Orbáns Wahlsieg unter der Lupe
Nach der Wahl in Ungarn treibt der klare Sieg für den rechtsnationalen Fidesz Europas Presse um. Waren Intellektuelle einfach zu bequem, sich einzumischen? Vernachlässigen Europas Linksliberale die wichtigen Themen? Und was wird jetzt aus Ungarns Wirtschaft?
Der Preis für politische Bequemlichkeit
Es ist die Passivität der Zivilgesellschaft, die Orbáns erneuten Wahlerfolg erst ermöglicht hat, kritisiert der rumänische Politikexperte Valentin Naumescu im Blogportal Contributors:
„Leider haben sich die ungarischen Intellektuellen, die Akademiker und die Zivilgesellschaft über ein Jahrzehnt lang mit der politischen Mittelmäßigkeit aus Budapest abgefunden. … Wenn man etwas aus den dauerhaften Erfolgen Orbáns lernen kann, so ist das: ... Was für einen schrecklich teuren Preis eine bequeme Gesellschaft aus politischen Nichtstuern zahlt, wenn jene, die etwas tun könnten, sich raushalten und darauf warten, dass es andere machen oder die Nase rümpfen, wenn wohlmeinende Menschen versuchen, eine Alternative zu etablieren.“
Neuer Kulturkampf bedroht Einheit der EU
Linksliberale haben es verpasst, sich der Sorgen breiter Bevölkerungsschichten anzunehmen, und überlassen das Thema nationale Identität sträflich Politikern wie Orbán, klagt Financial Times:
„Liberale in Ungarn und in Westeuropa waren nicht imstande, ihre eigene Variante des modernen Patriotismus zu kreieren. Sie haben nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass sich in einer überglobalisierten Welt viele um ihre nationale Identität sorgen. Sie stellen sogar die Notwendigkeit infrage, in einem Zeitalter des internationalen Terrorismus die Grenzen zu sichern. In Budapest hat das dazu geführt, dass die Populisten in der öffentlichen Debatte klar den Ton angeben. ... Neben dem Brexit und der Migrationsfrage könnte dieser neue Kulturkampf um die nationale Identität die größte Bedrohung für die Einheit und Stabilität der EU darstellen.“
Lieber in Bildung und Gesundheit investieren
Eine Analyse des Staatshaushalts lässt den ehemaligen Präsidenten der ungarischen Nationalbank, Péter Àkos Bod, in Világgazdaság um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes bangen:
„Die Struktur der Staatsausgaben ist reine Politik. Wir wissen, wo der ungarische Haushalt übertreibt, wenn wir Summen mit den Ausgaben ähnlich entwickelter Länder vergleichen, die aber wettbewerbsfähiger sind. Zu hoch sind zum Beispiel die Etats für den Staatsapparat, die wirtschaftlichen Aktivitäten des Staats und den Sport. Zu wenig Geld fließt hingegen in das Gesundheitssystem, die Verteidigung und Bildung. Die Prioritäten werden von den Kräfteverhältnissen geformt. Wir können nur hoffen, dass die Wettbewerbsfähigkeit dabei nicht auf der Strecke bleibt.“
Situation in Ungarn bedrohlicher als in Polen
Brüssel sollte endlich anerkennen, dass die Entwicklungen in Budapest viel bedenklicher sind als jene in Warschau, mahnt The Irish Times:
„Die EU hat gegenüber Polen überreagiert, indem sie damit drohte, Verstöße Warschaus gegen EU-Werte festzustellen. Im Vergleich dazu blieb die EU rätselhaft untätig, als sie mit Viktor Orbáns Bemühungen konfrontiert wurde, den demokratischen Wandel in Ungarn zu untergraben. ... Brüssel muss scharfsichtiger werden, wenn es darum geht, zwischen kurzzeitigen politischen Phasen und Bedrohungen der grundlegenden Stabilität eines bestimmten Landes zu unterscheiden. Die Justizreformen in Polen können von der nächsten Regierung rückgängig gemacht werden. In Ungarn wurde Orbán am Sonntag zum dritten Mal mit großer Mehrheit im Amt bestätigt.“
Osteuropäer rebellieren gegen westliche Dominanz
Vor Überheblichkeit gegenüber Osteuropa warnt die Badische Zeitung:
„Tatsache ist, dass viele Menschen in den jungen EU-Staaten Osteuropas ein großes Unbehagen empfinden, wenn sie ihre nationale Souveränität und ihre kulturellen Eigenheiten zugunsten eines westlich dominierten Europas aufgeben sollen. Und machen wir uns nichts vor: Die EU ist westlich dominiert. Franzosen und Deutsche geben den Ton an und mitunter Luxemburger, nicht Polen, Ungarn oder Tschechen. Der Ost-West-Streit um die Flüchtlingspolitik ist vor diesem Hintergrund nicht mehr als ein Symptom eines viel fundamentaleren Konfliktes. ... Dies ehrlich anzuerkennen, ist wichtig, weil viele Politiker und auch Bürger im Westen des Kontinents noch immer mit Arroganz nach Osten blicken – und sich über 'falsche' Wahlergebnisse wundern.“
Was kann man Orbán schon vorwerfen?
Der Wahlsieg Orbáns ist für die westeuropäische Elite so unangenehm, weil er zeigt, dass dessen Modell lebensfähig ist, erklärt Ria Novosti:
„Entgegen der traditionellen liberalen Dogmen entwickelt sich Ungarn wirtschaftlich rasant, von dort fahren keine Gastarbeiter nach Westen. Doch das Widerlichste ist, dass man der ungarischen Führung nichts so recht vorwerfen kann: Soros nicht zu lieben, ist kein Verbrechen. Ebenso ist die Weigerung, sich gegen russische Gasleitungen zu sperren, nicht sträflich. ... Und im Vergleich zur Partei Nr. 2, Jobbik, erscheint Orbáns Fidesz wie eine Partei von Menschenrechtlern, Linken und Feministen. Außerdem erfüllt Ungarn formal alle Verpflichtungen eines 'Mitglieds des West-Blocks'.“
Außerhalb Ungarns funktioniert das Modell nicht
Das System Orbán lässt sich nicht in andere EU-Länder exportieren, urteilt der Tages-Anzeiger:
„Ungarn ... ist und bleibt ein Sonderfall mit seinem Nationalstolz und dem kollektiven Gefühl, anders zu sein, aber von der Welt verkannt zu werden. Orban versteht es, auf der Klaviatur dieses Gefühls zu spielen. ... Die europäischen Volksparteien gratulierten Orban zum Sieg. Dass sie ihm folgen, ist aber unwahrscheinlich. Weder haben sie die notwendigen Mehrheiten noch die auf Kadavergehorsam ausgerichteten Parteistrukturen. Zudem ist Orbans 'Erfolgsmodell' fremdfinanziert. Ohne Kredite aus Russland oder China, ohne Milliardenförderungen aus Brüssel wäre seine illiberale Demokratie schnell am Ende.“
Orbán gibt den Totengräber der EU
Das Modell Orbán wird zum Problem für ganz Europa werden, prophezeit die Tageszeitung Die Welt:
„Sein Wahlsieg gibt ihm Rückenwind, die ungarische Führerdemokratie europaweit zu exportieren. Und er hat gelehrige Schüler, wie sich in Polen und den anderen Viségrad-Staaten zeigt. Warschau ist bereits dabei, auf ungarischen Pfaden zu wandeln. … Mit einem durch einen Wahlsieg in Ungarn gestärkten Ostblock droht der EU das Schicksal der Vereinten Nationen. Kommen zu viele Staaten zusammen, die nicht durch einen Wertekonsens miteinander verbunden sind, dann ist eine Kooperation zum zahnlosen Debattierclub verdammt. Man könnte also durchaus soweit gehen und sagen: Viktor Orbán schickt sich an, der Totengräber der EU zu werden. Armes Ungarn, armes Europa! Es wird von einem kleinmütigen Geist zu Fall gebracht.“
So wichtig ist der Mann auch wieder nicht
Die EU sollte sich endlich mit wichtigeren Fragen als der vermeintlichen "Orbánisierung" beschäftigen, schimpft die Tageszeitung Die Presse:
„Gewiss: Er hat in Europas sozialdemokratisierter Christdemokratie eine gewisse konservative Leerstelle besetzt, dem Volk aufs Maul geschaut und zum dritten Mal in Folge bewiesen, dass sein nationalistischer, illiberaler Ansatz mehrheitsfähig ist. Es jedoch zur großen europäischen Fahnenfrage hochzuziehen, wie man es mit Orbán hält, ist dann doch zu viel der Ehre. So wichtig ist der Mann auch nicht. Die Fixierung auf Orbán zeigt nur, wie inhaltsleer Richtungsdebatten in Europas ideologischem Einbahnverkehr geworden sind. Nüchtern betrachtet, hat sein nationalkonservatives Eigenbaumodell einer abgeschotteten Demokratie mit autoritären Zügen jedoch außerhalb der Grenzen Ungarns bisher keine erfolgreichen Nachahmer gefunden.“
Liberale verachten die Demokratie
Erneut zeigt sich, dass liberale Eliten die Demokratie nur so lange zulassen, wie ihnen das Ergebnis gefällt, beobachtet das regierungsnahe Onlineportal wPolityce.pl:
„Es ist egal, ob die Ungarn den Fidesz zum dritten Mal in Folge demokratisch gewählt und der Partei Viktor Orbáns die verfassungsändernde Mehrheit gegeben haben. Sie haben schlecht gewählt. Sie haben nicht so gewählt, wie sie sollten. Sie sind nicht reif für die Demokratie. Die Liberalen versuchen schon gar nicht mehr, ihre Verachtung für die irrenden Massen zu verbergen. Genau das gleiche hören wir seit zwei Jahren über mehr als fünf Millionen Polen, die der PiS die Möglichkeit gegeben haben, 'die Demokratie zu zerstören'. ... Das ist eine Verachtung der Demokratie.“
Medien führten Wähler in die Irre
Dass die ungarischen Wähler für eine demagogische Kampagne empfänglich waren, ist nicht ihre Schuld, findet der Journalist András Földes im Onlineportal Index:
„Die Verantwortung liegt nicht bei der Menge, die für den Hass stimmte, sondern bei denen, die aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und einer Reihe assistierender Medien schäbige Sprachrohre der Regierung gemacht haben. Diese waren zur eigenen Bereicherung und aufgrund niederer Pläne bereit, die Massen bewusst in die Irre zu führen und mit Lügen in den Hass zu treiben. Die betrogenen Menschen hatten nahezu keine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Alle um sie herum sagten das Gleiche. Und so kam den Meisten gar nicht der Gedanke, dass das, was aus dem Fernsehen, dem Radio, von den Plakaten und bei den Bürgerversammlungen auf sie einprasselte, nicht wahr sein könnte.“
Alle Fäden laufen beim Premier zusammen
Noch nie hat Orbán so viel Macht auf sich vereint, auch innerhalb seiner eigenen Partei, analysiert der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Népszabadság, Márton Gergely, in hvg:
„Mit den Jahren, die unter Viktor Orbán vergingen, ist er an der Spitze immer einsamer geworden. 2018 hat diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht. Diesmal hat ihn sogar seine Partei eher heruntergezogen, als ihm geholfen. Bei ihm enden alle Fäden seines Apparats. Von jetzt an kann er bedingungslose Treue erwarten und einfordern, auch von denen, die bisher noch einen Rest eigenständige Persönlichkeit behalten hatten. Früher oder später zieht er in die Burg [historisches Burgviertel im Budapester Stadtteil Buda], die Prestigebauten des Regimes werden errichtet und zu Denkmälern der Zweidrittelmehrheit.“
EVP muss klare Ansagen machen
Die EVP, der Orbáns Fidesz angehört, darf sich nicht länger hinter den ungarischen Premier stellen, mahnt De Morgen:
„Es wird langsam Zeit, dass Juncker und seine Parteifreunde von der Europäischen Volkspartei der Art und Weise Einhalt gebieten, mit der ihr 'Parteifreund' Orbán unter der EU- und EVP-Flagge die Aushöhlung der europäischen Werte schönredet. Es ist Sache der EU und der EVP, Orbán ernsthaft zu warnen, dass sein fremdenfeindlicher und anti-europäischer Wahlkampf nicht ohne Folgen in die Praxis umgesetzt werden darf. ... Wenn seine Wirtschaft wächst, dann ist das vor allem der EU zu verdanken, der er in diesem Wahlkampf den Kampf ansagte. Kommission, Rat und Parlament täten gut daran, Orbán heute an die Voraussetzung seiner gewinnbringenden Mitgliedschaft zu erinnern: Der absolute Respekt der Freiheiten und des Rechtsstaats, die die EU kennzeichnen.“
Beunruhigende Solidarität mit Orbán
Die Unterstützung Orbáns durch die EVP erzürnt auch den Politikwissenschaftler Bernardo Pires de Lima in Diário de Notícias:
„Die Barroso-Kommission [2004-2014] war bereits so milde, dass sie jeden Befürworter der Rechtsstaatlichkeit und der liberalen Demokratie in Verlegenheit brachte. Doch die EVP ist nun von einem ohrenbetäubenden Schweigen zu einer unerhörten Schamlosigkeit übergegangen: Der Präsident der EVP, Joseph Daul, hat Orbán nicht nur öffentlich vor der Wahl unterstützt, sondern diesen auch als 'Garant für Stabilität und Wohlstand' bezeichnet. Damit hat er Orbáns schamlose Kampagne gebilligt. ... Auch der EVP-Fraktionschef Manfred Weber ist ein bekennender Fan von Orbán. Bilder von Handschlägen mit Orbán teilt er gern in sozialen Netzwerken, ebenso wie dessen zynische Äußerungen zu Europas Identität.“
Wertedebatte ist überfällig
Die EU muss sich nun der von Orbán geforderten Auseinandersetzung über europäische Werte stellen, fordert die Tageszeitung Kurier:
„Für ein Europa, das diese Werte als Grundgerüst und nicht nur als Fassade begreift, ist es überfällig, diese Herausforderung anzunehmen. Das aber heißt auch, Orbáns Vorstellungen nicht voreilig als undemokratisch oder uneuropäisch abzutun, sondern sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Europa, dessen Glaubwürdigkeit ohnehin lahmt, braucht diese Wertedebatte. Vielleicht wird man in einigen Punkten - Zuwanderung etwa - neu denken müssen, oder aber Europa hat seine Grundprinzipien in dieser Debatte überdacht und damit gestärkt.“
Rassismus an der Basis bekämpfen
Dass die EU allein den aufflammenden Nationalismus zurückdrängen kann, ist illusorisch, findet The Guardian:
„Es ist für EU-Institutionen keine leichte Aufgabe, diesem moralischen Auftrag gerecht zu werden, denn es erweckt den Anschein, dass sie demokratische Entscheidungen in Mitgliedstaaten nicht anerkennen. Das Europa-Bild der Nationalisten ist gefährlich, und liberale Politiker haben sich selbstzufrieden darauf verlassen, dass die von Brüssel ausgehende, auf den EU-Institutionen basierende Vorstellung von Europa eine überzeugende Alternative darstellt. Die EU stellt als Idee und Regelwerk ein unerlässliches Bollwerk gegen Nationalismus dar, aber sie ist nicht genug. Der Rassismus hat die politische Basis erfasst. Dort muss er bekämpft und besiegt werden.“
Fidesz ist das kleinere Übel
Der Wahlsieg Orbáns könnte der EU nicht ganz ungelegen kommen, mutmaßt Novi list:
„Orbán nutzt geschickt seine Position im Vergleich zur ultra-rechten Jobbik Partei (obwohl die ihre Positionen erheblich abgemildert hat). Orbán schützt nicht nur Ungarn vor Brüssel, sondern auch Europa und seine katholische Identität vor den 'Flüchtlingshorden aus dem Osten'. Mit anderen Worten, es scheint, als würde Orbán Brüssel sagen: Wenn ihr mich nicht haben wollt, bekommt ihr Jobbik.“