Pisa: Wo schwächelt Europas Bildung?
Am Dienstag sind die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie nach der Corona-Pandemie veröffentlicht worden. Getestet wurden rund 690.000 Lernende im Alter von 15 oder 16 Jahren aus 81 Staaten. Gegenüber früheren Erhebungen haben die Leistungen in den meisten Ländern abgenommen. Die obersten Plätze belegen fast durchweg ostasiatische Staaten - aber auch Estland. Rege Diskussion in Europas Presse.
Kinder sind nicht dümmer, sondern ärmer geworden
Bulgariens Schüler belegen innerhalb der EU in der Pisa-Studie den letzten Platz in Mathematik und den vorletzten im Lesen. Die sozialen Verhältnisse, in denen die Kinder aufwachsen, sind ein zu wenig beachteter entscheidender Faktor, meint Trud:
„Es gibt keinen Absturz bei den Prüfungsergebnissen der bulgarischen Kinder. Die Leistungen der Schüler, die wir als Schüler mit 'gutem sozioökonomischem Status' klassifizieren, entsprechen in etwa denen ihrer Altersgenossen in den Spitzenländern und weisen im Laufe der Jahre keine besonderen Veränderungen auf. Die Fehlentwicklung liegt im demografischen Verhältnis zwischen diesen Kindern und den weniger gut situierten, aber das ist ein Thema, für das wir noch nicht bereit zu sein scheinen.“
Landesweite Prüfung wäre gute Idee
Iltalehti wünscht sich, dass Bildung wieder ein höherer Stellenwert eingeräumt wird:
„Ganz konkret ließe sich die 'Staatsprüfung' ausprobieren, die in Estland durchgeführt wird und die jeder junge Mensch [in der 9. Klasse] zum Ende der Gesamtschule ablegen muss. … Ein landesweiter Test würde die Schulen dazu veranlassen, ergebnisorientierter zu arbeiten, und die Schüler ermutigen, sich stärker anzustrengen. Eines der wichtigsten Geheimnisse des Pisa-Siegers Singapur ist seine Kultur: Die Eltern der Kinder legen mehr Wert auf Bildung als in anderen Ländern. 'Es ist eine Frage der Werte: Bildung ist das Wichtigste und deine Zukunft', sagte ein OECD-Experte kürzlich über die Einstellung der Singapurer zur Schulbildung. In Finnland ist diese Einstellung in den letzten Jahren verloren gegangen.“
Lehrergehälter zentrale Frage
Kolumnist Mart Soidro beklagt in Õhtuleht, dass die Regierung die Ehre für die guten Pisa-Ergebnisse für sich beansprucht, die geforderte Gehaltserhöhung für Lehrer aber ignoriert:
„Wie eine ironische Wendung des Schicksals wurde diese Woche bekannt gegeben, dass die estnischen Schüler beim Pisa-Test den vierten Platz in der Welt und den ersten Platz in Europa erreicht haben. Diese Ehre gebührt natürlich vor allem Kaja Kallas, die sicherlich gern den Preis abholen möchte. Die Lehrer hingegen sollen im Winter Schnee fressen und im Sommer Gras kauen. Ich entschuldige mich für meine zynische Bemerkung, aber ich bin wirklich überrascht, dass die Ministerin für Bildung und Forschung mit ihrem Antrag für die Lehrergehälter in der Regierung allein gelassen wurde.“
Estlands Erfolg ruht auf vielen Schultern
Estland hat in Europa am besten abgeschnitten. Kein Selbstläufer, mahnt Eesti Päevaleht:
„Wieder einmal können wir stolz auf unser Bildungssystem sein, das zu den besten der Welt gehört. Zugegeben, Estlands Leistung ist ein wenig schlechter als 2018, aber es scheint, dass die Pandemiezeit andere Länder noch härter getroffen hat. Man muss zugeben, dass wir nicht wirklich wissen, was hinter Estlands Pisa-Erfolg steckt. Wir alle haben mehr oder weniger dazu beigetragen: Schüler, Lehrer, Eltern und der Staat. ... Viele der Lehrer, die dazu beigetragen haben, werden in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen. ... Wenn wir uns jetzt nicht darum bemühen, sie durch ebenso begabte und fleißige Menschen zu ersetzen, werden wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen.“
Suche nach Schuldigen beginnt
Helsingin Sanomat macht gesellschaftliche Veränderungen für immer schlechter werdende Pisa-Ergebnisse verantwortlich:
„Der Pisa-Bericht leitet in Finnland nun erneut eine Suche nach Ursachen und Schuldigen ein. Ein Konsens wird sicher schwer zu erreichen sein und wir wissen auch nicht, warum Finnland vor 20 Jahren so gut war. Ein Teil der Verantwortung für den Abwärtstrend liegt bei den Schulen und den dort durchgeführten Reformen, die bereits kritisch hinterfragt werden. Estland hat Fehler Finnlands vermieden. Der schlechteren Pisa-Ergebnisse sind wahrscheinlich eher auf sich wandelnde Werte und das Zeitmanagement in der Gesellschaft zurückzuführen, eine Entwicklung, die schwieriger umzukehren ist.“
Kroatien nicht besser als die anderen
Kroatien sollte sich nichts darauf einbilden, dass es in den Bereichen Naturwissenschaften und Lesekompetenz den OECD-Durchschnitt sieben Jahren früher als erwartet erreicht hat, erklärt Jutarnji list:
„Nicht Kroatien hat sich dem OECD-Durchschnitt angenähert, sondern die schlechteren Ergebnisse der anderen Länder (meist wegen des Stundenausfalls während der Pandemie) haben den Durchschnitt abgesenkt zu Gunsten unserer Ergebnisse. ... Wenn wir von jemandem lernen sollten, dann sind das Deutschland und Estland. Die Schlussfolgerung im Hinblick auf beide Ländern ist dieselbe: Die Lehrer sind der Hauptgrund für gute Ergebnisse der Schüler. Doch nicht einfach irgendwelche Lehrer [, sondern gute, motivierte].“
Erwachsene schulden Schülern eine Reform
Die Pisa-Studie zeigt auch in Slowenien einen Wissensrückgang. Deswegen ist die Tatsache, dass das Land in Mathematik und Naturwissenschaften über dem OECD-Durchschnitt liegt, kein Anlass für Tatenlosigkeit, meint Primorske novice:
„Jede Verzögerung von Veränderungen wird den jungen Menschen am meisten schaden, die in den Arbeitsmarkt eintreten, eine Familie gründen und alles andere tun, was das Erwachsenenleben mit sich bringt. ... Und sie werden diesen Weg als Erwachsene betreten, die nicht wissen, wie man Kreditrisiken berechnet, ihr Handeln nicht auf den Schutz der Umwelt ausrichten oder vielleicht die Gebrauchsanweisung für Geräte nicht verstehen. Der Staat, das Bildungssystem, Lehrer und Erwachsene im Allgemeinen schulden ihnen Reformen.“
Gezielte Förderung, wo sie benötigt wird
Die gestiegene Zahl der Migranten ist keine Entschuldigung für die schlechten Ergebnisse in Deutschland, betont das Handelsblatt:
„Länder wie Italien, die Türkei und Portugal haben es geschafft, sich bei Pisa kontinuierlich zu verbessern, obwohl die Migration aus politischen und ökonomischen Gründen weltweit explodiert ist. Wir nicht. Die Ursachen sind fehlende Sprachförderung, fehlende gezielte Betreuung von Migranten, aber auch von schwachen deutschen Schülern, und fehlende Kita-Plätze. ... Unser System hat bereits 20 Prozent Schulversager 'produziert', die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, als der Migrantenanteil noch bei einem Zehntel lag.“
Bitte an einem Strang ziehen
Über das Hü und Hott in der französischen Bildungspolitik ärgert sich Le Monde:
„Aufgrund der ständig wechselnden Reformen, müssen sich die Lehrer oft widersprüchlichen Anordnungen unterwerfen. ... Wem soll man folgen? Emmanuel Macron, der die Autonomie der Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen betont? Oder seinem Bildungsminister, der eine nationale Norm für das Wiederholen von Klassenstufen und die Bildung von Klassengruppen festlegen will? Die Inkonsistenz ist so groß, dass es unmöglich ist, die Pisa-Ergebnisse mit einer bestimmten Politik in Verbindung zu bringen.“
Note Ungenügend in Chancengleichheit
Das relativ gute Schweizer Gesamtergebnis darf nicht über das starke Leistungsgefälle hinwegtäuschen, analysiert Le Temps:
„Der Durchschnitt wird von einer großen Gruppe sehr guter Schüler nach oben gezogen. Doch die Pisa-Studie zeigt auch, dass ein Viertel der Schüler die Mindestanforderungen nicht erfüllt. Das ist sehr viel und die Kluft zwischen den Klassenbesten und dem Rest wird immer größer. Die Studie weist vor allem auch auf einen beunruhigenden Zusammenhang hin: Schüler aus privilegierten Verhältnissen erzielen die besten Ergebnisse, während die aus prekären Verhältnissen stammenden Schüler ihren Status als Leistungsschwache bestätigen. Die Schule ist da, um zu bilden und zu lernen. Jedoch auch, um allen Schülerinnen und Schülern die gleichen Chancen zu bieten.“
Kaum woanders ist die Kluft so tief wie in Ungarn
In einer Kategorie belegt das Land leider wieder einen der schlechtesten Plätze, bedauert hvg:
„Die Studie hat erneut das besorgniserregendste Problem des ungarischen Bildungssystems bestätigt, das seit vielen Jahrzehnten besteht: Es gelingt ihm nicht, die gesellschaftlichen Unterschiede zu verringern. Der Leistungsunterschied zwischen Kindern aus verschiedenen Familien ist enorm. Kinder aus den am meisten benachteiligten Verhältnissen haben bei dem jüngsten Pisa-Test 121 Punkte weniger erreicht als Kinder aus den besten Verhältnissen, was im internationalen Vergleich sehr schlecht ist. Der OECD-Durchschnitt lag bei 93 Punkten.“
Mehr analoger Unterricht
Auch die dänischen Schülerinnen und Schüler haben bei der Pisa-Studie schlecht abgeschnitten. Politiken setzt auf weniger Bildschirm-Zeit:
„Die Corona-Krise liegt hinter uns und Schulschließungen werden bei einer neuen Pandemie hoffentlich vorsichtiger gehandhabt. Allerdings sind Bildschirme nach wie vor ein fester Bestandteil des Alltagslebens. Es muss nachdenklich stimmen, dass dänische Schulkinder einen Rekord bei der Bildschirmnutzung haben. ... 3,8 Stunden sitzen dänische Schulkinder in der Schule vor einem Bildschirm; fast doppelt so viel wie der Durchschnitt in anderen Ländern. ... Die deprimierende Nachricht über die sinkenden Bildungsergebnisse zeigt deutlich, in welche Richtung es gehen sollte: weniger Bildschirm, mehr Schule.“
Slowakei taugt bald nicht mal mehr als Werkbank
Die Ergebnisse im eigenen Land entsetzen Pravda:
„Mehr als 30 Jahre nach der Revolution können wir uns nicht mehr mit dem postkommunistischen Erbe herausreden. Polen oder insbesondere Estland zeigen, dass auch Länder im Wandel Kindern eine qualitativ hochwertige Bildung bieten können. Die Ergebnisse könnten diesmal auf Covid zurückzuführen sein. Aber wie lässt sich dann erklären, dass die umliegenden V4-Länder und Österreich überdurchschnittliche Ergebnisse erzielten? Wir machen einfach etwas falsch, und wenn wir es nicht rechtzeitig merken, werden wir mit der Zeit nicht einmal eine 'verlängerte Werkbank' sein, weil es uns an qualifizierten Arbeitskräften mangelt.“