Reform und Proteste: Wohin treibt Frankreich?
In Frankreich halten die Streiks und Proteste gegen die umstrittene Rentenreform an. Präsident Macron hatte in einem TV-Interview sein Vorgehen gerechtfertigt, das Projekt am Parlament vorbei durchzusetzen: Die Reform sei "eine Notwendigkeit für das Land", dafür nehme er in Kauf, sich unbeliebt zu machen. Europas Presse debattiert die Gründe für die aktuelle Spaltung und wohin diese noch führen kann.
Märkte könnten Macron in die Knie zwingen
The Spectator hält es für möglich, dass Macron angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der Proteste doch noch einlenken muss:
„Es war Macron selbst, der die Franzosen davor warnte, dass die Märkte nervös werden würden, wenn sein Rentengesetz nicht verabschiedet werde. ... Der von Le Monde befragte Chefökonom der Allianz Group warf dem Präsidenten daraufhin vor, dass er so mit einem roten Tuch vor einem Stier wedle. ... Die Straßenunruhen in ganz Frankreich halten an, Häfen und Ölraffinerien sind blockiert, der öffentliche Nahverkehr weitgehend lahmgelegt: Es würde einer gewissen Ironie nicht entbehren, wenn der einstige Zauberlehrling unter den Investmentbankern nun einen von den Finanzmärkten diktierten Rückzieher machen müsste.“
Das politische System braucht Veränderung
Die einzige Alternative zu Macron ist die Straße, schreibt El Periódico de Catalunya:
„Die Proteste werden weitergehen, denn dahinter steckt die allgemeine Unzufriedenheit einer Bevölkerung, die eine Gesundheitskrise mit vielen Folgen hinter sich hat und nun in einer neuen Krise steckt, während die Preise für die Grundversorgung steigen und die Inflation die Löhne schrumpfen lässt. In Frankreich wächst zudem die soziale Kluft zwischen den von den Söhnen der Bourgeoisie beherrschten Stadtzentren und den Vorstädten. Es drängt sich die Frage auf, ob eine einzige Person, der Präsident, alle Entscheidungen treffen kann oder ob das Modell der Republik geändert werden muss. Da das Parlament praktisch ausgeschaltet ist, überlässt die französische Demokratie heute die Macht dem Präsidenten. Da bleibt nur noch die Straße.“
Wählerauftrag missverstanden
Der Präsident beerdigt die französische Demokratie, urteilt Jean Quatremer, Kolumnist bei Libération:
„Macron rechtfertigt seine Sturheit hauptsächlich damit, dass er sagt, die Franzosen hätten ihn für seine Vorschläge gewählt - doch das ist vollkommen falsch. ... Seine Legitimität beruht auf der Ablehnung der Extreme, was ihn eigentlich dazu hätte zwingen müssen, nach einem für die Gesellschaft akzeptablen Kompromiss zu suchen. Indem er einen Kompromiss ablehnt und davon überzeugt ist, gegen alle Recht zu haben, schwächt er die französische Demokratie, die bereits unter der Covid-Pandemie litt. Doch aus den Folgen der Pandemie wurde nichts gelernt. Emmanuel Macron, der vorgab, die Demokratie wiederzubeleben, könnte sich als ihr Totengräber herausstellen.“
Systemkritik aus Brüssel wäre überfällig
Interia fragt sich, ob die EU politische Systeme nicht mit zweierlei Maß bewerte:
„Das französische System ist so aufgebaut, dass die Regierung fast alles und das Parlament fast nichts machen kann. ... Ständig prangern die EU-Behörden das Modell an, das die polnische Rechte - eher zaghaft - umsetzt. ... So sind wir angehalten, die Beratungen über Gesetzesvorhaben transparenter zu gestalten. Aber ist das französische System transparent? ... Natürlich, die EU bezieht sich auf den Standard, der 2016 von der Venedig-Kommission beschlossen wurde. Die Systeme der alten EU-Länder scheinen aber über jeden Verdacht erhaben, während die Systeme der neuen Mitglieder von Natur aus als verdächtig gelten, vor allem unter Formationen, die ideologisch nicht mit den Eurokraten übereinstimmen.“
Überalterung kann man nicht wegdemonstrieren
Gazeta Wyborcza wundert sich über die heftige Reaktion der Franzosen:
„Das Ausmaß der Proteste ist selbst für Frankreich, wo Demonstrationen in Millionenstärke normal sind, enorm. Überraschend ist jedoch das Missverhältnis zwischen Ausmaß und Schärfe der Proteste und dem Umfang der Änderungen am Rentensystem, die nicht dramatisch aussehen. ... Das Problem der Überalterung der Bevölkerung und damit der Spannungen im Rentensystem betrifft alle Länder, nicht nur Frankreich. Auch Polen. Die von der Regierung Donald Tusk eingeleitete Rentenreform wurde von der PiS-Regierung wieder rückgängig gemacht, aber das Problem ist nicht verschwunden und muss früher oder später wieder aufgegriffen werden.“
Signal einer tiefen Spaltung in ganz Europa
Auf der Website von Adevărul sieht Cristian Unteanu die Geschehnisse in einem größeren Kontext:
„Meiner Meinung nach ist das, was gerade in Frankreich geschieht, ein sehr ernstes Alarmsignal hinsichtlich der allgemeinen Unzufriedenheit in der Bevölkerung in mehreren europäischen Ländern (und darüber hinaus), was die Regierungsführung in Krisenzeiten betrifft und die Unfähigkeit der politischen Klasse, reale Antworten zu finden. ... Für die Bevölkerung wird es immer schwieriger, mit dem Verarmungsprozess und vor allem dem Aufkommen sozialer Gräben fertig zu werden - wie man sie nur aus uralten Zeiten kennt, als arme Gesellschaften brutal zwischen der Klasse der Superreichen und dem Rest gespalten waren, der Kategorie 'Masse'.“
Mit etwas Mut wäre die Krise lösbar
Der Verfassungsrat, dem die Rentenreform auf Druck der Linken nun zur Prüfung vorgelegt wurde, kann eine Lösung aufzeigen, glaubt Soziologe Michel Offerlé in Le Monde:
„Die erste und offensichtliche besteht darin, das Gesetz Paragraph für Paragraph zu zerschlagen, indem alle Maßnahmen gestrichen werden, die darin nichts zu suchen haben. Die zweite Option, die komplexer und mutiger wäre, besteht darin, den Text pauschal zurückzuweisen. Es wurden gute Rechtsgründe vorgebracht, insbesondere zahlreiche Fälle von Verfahrensmissbrauch, da ein Gesetz für einen Nachtragshaushalt zur Einführung von grundlegenden Änderungen des Rentensystems genutzt wurde, was schlimme Folgen für das Leben von Millionen von Bürgern hat.“
Nun wäre die Linke am Zug
Konstruktive Alternativperspektiven fordert Documento:
„Die politische Mitte, die derzeit von Macron repräsentiert wird, verliert an Stärke, während die politische Linke einen Teil des dadurch entstehenden Vakuums füllt. Jetzt liegt der Ball bei der Linken und ihrem Anführer Jean-Luc Mélenchon, einen politischen Vorschlag mit einer Alternative zum neoliberalen Modell Macrons zu präsentieren. Dieser Vorschlag muss jedoch nicht nur national, sondern auch international Bestand haben und die Interessen Brüssels sowie Washingtons berücksichtigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Raum für eine extrem rechte politische Bewegung geschaffen wird, die wie beim jüngsten Erfolg von Giorgia Meloni in Italien versuchen könnte, die politische Landschaft zu dominieren.“
Unterstützung der Schweigenden sichern
Der in Bedrängnis geratene Staatschef muss auf diejenigen setzen, denen die Proteste zu weit gehen, findet L'Opinion:
„Im Sturm des Gefechts zu reagieren zählt nicht zu seinen Stärken und allen Regierungen graut es davor, sich ihr Handeln von Ereignissen vorschreiben zu lassen. Da die kommunikationsgetriebene Gesellschaft aber verlangte, dass er sich umgehend äußert, musste er dies riskieren, um zumindest seine Positionen zu verteidigen, seine Reform zu bestätigen und die Franzosen auf seine Seite zu holen, die sich wegen der Gewalt auf der Straße und den Blockaden der Streikenden ängstigen. Dieses schweigende und besorgte Volk ist nunmehr sein bester Verbündeter.“
Alle gegen den Präsidenten
Einen typischen Macron hat Stefano Montefiori, Paris-Korrespondent von Corriere della Sera, gesehen:
„Staatsmännischer Mut und Verantwortungsbewusstsein für diejenigen, die ihn schätzen. Sturheit und Elfenbeinturmsyndrom für seine immer zahlreicher werdenden Gegner. Nur kurz versucht der ehemalige Investmentbanker auf die Stimmung des Volkes einzugehen, als er den 'Zynismus einiger großer Unternehmen' erwähnt. Der Ausdruck scheint eine Antwort auf den Grundvorwurf dieser Monate zu sein, nämlich dass die Last von Reformen immer dieselben, die weniger wohlhabenden Bürger trifft, ohne die Rekordgewinne der Großkonzerne und die Millionärsgehälter ihrer Manager anzutasten. ... Macron hat auf Macron gemacht, und das bringt seine Gegner auf die Palme.“
Politische Mitte ist weggebrochen
Der Konflikt um die Rentenreform offenbart ein Dilemma, schreibt Politikberater Henrique Burnay in Expresso:
„Der Vandalismus in den Straßen Frankreichs und die mangelnde Bereitschaft der Franzosen, 2030 erst mit 64 Jahren in Rente zu gehen, sind die geringsten Probleme Macrons und Frankreichs. Das große Problem, für das keine offensichtliche Lösung in Sicht ist, ist das politische Vakuum in der Mitte. ... Glücklicherweise findet morgen in Frankreich keine Wahl statt. Aber wenn es eine gäbe, könnte das Ergebnis katastrophal sein. Wer auch immer gewänne, das Land würde aus dem europäischen Konsens und aus der großen Mitte herausfallen. Solange das nicht geschieht, können und sollten diese Proteste eine Lehre für die anderen Mitgliedstaaten der EU sein.“
Der Regierung droht die Blockade
Macrons Auftritt war nicht gerade produktiv, urteilt der Tagesspiegel:
„Im Fernsehen war ... ein unaufgeregter, energiegeladener Präsident zu erleben, der ein klares Programm hat und sich nicht aufhalten lassen will - auch nicht von unwilligen Parlamenten oder zornigen Sozialpartnern. ... Kein Wort der Reue oder ein verbales Signal, das es den Gegenseiten psychologisch erleichtern könnte, wieder von den selbst errichteten Barrikaden herunter zu kommen. ... Dass er damit die seit Jahren wachsende Unzufriedenheit mit der Repräsentativität im politischen System angeheizt hat, scheint ihm egal zu sein. Dass dies womöglich zu einer längeren Blockade auch seines Regierens führen könnte, dürfte ihm eigentlich nicht egal sein.“
Wirklich gefährlich wird es bei der nächsten Wahl
Paul Ackermann, Frankreich-Korrespondent von Le Temps, warnt:
„Die echte Gefahr stellen nicht die Proteste der nächsten Tage dar, sondern [das Wahljahr] 2027. Die Polarisierung und Dramatisierung der Debatte ins Extreme durch die, die auf Gewalt setzen, und die Isolierung der Regierung lassen das Lager der Vernunft verkümmern und führen zu einem für Frankreich katastrophalen Präsidentschaftsduell zwischen Jean-Luc Mélenchon als Verkörperung der aufständischen Wut und einer immer salonfähigeren Marine Le Pen, die nach außen hin Sicherheit verspricht. ... Oder zu einer Konfrontation zwischen ihren Erben, falls sie nicht selbst antreten. Richtet man seinen Blick zu sehr auf die brennenden Müllhaufen, läuft man Gefahr, die wahre Brandgefahr zu vergessen. Vielleicht facht man sie so sogar an.“
Der große Reformer verspielt seine Beliebtheit
Népszava kommentiert:
„Präsident Macron war mutig genug, diese Reform in seiner zweiten Amtszeit umzusetzen. Mehrere seiner Vorgänger hatten das zwar versucht, doch keiner von ihnen wagte es schließlich, solch umfangreiche Veränderungen vorzunehmen. Macron will als großer Reformer in die Geschichtsbücher eingehen, aber er könnte durch die Kürzung der Rentenjahre, die den Franzosen 'heilig' sind, als einer der unpopulärsten Präsidenten der Geschichte enden.“
Polizei sät Sturm, Orkan könnte folgen
Die Kluft zwischen Bürgern und Regierenden ist für Evrensel viel zu groß geworden:
„Die autoritären Tendenzen zeigen eine Regierung, die sich vom Volk distanziert, dessen Meinung missachtet und in ihrer Arroganz vergessen hat, dass sie die Vertreterin der Wähler ist. Die von der Polizei angewandte Gewalt bestärkt diesen Anschein noch. Die Polizei sät nicht Wind, sondern Sturm und kann dafür einen Orkan ernten. Ob die Arroganz, die Repression und die Gewalt hier die Oberhand gewinnen oder sich die Entschlossenheit der Demonstranten durchsetzt, wird sich zeigen. ... In der Zwischenzeit ist es nicht unwahrscheinlich, dass Macron [Premierministerin] Elisabeth Borne opfert, um sich selbst zu retten.“
Taube Ohren machen wütend
Auch für Politiken stehen die Zeichen auf Konfrontation:
„Macron wurde 2017 mit dem Versprechen gewählt, das französische Volk zu vereinen. Stattdessen ist es unter ihm so gespalten wie seit Jahrzehnten nicht mehr - und die Proteste, die dieser Tage durch Frankreich rollen, sind größtenteils die Wut darüber, nicht gehört zu werden. Frankreich hätte etwas Besseres verdient, aber im Moment ist der Weg nach vorne schwer zu erkennen. 'Wie kann man ein Land regieren, das 262 Käsesorten hat?' Das fragte vor vielen Jahren ein frustrierter Charles de Gaulle. Emmanuel Macrons brutale Methoden in den letzten Tagen haben es nur noch schwieriger gemacht.“
Bitterer Sieg
Es ist für Macron jetzt nicht die Zeit für einen Freudentanz, urteilt The Economist:
„Das Resultat dürfte sich für Macron wie ein wertloser Sieg anfühlen. Es ist gelinde gesagt bedauerlich, dass die Reform nicht im normalen parlamentarischen Prozess gebilligt werden konnte. Diese Episode wird den Ruf Macrons verstärken, dass er einen herrischen Regierungsstil habe. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Ifop ist seine Popularität von einem Hoch mit 41 Prozent nach seiner Wiederwahl, auf nun 28 Prozent gefallen. Das ist ein Tiefpunkt, wie er ihn zuletzt zur Zeit der Gelbwesten-Proteste erlebte. Eine ähnliche Volksrebellion kann deshalb nicht ausgeschlossen werden.“
Ruinöse Stümperei
Macron und Premierministerin Borne geben ein jämmerliches Bild ab, kritisiert Libération:
„Sie beweisen seit zwei Monaten ihre Stümperei, indem sie ein hingeschludertes Vorhaben verteidigt haben. Wie selten zuvor haben sie das Parlament geschwächt. ... Nötig gewesen wäre es, dessen Image aufzuwerten. Sie haben das Gegenteil gemacht. Der Präsident und seine Premierministerin haben zudem maßgeblich dazu beigetragen, den Graben zwischen Bürgern und Politik weiter zu vertiefen. Nebenbei haben sie dem [rechtsradikalen] Rassemblement National und der rechtsextremen Verschwörungsbewegung, die sich über jede politische Krise freut, den Weg bereitet.“
Die Reform macht Sinn, die Empörung nicht
Diário de Notícias kann die anhaltenden Proteste gegen die Rentenreform nicht nachvollziehen:
„Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre sollte angesichts der höheren Lebenserwartung von uns allen eine Frage des gesunden Menschenverstands sein. Aber das geht gesellschaftlich nicht durch. Die Franzosen empören sich über alles. Selbst wenn die soziale Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass auch die Jungen von heute im Alter noch in den Genuss von Sozialleistungen kommen, darunter leidet. ... Nicht zuletzt, weil die Antwort der Regierungen, die Gesellschaft zu beschwichtigen, immer auf der gleichen unhaltbaren Lösung beruht: mehr öffentliche Schulden in einem alternden, weniger wettbewerbsfähigen Europa, das zu zerbrechen droht.“
Neue Art der Kohabitation nötig
Die konservativen Les Républicains müssen ihre Strategie ändern, schreibt L'Opinion:
„Frankreich ist rechts, es wählt rechts und gleitet immer weiter nach rechts. Bildung, Gesundheit, Ökowende, Zuwanderung, Sicherheit, Schuldenbekämpfung: Bei all diesen Themen vertritt Emmanuel Macron mit jeder Äußerung eine rechte Position. … Die Lage [der Konservativen] hat sich nunmehr verändert: Die tief gespaltene Fraktion ist keine mehr und ihr Fortbestehen ist bedroht. Sie müssen sich nun selbst retten. Es bleibt eine Chance, Einfluss auszuüben: ein Regierungsprogramm aushandeln. Eine Art Kohabitation neuer Art, die sich mehr auf gemeinsamen Aufbau statt auf Konfrontation stützt.“
Paris ist nicht Budapest
Anders als die regierungsnahe ungarische Presse behauptet, ist Frankreich trotzdem weitaus demokratischer als Ungarn, betont der Publizist Szabolcs Szerető in Magyar Hang:
„Dass Macron die Legislative umgangen hat, erinnert an die illiberale Machtausübung Orbáns. Doch auch wenn Macrons Schritt zweifellos antidemokratisch ist, hebt er die französische Tradition des öffentlichen Rechts nicht auf. Zudem war die Rentenreform ein zentrales Thema in Macrons Wahlprogrammen. Ich weiß nicht, ob der Präsident oder die protestierende Masse als Sieger aus diesem Konflikt hervorgehen werden, sicher ist aber, dass die französische Gesellschaft in der Lage ist, ihre Interessen gegenüber den Machthabern zu artikulieren.“
Den einzig richtigen Weg erkannt
The Times lobt Macrons Unbeirrbarkeit:
„Es ist Zeit, in den sauren Apfel zu beißen. Frankreich kann sich seine luxuriöse Altersvorsorge nicht länger leisten. Wenn nichts unternommen wird, könnte das staatliche Rentensystem bis 2050 ein Defizit von 790 Milliarden Pfund [rund 900 Milliarden Euro] angehäuft haben. ... Macron sieht die Rentenreform zu Recht als notwendig an und zwar nicht nur, um das Rentensystem zu retten. Wie Großbritannien braucht auch Frankreich seine älteren Arbeiter. Nur 56 Prozent der 55- bis 64-Jährigen sind erwerbstätig. In Deutschland sind es hingegen 72 Prozent.“
Macron destabilisiert Frankreich
Der Staatschef schadet dem Land, kritisiert der Chefredakteur von Libération Dov Alfon:
„Emmanuel Macron hat alle Eier zerschlagen, die er im Kühlschrank hatte, doch es ist ihm nicht gelungen, ein Omelett zuzubereiten. Von der Liste wird einem schwindelig: unverschämte Lügen ab der Vorstellung der Reform, geheime Mauscheleien für die Verabschiedung im Parlament, Hunderte willkürlich abgelehnte Änderungsanträge, die arrogante Ablehnung, die Gewerkschaften zu treffen, die Verachtung für eine der größten Protestbewegungen der Geschichte der Fünften Republik. … Was jetzt bevorsteht: Verschärfung der Proteste, Ablehnung der Institutionen der Republik und Öffnung einer populistischen Bresche, in die sich die extreme Rechte stürzen könnte.“
Le Pen kann sich die Hände reiben
Für den Tagesspiegel ist das Vorgehen Macrons eine politische Katastrophe:
„[D]ie Reform wird in der Bevölkerung als unsozial massiv abgelehnt, seit Wochen gibt es Massendemonstrationen und Streiks, die Gewerkschaften sind geeint wie selten zuvor. Und nun soll ausgerechnet dieses umstrittene und verhasste Gesetz auch noch am Parlament vorbei verabschiedet werden, weil es dort keine sichere Mehrheit gibt? Das kann das Vertrauen der Franzosen in die Demokratie und die Institutionen nur massiv erschüttern. Die Hände reiben kann sich nur Marine le Pen und ihre rechtsextreme Partei.“
Gewagtes Spiel
Das Vorgehen Macrons ist aus mehreren Gründen riskant, warnt La Stampa:
„Erstens ist klar, dass Frankreich nicht in einer Finanzkrise steckt, die mit derjenigen vergleichbar ist, die Italien 2011 traf, als die Regierung Monti per Dekret die Rentenreform verabschiedete. … Wenn man eine Finanzkrise heraufbeschwört, obwohl man sie nicht wirklich durchlebt, macht das eine bei der Bevölkerung unbeliebte Maßnahme kaum akzeptabel. Zweitens setzt Macron seine eigene Glaubwürdigkeit ernsthaft aufs Spiel, denn der Einsatz von Sondervollmachten erfordert die politische Stärke und Konsequenz, hinterher keinen Rückzieher zu machen.“
Das Land scheint zum Stillstand verdammt
Wegen der heftigen Widerstände gegen die Reform macht sich Le Figaro Sorgen um das Land:
„Ist es noch reformierbar? Ist es zum Stillstand verdammt in einer Welt, die sich ständig weiterbewegt? Diese Rentenreform, die aufgrund der demografischen Entwicklung unerlässlich geworden ist, stellt gar keine so große Zumutung dar! Verglichen mit den von unseren Nachbarn durchgeführten Rentenreformen ist sie sehr gemäßigt. Und dennoch stellt sie die Gesellschaft auf den Kopf, die von Gewerkschaftern angestachelt wird, die zum Teil davon träumen, 'die Wirtschaft in die Knie zu zwingen'. Am Donnerstag hat die Regierung die harte Methode zur Verabschiedung ihrer Reform angewandt. Diese hat jedoch den Beigeschmack eines Scheiterns.“