Gemeinsame EU-Verteidigungspolitik: Geht das?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen möchte im Fall ihrer Wiederwahl einen EU-Verteidigungskommissar einsetzen und die Rüstungspolitik der Mitglieder besser koordinieren. Denn Russlands Aggressivität und eine mögliche Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus bedeuten für Europa eine neue Gefahrenlage. Die Presse debattiert, ob die EU das Zeug zum Sicherheitsbündnis hat.
Es gibt kein wichtigeres Ziel
Der Politikwissenschaftler Piotr Buras gibt sich in Polityka zuversichtlich:
„Europa gibt bereits ein Vielfaches mehr für das Militär aus als Russland. Aber die EU-Länder müssen über ihren Schatten springen, wenn es um die Unterschiede in der Bewertung von Bedrohungen und das damit verbundene begrenzte gegenseitige Vertrauen geht. Diese Unterschiede sind der Grund dafür, dass wir - trotz aller Fortschritte - immer noch kollektiv am Boden liegen. Es gibt heute kein wichtigeres Ziel, auf das sich die europäischen Staats- und Regierungschefs, einschließlich der polnischen Regierung, konzentrieren sollten. Wenn es erreicht wird, könnte sich sogar Trump als nicht so furchterregend erweisen, wie wir ihn uns heute vorstellen.“
Verteidigungskommissar in weiter Ferne
Die Presse glaubt nicht, dass die EU eine gemeinsame Linie findet:
„'Verteidigungskommissar' klingt für manche Beobachter sofort nach 'EU-Verteidigungsminister'. ... Man kann natürlich lange und eifrig darüber philosophieren, ob es eine EU-Armee geben soll. Nur legt Artikel 42 Absatz 2 des EU-Vertrages recht nüchtern dar, wie weit der Weg dorthin wäre: 'Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat.' Ein einstimmiger Beschluss, gemeinsame Verteidigungspolitik für die EU von Brüssel aus zu machen? Viel Erfolg all jenen, die darauf wetten wollen.“
Schluss mit der Kleinstaaterei
Vorerst mangelt es an einer strukturierten Zusammenarbeit innerhalb der EU, moniert das Handelsblatt:
„Wie sonst lässt sich erklären, dass niemand in Europa wirklich genau sagen kann, wie viel Artillerie ungenutzt in den Depots verstaubt, weil eine zentrale Datenerfassung fehlt? Es gibt Lichtblicke wie die 'European Sky Shield Initiative' (ESSI), die eine europäische Luftabwehr vorsieht. Doch gleichzeitig wartet die Rüstungsindustrie noch immer auf langfristige Verträge für die Artillerie. ... Eine langfristige gemeinsame Planung, Beschaffung und Finanzierung auf EU-Ebene ist daher das Gebot der Stunde. Nur so bekommt die teilweise noch immer viel zu zögerliche Rüstungsindustrie das klare Signal, dass sie nach dem Hochfahren der Produktionskapazitäten nicht auf ungenutzten Beständen sitzen bleibt.“
Geeinte nukleare Abschreckung
In Le Temps wird die atomare Aufrüstung Europas gefordert:
„Europa muss seine eigene nukleare Abschreckungsstrategie entwickeln. ... Die Ukraine, die auf die nach der Auflösung der UdSSR auf ihrem Boden verbliebenen Atomwaffen verzichtete, hat nun auf die harte Tour gelernt, dass Sicherheitsgarantien nicht ausreichen, um mögliche russische Angriffe abzuschrecken. Jedes Land, das über Kernkraftwerke und das notwendige wissenschaftliche Know-how verfügt, ist in der Lage, relativ schnell eigene Waffen zu entwickeln. Frankreich könnte zudem anbieten, sein technologisches Know-how mit anderen europäischen Ländern zu teilen. Diese Wiederbewaffnung Europas mag radikal erscheinen, aber die Herausforderung ist existentiell.“