Was sagen die Bauernproteste über Deutschland aus?
Die Bauernproteste in Deutschland gegen geplante Subventionskürzungen der Ampel-Koalition sind am Montag mit einer Großkundgebung in Berlin zu Ende gegangen. Dabei ging es vor allem um die Vergünstigungen für Agrardiesel, die die Regierung Scholz weiterhin streichen will. Kommentatoren aus dem europäischen Ausland analysieren anhand der Proteste die Stimmungslage im Land.
Breite Unzufriedenheit mit der Regierung
Die Proteste sind ein Schuss vor den Bug der Ampel, meint Der Standard:
„Es brodelt nicht nur auf den deutschen Bauernhöfen. Viele Deutsche stehen hinter den Protesten der Landwirte, die Unzufriedenheit mit der Ampelregierung quer durch Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten ist enorm. ... Die Proteste sollten der Ampel eine Warnung sein. Diesmal waren es hauptsächlich Bauern, die auf die Straße gingen. Wenn die Regierungsarbeit nicht besser wird, dann könnte Deutschland noch ganz andere Proteste erleben.“
Ampel bleibt ein Bündnis der Getriebenen
Das Tageblatt erwartet nichts mehr von dieser Regierung:
„[D]ie Art ihrer Beschlussfindung in Sachen Agrardiesel hat gezeigt, dass das Bündnis nicht dazulernt. Man kann einen politischen Fehler machen ... . Aber denselben Fehler immer wieder zu machen, ist fatal. Schon beim Heizungsgesetz hat die Koalition einen kommunikativen Super-Gau hingelegt, der am Ende ein ganzes Land verunsichert hat. Bei der Streichung von Steuervergünstigungen für die Landwirte ist es ähnlich gewesen – erst wurde über Nacht entschieden, dann gestritten, und irgendwann einmal erklärt. Wenn sich das nicht ändert, und es sieht ehrlicherweise nicht danach aus, bleibt die Ampel ein Bündnis der Getriebenen. Vermutlich dann nur noch bis zur Bundestagswahl 2025.“
Frankreich immer ähnlicher
Axess wirft einen kritischen Blick auf die Bundesrepublik:
„Als ob die Geduld der Deutschen nicht schon genug auf die Probe gestellt worden wäre, wurde das Land neulich durch einen landesweiten Zugstreik lahmgelegt. Nach drei Streiktagen rollten die Züge wieder, doch der Konflikt ist noch lange nicht vorbei. ... Die Infrastruktur in weiten Teilen Deutschlands ist in einem beklagenswerten Zustand. Dass das Nachbarland Frankreich von sozialen Unruhen und Streiks geprägt ist, ist keine Neuigkeit. Neu ist, dass Deutschland seinem Nachbarn in dieser Hinsicht immer ähnlicher zu werden scheint. Die Vorstellung von Deutschland als 'Stabilitätsanker' in der Mitte Europas fühlt sich so veraltet an wie schon lange nicht mehr.“
Maßlos und gefährlich
Der Tages-Anzeiger sieht eine Gefahr für die Demokratie:
„Die Proteste, die eine Woche lang andauern sollen, sind in Ausmass und Ton völlig überzogen. Bauern dürfen als Bürger, als Arbeitnehmer oder als Unternehmer demonstrieren, das gehört zur Demokratie. Aber wer ohne Mass und Rücksicht einzig für sich selbst kämpft, vor umstürzlerischen Parolen ebenso wenig zurückschreckt wie vor Allianzen mit rechtsradikalen Kräften, gefährdet am Ende die Demokratie. Manche Bauern treibt sichtlich die Lust am Niedergang an.“
Mit Subventionen in die richtige Richtung lenken
Die Frankfurter Rundschau hat Verständnis für die Protestierenden:
„Der Drang nach Billiglebensmitteln hat dafür gesorgt, dass sie oft nicht von ihren Produkten leben können, sondern in erheblichem Umfang Subventionen benötigen. Dass sie daher besonders empfindlich reagieren auf Kürzungen dieser Zuschüsse, die sie als 'Bauernopfer' empfinden, ist nur zu verständlich. Ein bloßes Einknicken vor ihren Forderungen kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Der Staat muss darauf achten, wohin er die Landwirtschaft mit seinen Subventionen lenkt – möglichst in Richtung einer ökologischen Politik, die den Einsatz von Pestiziden zurückdrängt.“
Rechter Beigeschmack
Večernji list warnt vor radikalem Gedankengut bei den Demonstrierenden:
„'Die Zeit wird kommen, wenn man den Volksverrätern den Prozess macht', schrie Max Schreiber, der als rechtsradikaler Extremist gilt. Manche deutsche Medien schreiben, extreme Parteien wollten die Demonstrationen in eine Traktor-Revolution mit Staatsstreich verwandeln. Die Demonstranten kritisieren die Führung während der Pandemie, die Migrationspolitik, die Hilfe für die Ukraine, und oft verherrlichen sie die AfD. Interessant sind auch Aufkleber mit der Aufschrift 'Die Grünen an die Ostfront'. Alles andere als angenehm für Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Minister aus den Reihen der Grünen.“
Finanziellen Spielraum erweitern
Die Bundesregierung muss sich vom Sparzwang der Schuldenbremse befreien, glaubt The Guardian:
„Die Partei, die am meisten von den sozialen Unruhen im Zuge der Sparpolitik profitiert, ist die ultrarechte AfD, die derzeit in den Umfragen bundesweit auf Platz zwei steht. ... Um die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft während des grünen Wandels an Bord zu halten und die strukturellen wirtschaftlichen Probleme anzugehen, die sich nach Russlands Einmarsch in die Ukraine aufgetan haben, braucht die Regierung dringend größeren finanziellen Spielraum. ... Sollte die Regierung an einem fiskalischen Dogma festhalten, das der Zeit nicht angemessen ist, dann wird sie nichts tun, um die aufgeheizte Atmosphäre abzukühlen.“
Tschechien sollte genau hinschauen
Lidové noviny merkt an:
„Aus tschechischer Sicht scheint es vor allem darum zu gehen, inwieweit die deutschen Bauern mit ihren Traktoren auch die Grenzübergänge blockieren werden. Wir sollten uns aber auch für den regierungsfeindlichen Protest als solchen interessieren. Schließlich lebt die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz mit ähnlichen Problemen und Haushaltszwängen wie die von Premierminister Petr Fiala. Und in beiden Ländern wenden sich die Wähler, auch die eigenen, von der Regierung ab. Fiala kann immerhin froh sein, dass er Streitigkeiten mit kultivierten Ärzten oder Lehrern zu klären hat, nicht mit rauer gestrickten Bauern oder Lokführern.“
Es braucht dringend Konstruktives aus Berlin
Verständnis für die Forderungen der Bauern hat The Spectator:
„Die Streichung lebenswichtiger Subventionen ohne vorherige Rücksprache bedeutet nicht nur, den Landwirten den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sondern auch einen Verstoß gegen demokratische Grundsätze – also genau das, was den disruptiven Landwirten vorgeworfen wird. ... Wenn die deutsche Regierung keine konstruktivere Antwort auf den Protest findet - oder eine solche nicht finden will - und nur mit Verurteilungen reagiert, muss sie auf noch weiter gehende Proteste ihrer Bauerngemeinden vorbereitet sein. ... In den Niederlanden hat ein ähnlicher Mangel an Respekt und fairer Behandlung gegenüber dem Agrarsektor wiederholt zu Störaktionen der Landwirte geführt.“
Mal halblang machen
Dass es einem Großteil der Landwirtschaft alles andere als schlecht geht, betont der Tagesspiegel:
„Sie ist nach einem jahrzehntelangen, vielerorts zweifellos schmerzhaften Strukturwandel eine durchaus potente Branche, die zudem einiges mehr an Beihilfen, Zuschüssen und Kreditvergünstigungen bekommt als andere Sektoren im Mittelstand. Es rumpeln ab Montag auch keine alten Traktoren zu den Orten des Protests, sondern es rollen geschwinde Hightech-Fahrzeuge, die teuer in der Anschaffung sind. ... Man möchte ihnen zurufen: Macht mal halblang. Die Ampel, muss man sagen, hat das getan. Jetzt wären die Landwirte an der Reihe.“
Zustände wie in den USA und Frankreich
Die Blockade einer Fähre, auf der sich Bundeswirtschaftsminister Habeck befand, ging für Die Neue Zürcher Zeitung zu weit:
„Die Aktion der Bauern verschärft das Diskursklima in Deutschland in einer Weise, die an das tief gespaltene Amerika oder auch an Frankreich erinnert. ... Gewiss, Habeck und die gesamte Ampelkoalition haben ihren Anteil am beschädigten Diskurs: mit ihrer Schwerhörigkeit, ihrer ideologischen Politik und ihrer phrasenhaften Überheblichkeit. Noch nie war eine bundesrepublikanische Regierung so unbeliebt, und man versteht, warum. An diesem Januarabend im nassen und dunklen Schlüttsiel aber waren es die Demonstranten, die den Eindruck vermittelten, jeder Austausch sei sinnlos.“
Selbstversorgung sollte uns etwas wert sein
Die Proteste der Bauern stellen Fragen an uns alle, schreibt die Berliner Zeitung:
„Wie viel Landwirtschaft wollen wir und was ist sie uns wert? ... Wer immer nur auf den Preis und den Weltmarkt schaut, bekommt nun mal Billigprodukte, die in Ländern mit viel niedrigeren Umweltstandards sowie unter oft schändlichen sozialen Bedingungen hergestellt werden. Außerdem zeigte sich mit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg, wie schnell es zu Lieferengpässen und Hamsterkäufen kommen kann, wenn gewohnte Lieferketten aus Billiglohnländern abreißen. Das zeigte uns, wie wichtig die Selbstversorgung sein sollte. Wenn am Ende der Proteste nicht nur über Bauerndiesel diskutiert wird, sondern auch über eben die Frage der Selbstversorgung, hätte sich der Protest gelohnt.“