Ist friedliche Abstimmung in Katalonien möglich?
Kurz vor dem Referendumstermin in Katalonien ist unklar, ob und wie am Sonntag abgestimmt werden kann. Die Polizei ist angewiesen, mögliche Wahllokale abzuriegeln, Tausende zusätzliche Polizisten wurden in die Region geschickt. Die Regionalregierung hält jedoch an der Abstimmung fest. Kommentatoren bewerten das Unabhängigkeitsstreben der Separatisten unterschiedlich - doch sie teilen die Sorge, dass die Situation kippt und in Gewalt mündet.
Madrid hat Situation eskalieren lassen
Die Schuld für die sich zuspitzende Situation liegt eindeutig bei der spanischen Regierung, ist Upsala Nya Tidning überzeugt:
„Hätte Spanien anders handeln können? Ja, man frage nur die Regierungen Großbritanniens und Kanadas, die auf die Forderungen aus Schottland und Quebec hörten und Volksabstimmungen gestatteten. Schweigen und Polizeiaufgebote als Antwort auf friedliche Meinungsäußerungen haben noch nie gut funktioniert. ... Eine Minute vor zwölf spricht die spanische Regierung nun von Verhandlungen - die sie seit 2010 strikt abgelehnt hatte. Eins ist sicher: Wenn es am Sonntag zu Blutvergießen kommen sollte, wenn die spanische Polizei gegen abstimmende Katalanen vorgeht, wird sich die Regierung in Madrid lange nach Unterstützung aus dem Ausland umsehen müssen.“
Bitte bleibt friedlich
Enric Hernàndez, Chefredakteur von El Periódico de Catalunya, hofft inständig, dass der 1. Oktober friedlich verläuft:
„Zu den Tugenden der Unabhängigkeitsbewegung zählt der zivile und friedliche Bürgersinn. Diese bisherige Makellosigkeit der Bewegung würde durch jeglichen Akt der Gewalt besudelt. Die Organisatoren warnen ihre Anhänger deshalb vor jeglichem Krawall. Doch ist keine Massenbewegung gegen einzelne Hirnlose (oder Infiltrierte) gefeit. Die Kommandozentrale der Regionalpolizei glaubt deshalb, dass ihr Einsatz gegen das Referendum am 1. Oktober - den die Staatsanwaltschaft angeordnet und dessen Umfang das Gericht anschließend wieder abgeschwächt hat - die 'öffentliche Ordnung' gefährdet. Ein Szenario der Gewalt wäre auch für die spanische Regierung fatal: Bilder von Polizeigewalt gegen Wähler ließen in Europa die Alarmsirenen schrillen.“
Die Mehrheit ist zum Schweigen verdammt
Die Mehrheit der Katalanen ist gegen eine Abspaltung, ist sich El País sicher und bedauert, dass dieser Teil der Gesellschaft mundtot gemacht wird:
„Häufig wird gefragt, warum die stille Mehrheit schweigt, die gegen eine Unabhängigkeit ist. Die Antwort ist eindeutig. Es liegt an dem Druck, dem sie durch den hegemonialen Diskurs der Befürworter einer Abspaltung ausgesetzt sind. Die Separatisten haben viele Institutionen vor ihren Karren gespannt - einschließlich Universitäten, Medien und andere gesellschaftliche Foren - und nutzen sie als Propaganda-Instrumente. Diese Exzesse gehen so weit, dass [der öffentlich-rechtliche Regionalsender] Catalunya Ràdio die Bürger aufforderte, die Bewegungen der Guardia-Civil-Streifen zu melden.“
Gefahr eines Domino-Effekts
Das Referendum in Katalonien könnte eine Kettenreaktion auslösen, fürchtet Hospodářské noviny:
„Die Umfragen sagen zwar, dass es für die Unabhängigkeit keine ausreichende Unterstützung gibt. Doch es herrschte in Europa auch die Überzeugung, dass die Briten die EU nicht verlassen werden. Sollten die Katalanen für die Unabhängigkeit stimmen, würden die Reaktionen aus Madrid, Berlin, Brüssel oder Paris in die Schulbücher eingehen, weil dann auch die Schotten einen neuen Anlauf nehmen könnten. Und weil es dann nicht mehr nur um den Zerfalls eines Staats ginge, sondern der Zusammenhalt der ganzen Union auf dem Spiel stünde. Polen und Ungarn könnten dann über ihre EU-Mitgliedschaft abstimmen.“
Neue Grenzen auf der Weltkarte sind normal
Europa sollte die Entstehung eines neuen Staates vielleicht gelassener hinnehmen, empfiehlt Kolumnist Otto Ozols auf dem Onlineportal Delfi:
„Unsere Welt wird nicht größer, aber die Zahl der Länder wächst. Und es gibt kein Zeichen, dass dieser Trend aufhört. Die Zahl der kleinen Länder wird auch weiter wachsen. Die Welt wäre leichtsinnig, wenn sie die Augen vor dieser Realität schließen würde. Die Zahl der kleinen Länder steigt auf Kosten der großen Länder. Im demokratischen Teil der Welt löst diese Entwicklung Spannungen und weckt ein neues kreatives Potenzial. Im undemokratischen Teil der Welt schürt sie die Krisenherde. Letzteres gilt vor allem für die Gebiete, in denen Kolonialbeziehungen den Totalitarismus fördern. Oder umgekehrt - wo der Totalitarismus koloniale Beziehungen bestehen lässt.“
Demokratie funktioniert anders
Angesichts der verhärteten Fronten ruft Ignacio Escolar, Chefredakteur von eldiario.es, sowohl Barcelona als auch Madrid zur Räson:
„Demokratie heißt wählen, aber nicht nur wählen. Demokratie bedeutet auch, dass Gesetzgeber die Gesetze befolgen, dass sie Minderheitenrechte und das parlamentarische Prozedere respektieren. Deshalb kann das katalanische Parlament nicht einfach in einer Expressabstimmung die Verfassung und das Regionalstatut mit einer Mehrheit aushebeln, die nicht einmal ausreichen würde, um das Wahlrecht zu ändern oder den Direktor des öffentlichen Regionalfernsehens zu benennen. ... Demokratie bedeutet auch, den Dialog und das Zusammenleben zu fördern und dabei im Sinne des Gemeinwohls aller und nicht nur der eigenen Wähler zu regieren. Und deshalb ist auch die Einstellung von Premier Mariano Rajoy ebenso unselig wie verantwortungslos.“
Kann der König vermitteln?
NRC Handelsblad fürchtet eine weitere Eskalation des Konflikts und fordert Verhandlungen zwischen beiden Parteien:
„Die harte Haltung Madrids ist unklug. Katalanische Zweifler werden durch die Sturheit und Machtdemonstration von Madrid in die Arme der Separatistenbewegung getrieben. Außerdem droht in Katalonien in den kommenden Tagen eine gefährliche Situation. Die Guardia Civil ist keine Antwort. Und der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont muss sich fragen, was er bei einem unvollständigen Referendum gewinnen kann. Beide Parteien müssen so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch und zum alten Pragmatismus zurückkehren. Möglicherweise steht jetzt auch König Felipe in der Pflicht.“
Referendum bringt EU in Bedrängnis
Das Referendum in Katalonien zwingt die EU zu einer Reaktion, ohne dass sie es dabei einer Seite Recht machen könnte, analysiert Jutarnji list:
„Dieses Referendum ist unangenehm für Spanien und die EU. Die EU kann sich leicht zur Gründung neuer Staaten außerhalb ihres Territoriums äußern. Geht es aber um Mitgliedstaaten, so muss die Union die Nationalregierungen unterstützen. ... Für die EU wäre es schlecht, ja sogar gefährlich, sollte es zur Destabilisierung eines Mitglieds der Gemeinschaft kommen. Vor allem wenn es sich um ein so großes Landes wie Spanien handelt, das nach dem Brexit Mitglied der Big Four wird.“
Madrid verprellt selbst gemäßigte Katalanen
Mit ihrer hysterischen Haltung wird die Zentralregierung in Madrid das genaue Gegenteil ihrer Bestrebungen erreichen, analysiert Krónika, die Zeitung für die ungarische Minderheit in Rumänien:
„Man muss nicht mit hellseherischen Fähigkeiten gesegnet sein, um zu erkennen, dass sich das diktatorische Vorgehen Madrids und der unsägliche Druck auf die Mitglieder der katalanischen Regierung und hunderte katalanische Bürgermeister als höchst kontraproduktiv erweisen werden. Damit werden selbst bei jenen Katalanen Ressentiments gegen die spanische Zentralregierung geschürt, die ansonsten keine Anhänger der Unabhängigkeit sind. Zur Erinnerung: London legte den Schotten seinerzeit keine Hindernisse in den Weg, als diese in einem Referendum über die Unabhängigkeit abstimmten. Und Schottland honorierte die nüchterne Haltung.“
Besiegen heißt nicht überzeugen
Durch sinnvolle Reformen sollte Madrid den Separatisten den Wind aus den Segeln nehmen, rät Ökonom Christian Hoarau in Le Soir:
„Selbst wenn es der Staat schafft, das Referendum zu verhindern, wäre es im Interesse der Zentralregierung (und der politischen Parteien) die katalanische Frage zu lösen. Denn besiegen heißt noch nicht für sich gewinnen. ... Erste Sofortmaßnahmen können darin bestehen, dass Spanien die Finanzierungsmodalitäten Kataloniens ändert und sie an die des Baskenlandes anpasst, Katalonien die für seine wirtschaftliche Entwicklung nötigen öffentlichen Gelder zur Verfügung stellt und den Autonomiestatus von 2006 wiederherstellt. Damit wäre die radikale Position der Unabhängigkeits-Befürworter nicht länger haltbar und ein moderater Souveränismus könnte übernehmen.“
Demütigung wird Folgen haben
Mehrere Einheiten der Nationalpolizei und der Guardia Civil sind zuletzt aus Madrid nach Katalonien verlegt worden. Die Zentralregierung höhlt mit repressiven Maßnahmen still und heimlich die Autonomie aus, erklärt Esther Vera, Chefredakteurin der katalanischen Tageszeitung Ara:
„Die Strategie des Staats besteht darin, die Autonomie der Region quasi durch die Hintertür aufzuheben, ohne Artikel 155 der Verfassung anzuwenden [Aberkennung der Autonomie Kataloniens], so dass sie einen internationalen Imageschaden vermeidet. Die Finanzautonomie ist schon aufgehoben, jetzt wird eine Übernahme der Regionalpolizei vorbereitet. ... Die spanische Regierung macht klar, dass sie diese Partie 10 zu 0 gewinnen will. Der Zentralstaat hat die Stärke auf seiner Seite. Aber er sollte nicht vergessen, was für eine Kraft die Reaktion auf solch eine Demütigung entfalten kann.“
Keine rechtsextremen Separatisten
Cilia Willem, Medien-Dozentin im katalonischen Tarragona, erklärt in De Morgen, inwiefern sich die Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien und in Flandern unterscheiden:
„Als Flämin in Katalonien hatte ich immer Sorge, dass das katalanische Unabhängigkeitsstreben in der belgischen und übrigen europäischen Presse als gefährlicher Präzedenzfall für ähnliche - (extreme) rechte - Bewegungen mit denselben Zielen dargestellt wird. Eine Abspaltung wird dort nicht als progressiv, sondern eher als reaktionär gesehen. Aber in Katalonien ist das Gegenteil der Fall: Auch wenn manche Mitte-rechts-Parteien in den vergangenen Jahren auf den Unabhängigkeitszug aufsprangen, ist der größte Teil der katalanischen Bewegung progressiv und inklusiv. ... In Flandern haben (extrem) rechte Parteien das Unabhängigkeitsstreben vereinnahmt, weshalb es linke und progressiv denkende Menschen vermeiden, sich ihm anzuschließen.“
Wenn Wahlen zum Delikt werden
Wählen kann durchaus eine unmoralische Handlung sein, erläutert Jurist Ignacio Arroyo Martínez in El País:
„Ohne weitere Erklärungen zu behaupten, Wählen sei demokratisch, ergibt keinen Sinn. Denn Wählen kann demokratisch sein oder eben nicht, das kommt ganz darauf an. Hier liegt der Kern des Problems. Das Worüber, das Wer und das Wie sind wichtige Faktoren, um zu entscheiden, ob eine Abstimmung tatsächlich einen demokratischen Akt vollendet. ... Dürfte eine Gesellschaft über die Beseitigung aller Alten abstimmen? Auch die Mafia lässt vor Rachemorden die Rächer abstimmen. Solch perverse Beispiele zeigen eindeutig, dass Wählen auch das Gegenteil von dem bedeuten kann, was wir als demokratisch verstehen.“
EU muss Rajoy zur Räson bringen
Mit seiner Reaktion auf die Unabhängigkeitsbestrebungen gefährdet Spaniens Premier Mariano Rajoy die Demokratie des Landes, warnt Irish Examiner:
„Der unbeholfene Ansatz der spanischen Zentralregierung steht in krassem Gegensatz zur Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit in Großbritannien im Jahr 2014. Er zeigt, wie schwach Demokratien sogar innerhalb der EU sein können. Die spanische Demokratie war keine fünf Jahre alt, als 1981 Angehörige des Militärs das Parlament in Madrid stürmten, um zu putschen. Die Institutionen der EU und die Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten müssen die spanischen Machthaber daran erinnern, dass Dissens der Kern der Demokratie ist und dass eine Rückkehr zu einem autoritären Regierungssystem keine Option darstellt.“
Rajoy führt den Ausnahmezustand ein
Das Vorgehen der Zentralregierung gegen die Separatisten in Katalonien erinnert an die Diktatur von General Franco, findet Der Standard:
„Was in Katalonien vor sich geht, verdient nur einen Namen: schleichender Ausnahmezustand. Egal wie man letztendlich zur Unabhängigkeitsbewegung stehen mag, das, was da geschieht, hat nichts mit der vom spanischen Ministerpräsidenten, dem Konservativen Mariano Rajoy, proklamierten Verteidigung der Verfassung und ihrer demokratischen Freiheiten zu tun. Die Politik Rajoys und seines konservativen Partido Popular (PP) ähnelt vielmehr einem Konzept von Spanien, wie es bereits die Diktatur unter General Franco hatte. Dass er dabei auch von den Sozialisten unterstützt wird, ist mehr als traurig.“
Zentralregierung muss Demokratie schützen
Dass die spanische Militärpolizei Zustände wie zu Zeiten der Franco-Diktatur sogar verhindert, findet hingegen El Mundo:
„Die spanische Demokratie erlebt ihren schwersten Moment seit [ihrer Wiedereinführung] 1978. Der Staat geht mit Härte, aber angemessen vor. Seine Reaktion ist eindeutig durch den schweren Angriff auf die verfassungsrechtliche Ordnung durch die katalanische Regionalregierung gerechtfertigt. ... Die drei staatlichen Gewalten müssen gegen die Feinde der repräsentativen Demokratie und der Verfassung vorgehen, die alternative und populäre Rechtsvorstellungen heraufbeschwören, die an unheilvolle Zeiten erinnern. Die Operation zur Aushebelung des illegalen Referendums stellt daher einen Wendepunkt dar, den jeder Demokrat mit Erleichterung und neuer Hoffnung beobachtet.“
Staatsstreich der Separatisten unterbinden
Auch Gazeta Wyborcza hält das Vorgehen des spanischen Staats gegen die katalonischen Separatisten für gerechtfertigt:
„Die Verfassung sieht vor, dass Spanien eine Nation und ein unteilbarer Staat gleicher Bürger ist. Sie sagt auch, dass jedes Referendum, das über die Rechte und Pflichten seiner Bürger entscheidet, nur in ganz Spanien stattfinden kann. Keine Region kann legal verkünden, dass bei ihr die Verfassung nicht mehr gilt. ... Die demokratische Verfassung ist Fahrplan und Handbuch für das Zusammenleben aller Bürger. Um sie zu ändern, muss man sich an die gemeinsam festgelegten Regeln halten. Sonderrechte für sich einzufordern ohne gesetzliche Grundlage kommt einem Staatsstreich gleich. ... Es bedeutet die Zerstörung des demokratischen Rechtsstaats. Das demokratische Spanien kann das nicht zulassen.“
Südtirol könnte Vorbild sein
Kompromisse von beiden Seiten sind notwendig, um die Einheit wieder herzustellen, mahnt Hospodářské noviny:
„Der Terrorangriff im August in Barcelona hatte die dortigen Politiker und die der spanischen Regierung noch für einen Moment zusammengeschweißt. Premier Rajoy und der Chef der katalanischen Regionalregierung, Puigdemont, standen Seite an Seite und appellierten an die Einheit. Wie sich jetzt zeigt, war Skepsis jedoch angebracht. ... Eine Lösung könnte nach dem Muster Südtirols gefunden werden, der deutschsprachigen Provinz, die in den 1950er und 1960er Jahren von Italien wegwollte, sich aber mit einer großzügigen Autonomie zufrieden gab. Die ist für die Katalanen zu klein und für die Spanier zu groß. Einen Dritten Weg gibt es aber nicht.“
Angst verwandelt sich in Revolte
Die Liebe zu Europa ist verblasst und an ihrer statt entstehen separatistische Bewegungen wie in Katalonien, ist in La Stampa zu lesen:
„Nach der klaren Niederlage von Marine Le Pen bei der französischen Präsidentschaftswahl glaubten die Hüter Europas, der Gefahr endgültig entkommen zu sein. Doch das gestrige Erwachen war brutal. ... Unabhängig davon welche Wende der katalonische Konflikt nehmen wird, der historische und demokratische Wurzeln hat, ist er doch eindeutig dem weit verbreiteten Gefühl der Angst zuzuschreiben, das den Westen erfasst hat. Diese Angst wandelt sich immer mehr in Revolte, Abschottung, Identitätssuche, Misstrauen und Argwohn den zentralen Regierungen gegenüber. Es ist die Forderung nach einer neuen Souveränität, denn die flüchtige europäische Seele hat sich in der Krise und in der Unerkennbarkeit einer gemeinschaftlichen Bewältigung derselben verloren.“