Importverbote: Wankt Europas Solidarität mit Kyjiw?
Der Streit über Importverbote für ukrainische Agrarprodukte in einige EU-Länder spitzt sich zu. Ukraines Präsident Selenskyj kritisierte vor der UN Polen für dessen mangelnde Solidarität. Warschau bestellte daraufhin den ukrainischen Botschafter ein und Premier Morawiecki stellte in einem Interview sogar bestimmte Waffenlieferungen infrage. Der Streit gärt auch in anderen Ländern, zeigt der Blick in Europas Presse.
Niedertracht ändert nichts an gemeinsamen Interessen
Interia ist enttäuscht, stellt das enge Bündnis mit der Ukraine aber nicht infrage:
„Die Äußerungen von Wolodymyr Selenskyj, wonach Polen, während es sich mit Solidarität schmückt, in Wirklichkeit Moskau den Weg bereitet, waren menschlich niederträchtig. Politiker können zwar niederträchtig sein, aber gegenüber der Niedertracht darf man nicht gleichgültig sein, sonst wird sie sich wiederholen. Ändert das etwas an der Tatsache, dass die Ukraine geopolitisch gesehen für Polen auf Jahre hinaus einer der wichtigsten Verbündeten ist? Nein.“
Ukrainisches Getreide kostet Stimmen
Investmentbanker Serhi Fursa schreibt in NV:
„Das ukrainische Getreide stört die polnischen Landwirte nicht wirklich. Aber sie nutzen es, um mehr Geld für sich zu bekommen. Geld, das sie wegen des Rückgangs der Getreidepreise auf dem Getreidemarkt nicht verdient haben. Dies ist in der Tat auf die Rückkehr des ukrainischen Getreides auf den Weltmarkt zurückzuführen. Und die hat sich natürlich auch auf die Preise ausgewirkt, zu denen die polnischen Landwirte ihr Getreide verkaufen können. Die Machthaber in Polen kommen ihnen auf halbem Weg entgegen, denn das ist ihre Wählerschaft. ... Es ist die Regierungspartei Polens, die Stimmen für die Wahlen braucht. Wie ein Mann, der am Ertrinken ist.“
Rumänien steht erst im nächsten Jahr vor Wahlen
Warum Bukarest das Thema im Moment noch entspannter verhandeln kann, analysiert der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„In Rumänien stehen erst Ende des kommenden Jahres Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an, so dass die Aspekte, die die Ukraine betreffen, nicht die gleiche Wahlsensibilität wie in Polen oder der Slowakei haben. Aber dennoch gewinnt in Rumänien derzeit die nationalistische Partei der extremen Rechten, AUR, an Zulauf, die prorussische Positionen vertritt und in ihrem Parteiprogramm die Vereinigung aller Rumänen in einem einzigen Staat propagiert, einschließlich der Nordbukowina, die zur Ukraine gehört.“
Bulgarien ist zu nachgiebig
Sofia sollte ebenfalls auf Einfuhrbeschränkungen beharren, fordert Duma:
„Nach den Polen, Ungarn und Slowaken haben nun auch die Kroaten Selenskyj und der EU die rote Karte gezeigt. ... Ja, sie werden der Ukraine weiterhin helfen, aber wenn es um die heimische Produktion und die eigenen Bauern geht, ändert sich die Politik radikal. ... Wir hingegen haben bereits nachgegeben. Immer bereit, unser großes Herz und Mitleid für Ausländer in Not zu zeigen. Man könnte glauben, in unserem abgequälten Land sei alles in Ordnung, die Menschen hätten keine Probleme, wir können es uns leisten, Getreide von fragwürdiger Qualität aus einem Land zu importieren, in dem Krieg geführt wird und der Boden verseucht ist.“
EU sollte Getreide in ärmere Länder verkaufen
Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma beschreibt Deník:
„Wenn die Ukraine durch den Export ihres Getreides nicht zu Geld kommen soll, dann muss sie das Geld auf anderem Weg von uns bekommen. Deshalb ist es wahrscheinlich besser, wenn wir zumindest das Getreide aus der Ukraine beziehen. Wir müssen einfach in der Lage sein, sinnvoll mit ihm umzugehen. Vielleicht könnten wir es als EU kostengünstig in Drittwelt-Länder exportieren, wo es bereits heute fehlt und wahrscheinlich auch weiterhin fehlen wird.“
Rückkehr zur Milch- und Fleischwirtschaft schwierig
Der Streit um die ukrainischen Weizenexporte zwingt die Slowakei zu einer neuen Landwirtschaftspolitik, konstatiert Pravda:
„Die Ukraine ist de facto schon in die EU integriert. Die slowakischen Bauern verlieren damit den deutschen, österreichischen und italienischen Markt, weil ukrainischer Weizen günstiger ist. Wenn sich Getreide und Soja nicht verkaufen lassen, dann müssen wir sie zu Milch und Fleisch verarbeiten. ... Die Tierhaltung galt bei uns als selbstverständlicher Teil der Landwirtschaft und des ländlichen Lebens. Heute sieht die slowakische Landschaft jedoch anders aus. Die meisten Dörfer blieben ohne Bauernhöfe, die Tiere wurden geschlachtet. ... Wenn wir das wieder verändern wollen, wird das schmerzhaft sein.“