Gelingt mit Macron die Neugründung der EU?
Kein europäischer Staatschef fordert so vehement eine Reform der Europäischen Union wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Dazu gehören seiner Meinung nach: ein gemeinsamer Haushalt der Euroländer, eine stärkere Vereinheitlichung der Steuerpolitik und eine gemeinsame EU-Asylbehörde. Was die einen mutig oder gar gewagt finden, geht anderen nicht weit genug.
Weniger Frankreich, mehr Europa
Der französische Präsident verlangt seinen Landsleuten einiges ab, beschreibt die Süddeutsche Zeitung:
„Die frühere Weltmacht Frankreich hängt sehr an ihrer Souveränität. Sie tritt traditionell lieber für ein Europa der Nationen ein als für einen europäischen Bundesstaat. Macron aber bietet an, Souveränität abzugeben, wo es wehtut: Er wirbt für europäische Streitkräfte und zeigt sich sogar bereit, auf einen französischen Kommissar in der EU-Kommission zu verzichten. Das spricht dafür, dass er es ernst meint. Er hat - trotz legitimer Meinungsunterschiede bei der Reform des Euro-Raums, trotz anstehender Koalitionsverhandlungen, trotz CSU und FDP - eine bessere Antwort aus Deutschland verdient als ein gequältes 'Ja, aber'.“
Geradezu untypisch europäisch
Aamulehti stellt heraus, wie sehr sich Macron von seinen Vorgängern unterscheidet:
„Bei aller Kritik wird häufig vergessen, wie unfranzösisch Macrons Gedanken waren, obwohl er sie auf sehr französische Weise präsentierte. … Natürlich gab es unter den Stars der französischen Diplomatie seit Jean Monnet bedeutende Baumeister eines föderalistisch ausgerichteten Europas. Aber Frankreichs Staatschefs waren allesamt mehr oder weniger verkappte Nationalisten. Macrons Rede offenbarte jetzt einen neuen Gedanken: 'Wir sind Europa' und nicht 'Der Staat bin ich', wie es bei so vielen Sonnenkönigen vor ihm hieß. Und mit Europa meint der Präsident nicht nur seine Landsleute, sondern alle Europäer. ... Das tragende Thema seiner Rede war gemeinsame Verantwortung.“
Nicht mutig genug
Zu einem souveränen Europa gehören für die Wochenzeitung Kapital auch Reformen, die Macron nicht gefordert hat:
„Es fehlen die zwei entscheidenden Schritte für eine Föderalisierung der EU: eine gemeinsame europäische Steuerpolitik und eine gemeinsame Sozialversicherung. Offensichtlich traut sich Macron nicht, die rote Linie zu überschreiten, die [der niederländische Ministerpräsident] Rutte und die deutschen Liberalen, deren Positionen sehr ähnlich sind, gezogen haben. Ebenso ist eine europäische Sozialversicherung nicht im Interesse eines Frankreichs, das Arbeitskräfte anzieht und nicht verliert, was entsprechend hohe Einnahmen in die französischen Sozialkassen spült. So gesehen ist Macrons Rede nicht so mutig, wie die wichtigsten Kommentatoren behaupten.“
Kleinstaaten müssen Steuervorteile bieten dürfen
Eine Vereinheitlichung der Unternehmenssteuern in der EU, wie Macron sie sich vorstellt, hält der Kolumnist von The Malta Independent, Alfred Sant, für falsch:
„Mit immer mehr Nachdruck wird derzeit gefordert, dass Unternehmenssteuern und letztlich auch Einkommenssteuern für einfache Bürger in Europa über Ländergrenzen hinweg angeglichen werden. Bisher obliegt es jedem einzelnen Mitgliedstaat, das Steuersystem nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. ... Nur selten wird darauf hingewiesen oder zugestanden, dass kleinere Staaten, EU-Randstaaten und Inseln vorteilhafte Steuersysteme entwickeln müssen, wenn sie private Investoren anlocken wollen.“
Die Vereinigten Staaten von Europa gründen
El Mundo findet die Pläne des französischen Präsidenten inspirierend:
„Was Macron da klug und im richtigen Moment vorschlägt, bedeutet, die Vereinigten Staaten von Europa voranzutreiben und dafür die Integration in Schlüsselbereichen wie Wirtschaft, Einwanderung und Erziehung zu verstärken. ... Die EU, die sich aus der Asche der Diktaturen eines blutigen 20. Jahrhunderts erhob, steht als Symbol für Freiheit und Wohlstand des Alten Kontinents. Aber es bringt nichts, sich auf diesen alten Lorbeeren auszuruhen. Die notwendigen Reformen müssen dringend angegangen werden, vor allem in den Bereichen Innovation und Wirtschaftsunion, um Europas Einfluss in der Welt auszubauen.“
Geschlossenheit als letzte Chance
Macron ist der letzte Hoffnungsträger der EU, rühmt L'Obs:
„Unter einem bleiernen Himmel steht Macron als demonstrativer Europäer mehr denn je wie eine Ausnahme da. Sämtliche Hoffnungen von Unionisten und Föderalisten scheinen nunmehr auf seinen Schultern zu liegen. Das ist sowohl ein enormes Risiko als auch eine einmalige Chance. Wo es den 28 nicht mehr gelingt, miteinander zu sprechen, kann die Stimme dieses letzten Europafreundes den einen oder anderen aufrütteln. Der Countdown hat begonnen. Den Europäern - gerade denen, die in Zeiten der Globalisierung so sehr um ihre Identität und Eigenständigkeit fürchten - bleibt gar keine andere Wahl, als sich zusammenzuschließen. Allein sind sie nichts. Nur zusammen haben sie noch Gewicht.“
Lockt eine EU 2.0 die Briten zurück?
Eine durch und durch reformierte EU wäre vielleicht auch für die Briten wieder attraktiv, schreibt Kolumnist David Aaronovitch in The Times:
„Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat als erster wichtiger Labour-Politiker diese Woche ein zweites Brexit-Referendum gefordert. Es solle stattfinden, sobald die Konditionen unseres EU-Austritts offen auf dem Tisch liegen. ... In der Praxis ist das schwer umsetzbar, aber es wäre vollkommen demokratisch. Emmanuel Macron hat derweil eine andere Vision aufgezeigt: Schon bald könnte eine Zeit anbrechen, in der ein neu gestaltetes Europa die Briten zum Umdenken bewegt. Eine neue Generation von Briten, die frei ist vom Einfluss von Politikern wie Außenminister Johnson, Labour-Chef Corbyn und Ex-Ukip-Chef Farage, könnte sich dieser Herausforderung stellen.“
Der visionäre Präsident
Macron stellt die politische Landschaft Europas auf den Kopf, freut sich die Wiener Zeitung:
„Die Bedenkenträger werden das Haupt wiegen und erklären, warum das eine und das andere nicht funktioniere. Macron wischte sie mit dieser Rede einfach beiseite. Er erfüllte den Begriff Europa mit Zukunft statt mit Krise. Über einzelne Punkte mag zu Recht gestritten werden, aber was Macron da am Dienstag vorlegte, war - seit Helmut Kohl - das Beste zum Thema Europa, das ein Staatschef von sich gab. Jetzt liegt es ... an Europas Zivilgesellschaft, diese Ideen mit Leben zu erfüllen. Für die etablierte Parteienstruktur bedeutet das neue Gefahr. Transnationale, also europäische Bewegungen, werden einen weiteren Teil ihrer Intelligenz absaugen. Und Rechtspopulisten sehen dabei überhaupt alt aus.“
Alles umstoßen, um für Bewegung zu sorgen
Macrons Ideen erfüllen einen wichtigen Zweck, urteilt L'Opinion:
„Selbstverständlich kommt ein Teil der Rede des Präsidenten einem Traum gleich - oder versetzt uns zumindest in eine ferne Zukunft: einheitliche Besteuerung, Definition sozialer Konvergenz, EU-Erweiterung auf dem Balkan, Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie. Und natürlich bedeuten die Reformpläne auch, dass wir uns mit unseren französischen Schwächen auseinandersetzen müssen: Du willst Steuern? Bitte sehr. Behörden hier, Beamte dort, eine Akademie hierfür, ein Amt dafür. Und mit Sicherheit wird all dies nicht umgesetzt. Allerdings kann Emmanuel Macron Europa tatsächlich die Chance zur Neugründung geben. Und zwar dadurch, dass er seine im französischen Präsidentschaftswahlkampf erfolgreiche Methode, alles umzustoßen, um für Bewegung zu sorgen, auf Europa überträgt.“
Souveränes Europa braucht eigenes Budget
Deutschlands künftige Regierung sollte auf Macrons Vorschläge eingehen, meint Zeit Online:
„Natürlich wird man darüber streiten müssen, wie ein Eurobudget ausgestattet werden soll, welche Kompetenzen ein Eurofinanzminister haben sollte und wie ein Eurozonenparlament zusammengesetzt sein sollte. Es bleibt auch richtig, dass die Probleme des Euro zuallererst in den Nationalstaaten gelöst werden müssen. ... Es besteht auch die Gefahr, dass reformunwillige europäische Regierungen es sich in der von Macron vorgeschlagenen ausgebauten Eurozone gut einrichten könnten. Doch im Kern geht es jetzt darum, einer Reform zuzustimmen. Die Europäer wollen ein Europa, das sie schützt. Europa kann die Europäer nur schützen, wenn es souverän ist. Wer souverän sein will, der braucht ein eigenes Budget. Das ist Macrons Grundgedanke.“
Frankreichs fatale Deutschlandfixierung
Macron hat die Gelegenheit verpasst, neue Partner für sein Projekt zu gewinnen, analysiert La Tribune de Genève:
„Wie seine Vorgänger behält Macron dem deutsch-französischen Paar den wichtigsten Platz vor. Frankreich schafft es also nicht, sich von seiner Deutschlandbesessenheit zu befreien. In Berlin spricht man im Hinblick auf die Beziehungen zwischen beiden Ländern jedoch kaum von einem Paar. Um all die Vorhaben umzusetzen, die er skizziert hat, braucht Präsident Macron indes andere Länder, die sich nicht damit begnügen werden, dem Duo willig zu folgen. Zumal sich die neue Koalition, die sich in Deutschland abzeichnet, den französischen Ansichten sicherlich nicht anschließen wird. Durch die anhaltende Idealisierung Berlins geht Paris das Risiko ein, seine potenziellen Verbündeten zu vergraulen.“
Deutsche Liberale stehen Reform im Weg
Wenn in Deutschland CDU/CSU, FDP und Grüne koalieren, wäre dies vermutlich das Aus für tiefgreifende EU-Reformen à la Macron, analysiert Večernji list:
„Die Jamaika-Koalition in Deutschland mindert die Chancen für Macrons Idee einer großen EU-Reform mit einem extra Etat für die Eurozone, einem gemeinsamen Finanzminister und neuen Geldtransfer-Mechanismen für strauchelnde Mitglieder. Die Liberalen aus der FDP sind ausdrücklich dagegen, dass Deutschland in der Eurozone die Zeche der Anderen zahlt. Und da Merkel selbst von Anfang an nicht richtig dafür war, kommt ihr der Widerstand der FDP ganz gelegen, um nicht alle Wünsche von Macron erfüllen zu müssen.“