Erdoğan in Athen: Plötzlich wieder Freunde?
Der türkische Präsident Erdoğan ist am Donnerstag zu Gesprächen nach Griechenland gereist. Noch vor einem Jahr dominierten Kriegsdrohungen zwischen Ankara und Athen, nun zeichnet sich eine Annäherung ab. Der griechische Premier Mitsotakis und Erdoğan unterzeichneten eine gemeinsame Erklärung für "gute nachbarschaftliche Beziehungen". Wieviel diese taugt, beurteilen Kommentatoren sehr unterschiedlich.
Heuchlerischer Schmusekurs
Athen sollte vorsichtig sein, warnt Phileleftheros:
„Natürlich sind wir froh, dass ein Schritt der Verständigung erreicht wurde, sodass ein positives Klima geschaffen werden kann und die gefährlichen Spannungen endlich ein Ende haben, aber es scheint eher ein Witz zu sein als eine positive Veränderung. Es ist, als ob Athen in einer rosaroten Wolke lebt und nicht merkt, dass der Sultan wieder einmal Griechenland benutzt, weil es ihm passt. ... Wegen der Krise, die er in den vergangenen Jahren mit Drohungen und Provokationen selbst geschaffen hat, ist es schwierig, 'Geschenke' von der Europäischen Union und Flugzeuge von den USA zu bekommen.“
Unverbindlich, aber historisch
Rzeczpospolita rekapituliert:
„Erdoğan warf Athen vor, Inseln in der Ägäis zu besetzen. Der Konflikt betraf auch die Rechte zur Ausbeutung der Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer und den Zustrom von Flüchtlingen aus der Türkei. ... Jetzt soll alles anders werden. Erdoğan hat seine Meinung geändert und sich einer Versöhnungsrhetorik verschrieben. Der türkische Machthaber konnte am Donnerstag gemeinsam mit Mitsotakis eine Erklärung über 'freundschaftliche Beziehungen und gute Nachbarschaft' unterzeichnen. ... Es handelt sich zwar nicht um einen rechtsverbindlichen Vertrag, aber er ist von wahrhaft historischer Bedeutung. Er kann die Grundlage für die Normalisierung der Beziehungen zwischen zwei wichtigen Ländern an der Südflanke der Nato sein.“
Hoffung auch für Nikosia
Cyprus Mail hofft auf eine positive Entwicklung – auch was die Zypernfrage angeht:
„Die guten Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei könnten sich auch positiv auf die Bemühungen um eine Wiederaufnahme der Zyperngespräche auswirken, heißt es aus Regierungskreisen in Nikosia. Die Tatsache, dass Erdoğan es während seines Besuchs vermied, die Zweistaatenlösung zu erwähnen, für die er sich seit geraumer Zeit einsetzt, und sich darauf beschränkte, über eine Lösung auf der Grundlage der Realitäten in Zypern zu sprechen, wurde als gutes Zeichen gewertet.“
Migrationsproblem als Indikator
Das härtere Vorgehen Ankaras gegen Schleuser und Migration hat zur Entspannung zwischen Griechenland und der Türkei beigetragen, glaubt Hürriyet:
„Eines der kritischsten Themen zwischen beiden Ländern ist die Frage der 'irregulären Migranten'. Dass Griechenland Migranten aus der Türkei in die Ägäis zurückgedrängt hat, als ob es sie zum Tode verurteilen würde, hat viel Kritik auf sich gezogen. Griechenland wiederum behauptete, die Türkei würde die Migranten instrumentalisieren. Die jüngsten Operationen gegen irreguläre Migranten und ihre Organisatoren sowohl an unseren Grenzen als auch in der gesamten Türkei haben auf Athen und die westlichen Länder positiv gewirkt. ... Sie haben signifikante Auswirkungen auf die Entspannung zwischen beiden Ländern gehabt.“
Der erste Schritt zum Win-Win
Den Worten müssen nun Taten folgen, findet Sabah:
„Es wäre gut, wenn Mitsotakis in einigen Monaten nach Ankara käme, um diese Atmosphäre aufrechtzuerhalten und die in vielen Bereichen - vom Tourismus bis zur Bildung - unterzeichneten Abkommen umzusetzen und das Vertrauen zwischen den beiden Ländern zu stärken. Die Erklärung von Athen ist ein wichtiges Dokument, in dem beide Seiten ihren Willen zu konstruktivem Handeln bekunden. Sie sollte nicht nur auf dem Papier stehen. Die Türkei und Griechenland haben in den letzten Jahren die Grenzen der Spannungen ausgetestet. Wenn sie sich nun an die Athener Erklärung halten, kann auf der Grundlage der 'nachbarschaftlichen Beziehungen' ein neues Kapitel aufgeschlagen werden.“
Hoffnungsvoller Neubeginn
Das Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten Erdoğan und dem griechischen Premier Mitsotakis steht unter einem guten Stern, meint Griechenland-Korrespondent Gerd Höhler in der Frankfurter Rundschau:
„Sie stellen die schwierigen Probleme wie den jahrzehntealten Streit um die Hoheitsrechte und Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer einstweilen zurück und konzentrieren sich auf Themen, bei denen eine Annäherung möglich ist: Kulturaustausch, Zusammenarbeit in der Wissenschaft, Begegnungen von Studierenden beider Länder. Zwischen europäischen Staaten gibt es all das längst. Für die 'Erbfeinde' Griechenland und Türkei sind es aber bedeutende Schritte. Sie können Vertrauen bilden.“
Es braucht Zugeständnisse von beiden Seiten
Das Webportal Protagon relativiert die Euphorie:
„Es stimmt, dass in der Zeit unmittelbar nach dem doppelten Wahlsieg der Nea Dimokratia ein vielleicht übertriebener Optimismus hinsichtlich einer möglichen Beilegung des griechisch-türkischen Rechtsstreits über die Abgrenzung des Festlandsockels und der ausschließlichen Wirtschaftszone kultiviert wurde. ... Entweder auf bilateraler Ebene oder durch eine Berufung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dies würde in der Tat einige Rückschritte für die griechische Seite bedeuten. Aber die Türkei müsste auch einige der großen, unangemessenen Forderungen vom Tisch nehmen. Wie zum Beispiel das türkisch-libysche Memorandum.“