Warum rückt Moskau in der Region Charkiw vor?
Russland hat in der Nacht zu Freitag eine Offensive gegen die nordöstliche ukrainische Grenzregion Charkiw gestartet. Rund 4.000 Menschen wurden evakuiert. Kyjiw vermutet ein Ablenkungsmanöver, damit ukrainische Truppen von der Front aus weiter östlichen Regionen abgezogen werden. Auch Medien diskutieren, was die Angriffe zu bedeuten haben.
Die Stadt ist vorerst sicher
Journalist Jurij Butussow analysiert in NV die Lage an der Front:
„Der Feind verlegt seine Reserven und setzt bedeutende Kräfte der Infanterie, gepanzerte Fahrzeuge sowie eine große Anzahl von Drohnen ein. ... Die Lage ist schwierig, der Feind hat die taktische Initiative. Aber unsere Front wird verstärkt. ... Eine Offensive auf Charkiw droht im Moment nicht, der Feind ist weit genug entfernt, seine Kräfte sind begrenzt und es gibt keinen schnellen Vorstoß. Der weitere Vormarsch der Russen hängt davon ab, welche Verluste ihnen in dieser Grenzschlacht zugefügt werden.“
Äußerst heikler Zeitpunkt für Ukraine
Die Moral der ukrainischen Truppen wird ausschlaggebend sein, meint der Politikanalyst Armand Gosu in Contributors:
„Entscheidend wird in den kommenden Monaten weniger die Menge der Munition und die Zahl der Flugabwehrraketen sein, sondern vielmehr die Fähigkeit der Ukraine, ausreichend kampffähige Truppen zu mobilisieren und auszubilden. … Seit Monaten haben die Menschen keine guten Nachrichten mehr erhalten. Sie beginnen, die Hoffnung zu verlieren. Durch die sechsmonatige Verzögerung der US-Hilfen ist die Moral auf einen historischen Tiefstand gesunken, ausgerechnet jetzt, wo die russische Großoffensive startet.“
Besetzte Gebiete als Verhandlungsmasse
Mit der Besetzung weiterer Gebiete im Norden der Ukraine will der Kreml seine Verhandlungsposition stärken, analysiert Glavkom:
„Es ist klar, dass die einflussreichen Teilnehmer der Friedenskonferenz in der Schweiz nach der Konferenz inoffizielle Kontakte zum Kreml haben werden. Das heißt, sie werden weiter sondieren und verhandeln. Deshalb will der Kreml möglichst viel Land erobern - und zwar auch strategisch wichtige Städte - damit er etwas zum Feilschen hat. Außerdem wird im Falle einer Waffenruhe (nicht des Friedens!) eine Zone zur Truppenentflechtung nötig sein. Und der Kreml versucht nun sicherzustellen, dass diese Zone vollständig auf ukrainischem Gebiet liegt.“
Dauerdebatten rächen sich jetzt
Die taz sieht eine Mitschuld bei den zu zögerlichen Partnern Kyjiws:
„Rechtzeitige Lieferungen von Abwehrwaffen in ausreichender Menge hätten es der Ukraine ermöglicht, alle großen Städte zu schützen, nicht nur Kyjiw. Während Trumps Marionetten in den USA monatelang die Militärhilfe für die Ukraine blockierten, verschwendeten Europäer kostbare Zeit mit Dauerdebatten etwa darüber, ob die Ukraine die Ausgangspunkte russischer Angriffe zerstören darf. Egal was Putin anrichtet - immer warnt irgendjemand in Berlin vor einer drohenden Eskalation, sobald jemand die reale Eskalation aufzuhalten versucht. Man kann aber nicht im Europawahlkampf mit 'Frieden' werben und zugleich Russlands Krieg hinnehmen. Jetzt entscheidet sich Europas Zukunft. In der Ukraine.“