die 'nichts sind' wie der Präsident zu sagen pflegt, die Masse der Versager, der Gebrochenen, der Nulpen, der Unbegabten, der Überbewerteten, der Kaputten, kurz all derjenigen, die die heroische Geste des Macronismus ausschließt. Das sind ganz schön viele.“
Bürger fürchten Verlust der Geborgenheit
Zwischen Macron und vielen Arbeitnehmern klafft eine tiefe mentale Kluft, analysiert der Frankreich-Korrespondent von De Volkskrant, Peter Giesen:
„Die Analyse von Macron ist rational und wird von so manchem Ökonom unterstrichen. Doch viele Bürger sehnen sich nach Geborgenheit und kollektivem Schutz und nicht nach einem individuellen Weg, auf dem Arbeitnehmer auf sich selbst angewiesen sind. Eine hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur miserabel für die Arbeitslosen. Sie raubt einem Land auch seine Energie und sein Selbstvertrauen. Thatcher und Schröder brachten neue Dynamik in ihr übermüdetes Land. Dadurch stand ihr Erbe auch nie ernsthaft zur Debatte. Das ist auch der Weg, den Macron gehen will.“
Auf in ein neues Frankreich
Le Figaro setzt große Hoffnungen in Macrons Reformeifer:
„Sollte nun endlich Schluss sein mit der 'französischen Selbstkasteiung' - dieser geistigen Disposition, die seit 30 Jahren aus Frankreich ein Land macht, das der Weltentwicklung gleichgültig gegenübersteht und sich lieber an ein Modell klammert, das bloß noch vom Namen her sozial ist? Es ist zu früh, um diese Frage endgültig zu beantworten. Aber die erstaunlich moderaten Reaktionen aus Gewerkschaftskreisen zeigen, dass sich in diesem Land etwas ändert. ... Macron will diese 'neue Welt' verkörpern, und darf deshalb - im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger - keinen Zentimeter vor seinen Gegnern zurückweichen. Je weniger es von ihnen gibt, desto lauter werden sie wahrscheinlich schreien. Er darf nicht am Ende dieser ersten Etappe, die die Arbeitsrechtsreform darstellt, aufhören. In Frankreich muss alles erneuert werden.“
Kein Geben und Nehmen
Warum die von Arbeitsministerin Pénicaud vorgestellten fünf Verordnungen sozialen Rückschritt bedeuten, erklärt Libération:
„Die 'fortschrittlichsten' Länder versuchen, die Gewerkschaften in die Funktionsmechanismen der Firmen einzubinden, zum Beispiel indem sie mehr Repräsentanten in den Aufsichtsräten bekommen. Davon ist natürlich in Pénicauds Projekt keine Rede. Desgleichen werden in der 'neuen Welt' von Macron Standortverlagerungen erleichtert. ... Wirklicher Fortschritt hätte darin bestanden, die - in manchen Punkten notwendige - Lockerung des Arbeitsmarktes mit einer Verbesserung der Absicherung in anderen Punkten zu verbinden. Diese Logik des Austauschs, der gegenseitigen Zugeständnisse, ist bei der laufenden Reform praktisch nicht vorhanden. Entsprechend triumphiert der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaften verdammen die Reform, manche mehr, manche weniger.“
Erfolgreiche Strategie
Der neuartige und integrierende Ansatz der Regierung geht auf, lobt L'Opinion:
„Die von [Premier] Edouard Philippe und [Arbeitsministerin] Muriel Pénicaud vorgestellten Regelungen entsprechen einem neuen Geist: Zwar räumen sie den Sorgen der Unternehmen Vorrang ein, doch ignorieren sie die Rechte der Beschäftigten nicht. Das bestätigen die Reaktionen der Gewerkschaften, die zumeist gemäßigt ausfallen - im Gegensatz zu manchen karikaturesken Äußerungen der Linken. … Anstatt der gewollten Konfrontation der vergangenen Jahre hat die Regierung es diesmal vorgezogen, auf ein durch Vertrauen geprägtes Verhältnis zwischen Unternehmern und Beschäftigten zu setzen. Einheitliche Regelungen für alle Berufe und alle Unternehmen hat sie durch Vielfalt ersetzt - und trägt somit den wirtschaftlichen Gegebenheiten Rechnung.“
Knackpunkt sind die Gewerkschaften
Die französische Reform orientiert sich eindeutig an der deutschen Agenda 2010, doch in Frankreich ist eine entscheidende Bedingung für den Erfolg nicht erfüllt, erklärt Il Sole 24 Ore:
„Starke, repräsentative Gewerkschaften, mit einem einvernehmlichen Ansatz, die [in Deutschland] dank historischer Regeln der Mitbestimmung die Hälfte der Sitze in den Aufsichtsräten der großen und mittleren Unternehmen innehaben. ... In Frankreich hingegen haben die Gewerkschaften eine dürftige Repräsentativität, dafür aber eine große Macht. ... Das Problem ist also nicht die Verabschiedung der Reform in der Nationalversammlung, sondern ihre Umsetzung. Mit dem in Frankreich alles andere als unwahrscheinlichen Ausgang, dass die Gewerkschaften den Geisteswandel der Reform nicht vollziehen.“
Revolutionäre stoßen oft auf taube Ohren
Macron hat seine Reform als kopernikanische Revolution der französischen Wirtschaft bezeichnet. Sollte sie gelingen, könnten endlich die Baustellen der Eurozone angegangen werden, freut sich NRC Handelsblad:
„Macron kann nun seinen guten Willen und seine Zuverlässigkeit beweisen, wenn er das große Problem der Eurozone angeht und die Kluft zwischen Frankreich und Deutschland hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit verringert. Dennoch ist Skepsis geboten. ... Eine breite Basis ist sehr wichtig für diese großen Reformen, die der französische Präsident vorgelegt hat. ... Dass Frankreich sich um die Sonne dreht, mag dann Macrons Überzeugung sein. Doch es ist die Frage, ob seine revolutionäre Einsicht von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird.“
Linke kritisieren ein harmloses Reförmchen
Der Frankreich-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Nikos Tzermias, findet die mit viel Pomp angekündigte Arbeitsmarktreform enttäuschend:
„Gewiss bringt die neue Reform auch ein paar Fortschritte. Doch nur graduelle und sicher nicht radikale. Und geradezu abstrus ist der Vorwurf des linksradikalen Populisten und früheren Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon, dass die neue Exekutive einen sozialen Staatsstreich verüben und den französischen Sozialstaat zerschlagen wolle. Der Arbeitgeberpräsident Pierre Gattaz stellte dagegen zu Recht, wenn auch reichlich diplomatisch fest, dass die Reform nur eine wichtige Etappe auf dem richtigen Weg sei und das Arbeitsrecht weiter vereinfacht werden müsse.“
Versäumnisse in einem Krisenland
Nichts deutet darauf hin, dass Macrons Arbeitsmarktreform einen echten Wandel bringen wird, kritisieren die Salzburger Nachrichten:
„Die von der Vorgängerregierung mit Mühen und Tricks durchgesetzte Flexibilisierung des Arbeitsmarkts wäre dringend weiterzuentwickeln. Das wird tunlichst vermieden. Das Pensionsantrittsalter mit 60 wird nicht angetastet und bindet Milliarden, die der Wirtschaftsentwicklung fehlen. Frankreich hat im Gegensatz zu Deutschland und Österreich die Globalisierung nicht gemeistert. Das Erfolgsrezept war und ist die Konzentration auf hochwertige Produkte und Dienstleistungen, sodass die Abwanderung der Massenproduktionen in Billiglohnländer verkraftet werden kann. Dazu ist eine Volkswirtschaft, die konserviert, nicht fähig. Die Auswirkungen dieser Politik machen Frankreich heute zu einem Krisenland.“
Wahre Missstände werden nicht beseitigt
Mit seiner Reform ignoriert Macron wichtige Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, kritisiert Guillaume Duval, Chefredakteur von Alternatives Économiques:
„Seit Brüssel die Sparpolitik ein wenig gelockert und die Europäische Zentralbank den Stier an den Hörnern gepackt hat, brummt die Wirtschaft wieder und es entstehen viele neue Jobs. Das Problem sind nunmehr prekäre Arbeitsbedingungen und die Armut vieler Erwerbstätiger. ... Da das Arbeitsrecht mal wieder reformiert werden soll, hätte man von unserem jungen, modernen Präsidenten erwarten können, dass er das Problem der 'Uberisierung' verschiedener Arbeitsbereiche anpackt und sich um die sozialen Rechte der Angestellten kümmert. Ebenso hätte man gehofft, dass er die zahlreichen Auswüchse korrigiert, die die unkontrollierte Entwicklung beim Status der Freiberufler mit sich brachte. Aber nein, das alles kommt vielleicht ein anderes Mal.“
Präsident sollte Kurs halten
Macron sollte wirtschaftspolitisch unbedingt Kurs halten, erklärt Helsingin Sanomat:
„Wenn er die politische Kultur ändern will, darf die alte in der neuen nicht mehr durchschimmern. Die neue Regierung stolperte gleich zu Anfang über die wirtschaftlichen Affären einiger Minister. Es hat auch nicht gut ausgesehen, dass Macron seine Versammlungen und Auftritte sonnenköniglich inszenierte, während er gleichzeitig Einsparungen forderte. Mit seinen zentralen Zielen liegt Macron aber richtig. Die von ihm vorgeschlagenen Einsparungen und Reformen für Frankreichs Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind nötig.“