Ausschreitungen in Frankreich: Cui bono?
Die Proteste sind zwar abgeflaut, doch die Erschießung des 17-jährigen Nahel M. bei einer Polizeikontrolle und die Gewaltausbrüche danach beschäftigen Frankreich und Europa weiter. Auf einem Treffen versprach Präsident Macron 220 Bürgermeistern ein Gesetz zum schnellen Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und langfristige Antworten. Kommentatoren beschäftigt, wie die Ultrarechten aus der Krise Kapital schlagen könnten.
Extreme Rechte gewinnt, Migranten verlieren
Für Karar sind die Gewinner und Verlierer der Proteste in Frankreich eindeutig:
„Die Hauptnutznießer dieser Krise sind rechtsextreme sowie Anti-Immigrations-Parteien in Frankreich und anderswo auf der Welt, einschließlich der Türkei. Die Verlierer werden die ethnischen und religiösen Minderheiten aus den ehemaligen Kolonien sein, die in den Vororten der französischen Städte leben. Dazu kommen die Migranten, die künftigen Flüchtlinge, die versuchen, das Mittelmeer in behelfsmäßigen Booten zu überqueren, wobei dieser Gruppe die Bezeichnung 'irregulär' angehängt wurde. Frontex wird wahrscheinlich schweigen, während immer mehr Migranten ertrinken, und es wird wieder zu humanitären Katastrophen kommen.“
Nicht auf Radikale und Gewalttäter hören
Die Situation in Frankreich erfordert eine Besinnung auf europäische Werte, meint El Mundo:
„All dies passiert in einem Land, das politisch zersplittert ist. Emmanuel Macron fehlen die Wurzeln einer traditionellen Partei. Die Krise kommt auch seiner Hauptrivalin Marine Le Pen zugute, während am anderen Ende Jean-Luc Mélenchon den Klassenkampf anheizt. In Spanien versucht [die rechtsradikale Partei] Vox, aus den Ereignissen in Frankreich Kapital zu schlagen, indem sie einen einwanderungskritischen Diskurs wiederbelebt, der an Dämonisierung grenzt. Angesichts solcher populistischen Versuche, einfache Lösungen für komplexe Probleme zu finden, müssen europäische Werte wie Koexistenz und Respekt gestärkt werden. Das sind auch die Werte der französischen Republik, die derzeit durch ungerechtfertigte Gewalt untergraben werden.“
Ein Erfolg Le Pens wäre gegen polnische Interessen
Der Historiker und Publizist Jarosław Kuisz hält in Interia die Schadenfreude einiger polnischer Politiker über Frankreichs Integrationsprobleme für kurzsichtig:
„Der scharfsinnigste Kommentar zu den Unruhen wurde von einem Influencer aus den Vorstädten, Riadh Senpai, veröffentlicht. ... Er warnte davor, dass die Ausschreitungen politisch gegen die Menschen in den Vorstädten verwendet werden würden. Implizit heißt das: Marine Le Pen wird gewinnen. ... Ich weiß nicht, worüber sich unsere Politiker freuen. Denn der Influencer hat recht. ... Sollte Le Pen an die Macht kommen, was durchaus möglich ist, werden wir uns schnell daran erinnern, wie einst russisches Geld auf die Konten ihrer Partei floss und wie sie später 'zufällig' den Anspruch des Kremls auf die Krim bestätigte.“
Macron könnte Boden gutmachen
Im Gegensatz zu Teilen der Opposition hat sich Präsident Emmanuel Macron in der jüngsten Phase der Unruhen gut geschlagen, findet L'Opinion:
„Diese kritischen Ereignisse lassen das Land noch etwas weiter nach rechts rutschen. Es ist klar, dass Marine Le Pen davon profitiert, doch die Linke, die unter der Fuchtel des Nupes-Bündnisses steht, hat eine absolut schwache Leistung hingelegt, geprägt von Spaltungen und Zweideutigkeiten gegenüber den Randalierern. Im Gegensatz dazu könnte die Beherrschung, mit der Emmanuel Macron die Krise zusammen mit seinem Innenminister Gérald Darmanin gemanagt hat, ihm einen neuen Aufschwung erlauben.“
Schwer, die Straßengewalt einzudämmen
Český rozhlas sieht Frankreichs Regierung vor der schwierigen Frage,
„wie die Gewalt gestoppt werden kann, die die Behörden aus Angst vor weiteren Schäden zwingt, beispielsweise den öffentlichen Nahverkehr einzustellen oder nächtliche Ausgangssperren zu verhängen. Ein reiner Sicherheitsansatz ist nur begrenzt hilfreich, da sich in der Öffentlichkeit in den letzten wirtschaftlich schwierigen Jahren viel Frust angesammelt hat. Auch der politische Weg ist nicht einfach. Präsident Macron werden nicht nur die Sünden seiner Vorgänger vorgeworfen. Er hat sich auch selbst höchst unbeliebt gemacht, etwa bei der Durchsetzung der Rentenreform trotz Massenprotesten.“
Auf die Stimme der Vernunft hören
Nahels Großmutter könnte ein Vorbild für die Öffentlichkeit sein, meint Válasz Online:
„Was wäre nötig, um die noch größeren Probleme zu verhindern? Kurzfristig auf jeden Fall mehr Stimmen der Vernunft, wie die der Großmutter des bei der Polizeikontrolle erschossenen Jungen. Die trauernde Verwandte rief den Mob dazu auf, Nahels Tod nicht als Vorwand für Angriffe auf Behörden, Schulen und öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Und obwohl die Großmutter verständlicherweise wütend auf den verhafteten Polizisten ist, vertraue sie auf die Justiz, und dass diese auch diejenigen bestraft, die jetzt Straftaten begehen.“
Empathische Ansprache gefordert
Die Ausschreitungen sind für Aftonbladet auch eine Reaktion darauf, dass für den Staat ein Junge aus der Vorstadt nicht viel wert zu sein scheint:
„Was die Demonstranten hören wollen, ist, dass das Leben von Nahel – einem Vorstadtbewohner – genauso wichtig ist wie das eines Bürgermeisters, eines Feuerwehrmanns oder eines Polizisten. Weil es so ist. Nahels Tod ist kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr ereilte 13 Menschen ein ähnliches Schicksal. Die Mehrheit der Erschossenen waren Nicht-Weiße. Für sie gibt es keine Liberté, Égalité oder Fraternité. Stattdessen gibt es eine Polizei. Und einen Präsidenten, der behauptet, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu stehen.“
Spaltungsdynamik endlich umkehren
Die Gräben sind tiefer, als viele wahrhaben wollen, analysiert Berlingske:
„Ein Teil der französischen Bevölkerung weigert sich, Teil der Republik zu sein, von der andere träumen, um sich dort niederlassen zu können. ... Man kann die Gewalt nicht mit Armut oder strukturellem Rassismus erklären, wie es Politiker der extremen französischen Linken tun. Es hat auch keinen Sinn, soziale Medien oder Videospiele dafür verantwortlich zu machen, wie Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen hat. Die Franzosen müssen herausfinden, wie sie das jahrzehntelange Fortschreiten in Richtung Spaltung und Parallelgesellschaften umkehren können. Nicht nur die Republik muss wieder zusammenkommen. Es ist die französische Nation.“
Von Großbritannien lernen
Efimerida ton Syntakton blickt auf die andere Seite des Ärmelkanals:
„Frankreich hat eine kolonialistische Mentalität in Bezug auf die Einwanderung, wo es von afrikanischen Einwanderern im Wesentlichen nationale Loyalität gegenüber der französischen Flagge verlangt. Im Gegensatz dazu scheint das britische Modell mit seinem kosmopolitischen Ansatz die Eingewanderten inzwischen viel reibungsloser in Gesellschaft und Staatswesen integriert zu haben (man achte darauf, was im englischen Parlament aus Politikern werden kann, die von Einwanderern abstammen). ... Schlussfolgerung: Die Kluft zwischen Bürgern und Politikern muss zum Wohle von uns allen verkleinert und nicht zugunsten einiger weniger Gruppen oder Eliten vergrößert werden. Dies sollten wir auch für Griechenland im Hinterkopf behalten.“
Niemand hat sich wirklich gekümmert
Mindestens seit den großen Ausschreitungen im Jahr 2005 wusste man in Frankreich, dass man dieses Problem lösen muss, erinnert Večernji list:
„Obwohl Frankreich seitdem mehrere Präsidenten und Regierungen gewechselt hat und das Land eine große Wirtschafts- und Finanzkrise überwunden hat, danach auch die europäische Flüchtlings-, Sicherheits- und Gesundheitskrise, ist die Situation in den Vorstädten der großen französischen Städte scheinbar gleich oder sehr ähnlich geblieben wie vor zwei Jahrzehnten. ... Die Gewalt in den Vorstädten bestätigt den Misserfolg der Integrationspolitik und bezeugt systematischen Rassismus innerhalb der Polizei, womit sich keine französische Regierung ernsthaft beschäftigt hat.“
Nicht als Einzelfall abtun
Die französische Polizei muss systematisch unter die Lupe genommen werden, fordert Dagens Nyheter:
„Mehrere Studien belegen die ethnische Diskriminierung bei der französischen Polizei. Auch international gibt es seit Längerem Kritik – unter anderem an exzessiver Gewalt, etwa im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen das erhöhte Rentenalter, aber auch an Racial Profiling, religiöser Intoleranz und Angriffen auf Einwanderer. ... Für Frankreich ist es natürlich verlockend zu erklären, dass es hier um einen einzelnen Polizisten und seine Taten geht. Aber das wäre ein Fehler. Das gesamte System muss bis in die dunkelsten Ecken beleuchtet und gereinigt werden.“
Frankreich ist farbenblind
Ethnische Herkunft offiziell zu ignorieren kann auch als staatliches Vertuschen interpretiert werden, so The Times:
„In einer Republik, die sich der Egalität verschrieben hat, dürfen Unterschiede in der ethnischen Zuschreibung offiziell nie anerkannt werden. Man hat sogar einen englischen Neologismus übernommen: 'colour-blindness'. ... Von noch größerer Bedeutung ist, dass französische Institutionen keine Daten zur ethnischen Zugehörigkeit erheben dürfen. Jeder weiß, dass die Hochschulen, aus denen die französische Elite stammt, nicht-weiße Menschen diskriminieren. Es ist aber verboten, Daten zu sammeln, die das beweisen würden. ... Von den Banlieues aus gesehen ist 'colour-blindness' nichts anderes als staatliche Vertuschung.“
Vernachlässigte Polizisten
Die Kleine Zeitung ortet viele Probleme bei der französischen Polizei:
„Nicht von ungefähr ist Polizist ein Problemberuf in Frankreich. Schlecht ausgebildete und ausgestattete Uniformierte werden in Rekordzeit in den Einsatz geschickt - seit den Attentaten 2015 siebenmal so viele. Die Polizistinnen und Polizisten sind schlecht bezahlt, ausgebrannt. Alarmierend viele Uniformierte begehen in Frankreich seit Jahren Suizid. Gesprochen wird darüber wenig. So gern Präsident Emmanuel Macron eine starke Polizei propagiert: Auch er hat diese Berufsgruppe vernachlässigt.“
Ansteckungsgefahr ist real
Público zieht den Vergleich mit dem Aufruhr in den USA nach der Tötung von George Floyd:
„Es handelt sich um dieselbe Bipolarisierung und dieselbe Erbsünde: das Fehlen sozialer Antworten oder öffentlicher Maßnahmen auf die konkreten Probleme der am stärksten benachteiligten Sektoren der Gesellschaft. Es gibt ein Problem in Frankreich, und die Gefahr einer Ansteckung in einigen europäischen Ländern ist real. Solange die Machthaber glauben, dass das wahre Problem in den Tausenden von angezündeten Autos, den Hunderten von Verhaftungen und den sozialen Netzwerken liegt, werden die protestierenden Jugendlichen nicht abrüsten.“
Der George-Floyd-Moment der Franzosen
Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, steht am Ursprung der meisten Banlieue-Krawalle, erläutert Der Standard:
„So war es schon bei den 'historischen' Unruhen von 2005, als zwei [S]chüler in Clichy-sous-Bois bei ihrer Flucht vor der Polizei umkamen. Erschwerend kommt heute dazu, dass im Unterschied zu 2005 ein Video zirkuliert, das kaum Zweifel zulässt. Sein emotioneller Impakt ist in den französischen Banlieue-Vierteln so groß wie das Video vom Tod George Floyds. ... Und von den leidenschaftlichen Emotionen bis zum Volksaufruhr ist es in Frankreich, dessen republikanisches Fundament die ebenfalls in den Straßen ausgetragene Revolution von 1789 bildet, kein weiter Weg.“
Kein organisierter politischer Druck
Die Wutausbrüche in den Banlieues haben einen entscheidenden Nachteil gegenüber anderen Protesten in Frankreich, analysiert Le Temps:
„[Die Proteste dort] erfolgen vor dem Hintergrund einer wirtschaftlich-sozialen Problemlage, die jegliche Perspektive verschließt. Doch anders als die anderen sozialen Aufschreie in Frankreich fällt es denen in den Banlieues schwer, sich zu organisieren, sich in einen dauerhaften politischen Druck zu verwandeln, was die Vermutung nahelegt, dass sie langfristig auch weiterhin kein Gehör finden. Dass sie sporadisch bleiben. Bis zum nächsten Drama.“
Wenig hat sich geändert
Politische Profiteurin der Unruhen dürfte Marine Le Pen sein, glaubt die Welt:
„Die nächste Wahl ist 2027 ... . Dass Le Pen Chancen auf die Macht hat, liegt auch am Frust darüber, wie wenig sich nach 2005 verändert hat. Die Problemviertel waren Ziel teurer Stadtentwicklungs-Programme, aber nach wie vor liegen Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate weit über dem nationalen Schnitt. Übrigens: Wer glaubt, dass diese Probleme nur in Frankreich existieren, der sollte sich an die Berliner Silvester-Krawalle [bei denen es zu Angriffen mit Feuerwerk auf Polizei und Rettungsdienste kam] und die folgenden Debatten erinnern.“
Niemand darf bei einer Verkehrskontrolle sterben
La Vanguardia fordert Mäßigung auf beiden Seiten:
„Die Spannungen, mit denen die Ordnungskräfte in den Banlieues konfrontiert sind, sollten nicht verharmlost werden. Aber es ist klar, dass Frankreich überdenken muss, unter welchen Bedingungen die Polizei ihre Waffen einsetzen kann. Niemand sollte bei einer Verkehrskontrolle sterben. Das rechtfertigt aber nicht, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund das Gesetz in die Hand nehmen und ihren Unmut und ihre Wut bei Krawallen und Gewalt ausleben.“
Schlechte alte Tradition
Aus Sicht der Süddeutschen Zeitung hat Frankreich offensichtlich ein generelles Problem mit Polizeigewalt:
„[D]ie Zahl der Fälle, die eindeutig übergriffiges Verhalten der Sicherheitskräfte dokumentieren, [ist] kaum noch zu überblicken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Polizei aufgerüstet wurde mit Gummigeschossen und anderen umstrittenen Waffen. ... Die Polizei in Frankreich, das hat schlechte alte Tradition, schützt nicht in erster Linie die Bürger. Sie schützt den Staat. Diese Grundhaltung durchdringt alle Einheiten, von den Sondereinsatzkräften bis hin zu Verkehrskontrolleuren. Deeskalation ist vielen fremd. Solange sich daran nichts ändert, werden sich solche Vorfälle wiederholen. Und es wird nicht aufhören mit der Gewalt. Auf beiden Seiten.“
Legitime Wut
Man sollte den Protestbewegungen Verständnis entgegenbringen, fordert Libération:
„Man muss die Proteste nicht gutheißen, aber man muss sie verstehen. Für einige sind sie die einzige Möglichkeit, wie sie so auf die doppelte Ungerechtigkeit - von Brutalität und Straflosigkeit – aufmerksam machen können, dass sie wahrgenommen werden. Wenn das Gesetz den Sicherheitskräften erlaubt, ihre Schusswaffen auch dann einzusetzen, wenn sie nicht aus Notwehr handeln, muss die Gesellschaft zumindest das Recht auf legitime Wut anerkennen.“
Schwarz-Weiß-Denken hilft nicht weiter
La Tribune de Genève kritisiert die unfruchtbare Debatte über das Thema:
„Es ist eine Tatsache: Es gibt Polizeigewalt und sie entzieht sich oft dem Gesetz. … Doch auf der anderen Seite steht das Opfer, der junge Nahel, den der Fußballspieler Kylian Mbappé 'einen kleinen Engel' nennt. … Der 'kleine Engel' war, zumindest an diesem Morgen, ein Straftäter, der bewusst ein Risiko eingegangen ist. Er hat dafür viel zu teuer bezahlt, aber wenn er sich nicht ans Steuer gesetzt hätte, würde er noch leben. Wenn er auf die Polizei gehört hätte, würde er noch leben. In der politischen Debatte in Frankreich werden diese beiden Wahrheiten nie zusammen betrachtet. Arme, traurige Debatte, die nur zu weiterer Gewalt führt, weil jeder nur die Gewalttaten des anderen sehen will.“