Europawahl: Rechtsaußen auf dem Vormarsch?

Eine gute Woche vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 9. Juni sagen Umfragen einen markanten Stimmenzuwachs bei den rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien der Fraktion ID (Identität und Demokratie) voraus: Sie könnten zusammen mit der Fraktion EKR (Europäische Konservative und Reformer), zu der auch die Fratelli d'Italia gehören, auf über ein Fünftel der Sitze kommen. Kommentatoren erörtern mögliche Folgen.

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In (GR) /

Mittelschicht und Arbeiter brauchen Alternative

Das Webportal In bemängelt eine Lücke im politischen Angebot:

„Solange in Europa nicht wieder eine linke und fortschrittliche Volkspartei aufgebaut wird, die in der Lage ist, die Radikalität des dringend notwendigen Wandels in einer Zeit vielfältiger Krisen mit Realismus und effektiven Regierungen zu verbinden, so dass die Mittelschichten und die Arbeiterklasse einen Bezugspunkt erhalten, wird die Krise der europäischen Idee weitergehen und die extreme Rechte wird weiter an Boden gewinnen.“

Večer (SI) /

Es braucht dringend ehrlichere Politik

Večer plädiert für proeuropäische Parteien, jedoch mit Vorbehalt:

„Eine Stimme für die Populisten ist eine Stimme für den langsamen Tod der europäischen Idee. Die einzig realistische Alternative besteht daher darin, für die proeuropäischen, prodemokratischen Kräfte zu stimmen, auch wenn diese in letzter Zeit einiges vermasselt haben. Aber man sollte ihnen nicht mehr blind vertrauen. Sie haben das nicht mehr verdient. Wahlen, die den Populismus in die Schranken weisen, sind nur der erste Schritt. Es gilt, von ihnen eine deutlich bessere, ehrlichere und vertrauenswürdigere Politik zu fordern. Sonst wird den Populismus in fünf Jahren niemand mehr stoppen können.“

El País (ES) /

Koalitionen für die Menschenrechte bilden

Die Umweltwissenschaftlerin Friederike Otto fordert in El País eine Wahl gegen Rechtsaußen:

„Die AfD, die FPÖ oder die Fratelli d'Italia versuchen, die Errungenschaften der Vergangenheit in Sachen Gleichberechtigung abzubauen und Bürgerrechtsbewegungen auszubremsen. ... Bei diesen Europawahlen geht es nicht darum, eine Partei zu finden, mit der man hundertprozentig einverstanden ist, sondern darum, Koalitionen für die Menschenrechte zu bilden. ... Niemand hat das Recht, den Zynismus siegen zu lassen und Europa zu einem Ort zu machen, an dem totalitäre Strukturen wieder wachsen können. Auch wenn uns viele Parteien frustrieren: Nichtstun ist keine Alternative. ... Wir haben Macht. Nutzen wir sie!“

republica.ro (RO) /

Vor der Wahl ist nicht nach der Wahl

Die konservative EVP könnte künftig mit den Rechtsaußenparteien gemeinsame Sache machen, befürchtet republica.ro:

„Offiziell hält die EVP an der Idee eines Cordon sanitaire fest, um die Rechtsextremen im EU-Parlament zu isolieren. Abseits der Öffentlichkeit bereiten sich die EVP-Abgeordneten, die sich sicher sind, dass sie ein neues Mandat bekommen werden, bereits darauf vor, mit den Rechtsextremen in mehreren Bereichen zusammenzuarbeiten, auch ohne formelle Vereinbarungen. So ist es nunmal in der Politik: Das eine ist, was man den Wählern erzählt, um Stimmen zu bekommen, das andere ist, was man tut, um seine Macht zu festigen, nachdem das Volk einem ein neues Mandat erteilt hat.“

Der Spiegel (DE) /

Im Teufelskreis

Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome schwant nichts Gutes:

„Regierungsfähig wären sie [die Anti-Europäer] nie und nimmer, blockadefähig aber schon. ... [D]ie pro-europäische Parteien [werden] bei Klima, Sozialem und Wirtschaft die alten, wiewohl sehr lebendigen Differenzen zwischen den Rechts-Links-Lagern überbrücken müssen, um im parlamentarischen Alltag mit den Anti-Europäern zu bestehen. Die AfD-Strategen erhoffen sich gerade davon weiteren Zulauf der Genervten und Enttäuschten – und am Ende eine ebenso geschichts- wie gedankenlose Mehrheiten (sic) für Parteien, die keine Wahlen zum Europäischen Parlament mehr wollen. Darum ist es, wie es ist, tragisch nämlich: Diese Europa-Wahl könnte tödliches Gift für die nächste sein.“

Deutsche Welle (BG) /

Souveränismus schlecht für Bulgarien

Die europaskeptischen und rechtsextremen Parteien wollen die EU von innen aushöhlen, schreibt der bulgarische Dienst der Deutschen Welle:

„Auf dem Papier akzeptieren sie ihre Strukturen und Regeln und nutzen sie, um sie von innen heraus zu zerstören – unter dem Vorwand, dass man es besser machen will. Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass dies kein Vorwand ist, sondern eine innere Überzeugung der Politiker dieser Parteien, sollten wir uns etwas ganz Grundsätzliches fragen: Wird diese 'bessere EU' souveräner Staaten weiterhin so großzügig zu Bulgarien sein? Nein, das wird sie nicht.“

Expressen (SE) /

Stabile Mitte-Mehrheit war einmal

Der schwedischen EVP-Abgeordneten Sara Skyttedal wurde von ihrer Partei Redezeit und Unterstützung entzogen, seit bekannt wurde, dass sie im Juni für ein neues, EU-skeptisches Wahlbündnis antreten wird. Expressen ordnet dieses Durchgreifen so ein:

„Die Fraktionsvorsitzenden waren in der Vergangenheit selten strikt. Es gab Raum dafür, 'mit dem Herzen abzustimmen'. Das liegt aber daran, dass die großen Parteigruppen der Mitte (gemeinsam) bisher über eine stabile Mehrheit verfügen. ... Das ändert sich. Die Machtverhältnisse im Parlament sind bereits im Fluss. Nach den Wahlen im Juni, bei denen ein starker Aufschwung der extremen Rechten erwartet wird, wird es wahrscheinlich noch volatiler. So sieht sich die EVP-Fraktion gezwungen, in ihren eigenen Reihen hart durchzugreifen, um wichtige Entscheidungen durchzusetzen.“

IQ (LT) /

Längst nicht mehr randständig

In IQ vergleicht Kotryna Tamkutė, Kommunikationschefin des liberalen Thinktanks Lithuanian Free Market Institute, das Super-Wahljahr mit den Olympischen Sommerspielen:

„Die Analysten der schwedischen Denkfabrik Timbro haben errechnet, dass die Unterstützung für populistische Kräfte im Jahr 1950 bei etwa 10 Prozent lag. Bis 2023 stieg dieser Wert auf 27 Prozent. ... Wenn alle politischen Akteure diesen Sommer an der Eröffnung der Olympischen Spiele teilnähmen, würde ein Viertel von ihnen unter dem Banner der Populisten antreten. Auch die Wahlen [in europäischen Staaten] im vergangenen Jahr haben noch einmal bestätigt, dass wir in Zeiten leben, in denen das Wort Populismus nicht mehr nur ein Begriff, sondern eine Realität der politischen Ordnung ist.“