Wieviel Politik verträgt der ESC?
Beim diesjährigen Eurovision Song Contest standen weniger die musikalischen Beiträge im Zentrum der Aufmerksamkeit als Proteste gegen die Teilnahme Israels, auf der Bühne, im Publikum und vor der Veranstaltungshalle. Die European Broadcasting Union (EBU) hatte zuvor erneut betont, dass politische Inhalte beim ESC verboten sind.
Israels Image ist nicht ruiniert
Der israelische Unternehmer Arkadi Mayofis freut sich in einem von Echo übernommenen Telegram-Post über Platz zwei für Israel in der Publikumswertung:
„Dies kontrastiert mit den Nachrichten aus europäischen Städten, in denen fast ununterbrochen antiisraelische und nun auch explizit antisemitische Kundgebungen stattfinden. Erstens zeigt dies, dass es sich bei diesen Aktionen nicht um spontane Reaktionen besorgter Bürger handelt, sondern um speziell organisierte Veranstaltungen. ... Und zweitens, dass trotz der beispiellosen Informationsattacke auf Israel die öffentliche Meinung in Europa nicht beeinflusst wurde. Soweit zu Israels Niederlage im Informationskrieg: Wir haben ihn nicht verloren.“
Lobenswerte Standhaftigkeit der Veranstalter
Ein Ausschluss Israels hätte ein fatales Zeichen gesendet, meint Iltalehti:
„Bei den Protesten gegen Israel und die Beteiligung des Landes am ESC nahmen Menschen aller Couleur teil, von Bürgern, die wirklich Frieden forderten, bis zu Antisemiten und Hamas-Unterstützern. … Da der ESC vor allem ein jährliches Fest der Regenbogen-Community ist, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, ob alle, die beispielsweise in Malmö protestierten, sich darüber klar waren, was für homosexuellenfeindliche Gruppen sie unterstützten, indem sie forderten, Israel zur Rechenschaft zu ziehen. Die Europäische Rundfunkunion EBU hat richtig gehandelt, dass sie in dieser Situation nicht dem Druck nachgegeben hat, Israel auszuschließen.“
Der richtige Ort für Protest
Kritische Stimmen beim ESC auszublenden, findet In falsch:
„Die Verantwortlichen der EBU betonen bei jeder Gelegenheit, dass der Wettbewerb nichts mit Politik zu tun hat. ... Diese Haltung wurde in der Welt der Kunst oder des Sports mehr als einmal diskutiert, mit der 'politisch korrekten' Ausrede der Organisatoren, dass dies nicht die richtigen Orte seien, um politische Rivalitäten auszudrücken oder Slogans zu verbreiten, die stören könnten. Aber wenn dies nicht die richtigen Orte sind, wo sind sie dann? War das Berliner Olympiastadion 1936 kein geeigneter Ort, als Jesse Owens die angeblich überlegenen Arier demütigte?“
Am Ende geht es nur um Unterhaltung
Primorske novice knüpft keine politischen Hoffnungen an den ESC:
„In diesem Jahr brachte die EBU öffentlich ihre Unterstützung für Israel auf die übelste Art und Weise zum Ausdruck. Daher fragt man sich an dieser Stelle: Warum haben wir das Spektakel überhaupt verfolgt? Die Antwort ist ganz einfach: wegen der Unterhaltung. … Das Drama und das Chaos, die damit einhergehen, sind lediglich ein 'Mehrwert'. Letztes Jahr haben wir ukrainische Flaggen aufgehängt, dieses Jahr haben wir palästinensische Flaggen verboten. Werden wir nächstes Jahr taiwanesische Flaggen schwenken?“
Falscher Ort für Israel-Kritik
The Spectator schimpft angesichts der Proteste gegen die israelische Vertreterin:
„Eden Golan, die kaum älter als ein Teenager ist, wurde zum öffentlichen Gesicht des israelischen Kriegs in Gaza gemacht. Sie wurde quasi persönlich für die Kriegsführung Israels verantwortlich und haftbar gemacht. ... Sie ist eine Künstlerin, die im Namen des öffentlich-rechtlichen Senders ihres Landes in Malmö auftrat, nicht im Namen der israelischen Regierung. Solche Unterscheidungen scheint der protestierende Mob, der von seiner eigenen Art fanatischer Gewissheit durchdrungen ist, nicht zu begreifen.“
Ausschluss wäre konsequent gewesen
De Morgen fordert eine Neubesinnung bei der European Broadcasting Union:
„Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine zögerte der Organisator des größten Musikwettbewerbs der Welt nicht, den Aggressor fernzuhalten, vor der israelischen Gewalt drückt er unter dem Deckmantel politischen Neutralität ein Auge zu. Wenn die EBU weiterhin die Balance sucht in Zeiten, in denen jeden Tag Bomben auf unschuldige Bürger fallen, verliert sie den letzten Rest ihrer moralischen Glaubwürdigkeit. Es ist auch tragisch, dass die offenen Menschenrechtsverletzungen während der ESC-Übertragungen überhaupt nicht zur Sprache kamen. ... Wenn die Produzenten die Ruhe der früheren Veranstaltungen zurück haben wollen, müssen sie ihre Scheuklappen abnehmen und tun, was schon längst hätte geschehen müssen: Israel vom ESC ausschließen.“
Gefährliche Entwicklung
Die Wut der Protestierenden ist verständlich, aber sie sollte sich nicht gegen Einzelpersonen richten, kritisiert auch Libération:
„Alles ist blockiert, während die Bevölkerung in Gaza vor Hunger, Angst und Verlassenheit stirbt. Dass die Völker der ganzen Welt wütend auf den Zynismus der führenden Politiker Israels und der Hamas-Anführer sowie auf die Untätigkeit der westlichen und arabischen Regierungschefs sind, ist verständlich. Und sogar gesund. Dass sie fordern, dass zumindest ein palästinensischer Staat anerkannt wird, könnte die Dinge voranbringen. Dass sich diese Wut jedoch gegen Individuen richtet - egal ob Künstler oder nicht - weil sie ein Land, eine Religion oder eine Identität repräsentieren, ist nicht akzeptabel. Und furchtbar gefährlich.“
Make love, not war
Politiken begrüßt vor dem polarisierten Hintergrund die Botschaft des Siegerbeitrags:
„Es hat etwas Schönes und Hoffnungsvolles in der Tatsache, dass der Schweizer Nemo gewann, der davon sang, in der Hölle und zurück gewesen zu sein, aber schließlich den Code geknackt hat. Dass ein non-binärer Banger über die Identitätssuche aus einem erzkonservativen Land sowohl von den Jurys als auch den Zuschauern geliebt wurde und am Ende die Kriegsschreie und Kampflieder besiegte, das hat etwas Schönes und Symbolisches. ... Make love, not war. ... Oder wie Nemo es ausdrückte: Whoa-oh-oh, whoa-oh-oh.“
Fragwürdiges Gewicht der Jury
Wäre es nur nach den Publikumsstimmen gegangen, hätte der kroatische Beitrag Rim tim tagi dim von Baby Lasagna obsiegt. Večernji list stellt die Sinnfrage:
„Wenn man mit Musikexperten spricht, finden alle Nemos Lied gut, aber es ist legitim zu fragen, weshalb es Menschen ermöglicht wird, ihr Geld für das Abstimmen zu verbrauchen, wenn am Ende doch eine Jury entscheidet. ... Über die Macht in der EU entscheiden nur die Bürger, ohne irgendeine Jury, wieso können dann nicht die Bürger alleine für ein Lied des Jahres abstimmen? ... Wenn es weiterhin eine Jury im ESC geben soll, dann lasst uns auch eine für die Wahlen einführen und all diejenigen ausschließen, die irgendeinem europäischen Gremium nicht passen, alle Radikalen und diejenigen, die sich gegen das System wenden.“