Türkei-Frage spaltet die EU
Die EU-Staaten haben die Anschläge von Istanbul einhellig verurteilt. Uneins treten sie in Sachen Türkei-Beitrittsverhandlungen auf: Auf einem Treffen in Brüssel beschlossen die Außenminister, vorerst keine neuen Kapitel zu eröffnen. Österreich hingegen wollte diese komplett einfrieren und stimmte dem Beschluss nicht zu. Welchen Ton sollte die EU gegenüber Ankara anschlagen?
Kurz isoliert Österreich mit Türkei-Kritik
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat der Erklärung des Gipfels nicht zugestimmt - weil sie ihm nicht weit genug ging. Hierfür erntet er die Kritik der Tageszeitung Der Standard:
„Was für eine Großtat! Das mag ihm bei den Türkei- und EU-Feinden in Österreich Punkte bringen. Aber es war dennoch sein erster wirklich schwerer Fehler als Außenminister. So wichtig und richtig seine inhaltliche Kritik an türkischen Machthabern und Rechtsverletzungen in Ankara auch ist: Politisch hat er damit nichts erreicht - seit Juli. Österreich steht nun völlig isoliert da. Die Türkeiverhandlungen werden auch nicht 'eingefroren'; sie 'ruhen' ohnehin. EU-Kommissar Johannes Hahn hat die Wiener Obsession richtig benannt: 'eine künstliche Debatte.'“
Türkei und Westen in Trauer vereint
Die Terroristen konnten mit diesen Anschlägen keinen Keil zwischen die Türkei und den Westen treiben, urteilt die regierungstreue Star:
„Direkt nach den Terroranschlägen und ganz anders als nach dem Putschversuch kamen aus dem Ausland sehr viele Beileidsbekundungen und Verurteilungen. Da sie nicht immer kommen, ist diesen Aussagen Wert beizumessen. Viele der Erklärungen beinhalteten die Botschaft, dass das, was der Türkei angetan wurde, auch als Tat gegen einen selbst gesehen werde. Zudem fällt die Forderungen mancher auf, Terror als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten. Dies impliziert, dass der Anschlag vom 10. Dezember keinesfalls unterstützt wird und insbesondere die westliche Welt in diesem Punkt an der Seite der Türkei und ihrer Bürger steht. … Mit anderen Worten: Falls der Anschlag zum Ziel hatte, die ohnehin angeschlagenen Außenbeziehungen der Türkei weiter zu strapazieren, dann hat man genau das Gegenteil erreicht.“
Zeit für eine neue Nüchternheit
Nach dem Militärputsch und den Anschlägen nur im Blick zu haben, inwieweit Erdoğan zum Diktator geworden ist, zeugt von der Voreingenommenheit des Westens, meint der Tagesspiegel:
„Zwar wurden die Angriffe aus europäischen Metropolen pflichtschuldig verurteilt, vehementer jedoch fiel die Kritik an der Wehrhaftigkeit aus, frei nach dem Motto: Terror? Ist schlimm. Krieg gegen den Terror? Ist noch schlimmer. Dabei gebietet ein Mindestmaß an Fairness, beides im Blick zu haben: das jeweilige Verbrechen und die darauf folgenden Handlungen der Regierung. ... [Es] ist Zeit für eine neue Nüchternheit. Europa braucht die Türkei wegen der Flüchtlinge. Die Türkei braucht Europa, um ein Ziel seiner Entwicklung vor Augen zu haben. Die AKP als Modell für die Maghreb-Staaten und den Nahen Osten? Das hat sich erledigt. Faktisch beendet dürften auch die EU-Beitrittsgespräche sein. Keine Seite glaubt noch an deren gütliches Ende in absehbarer Zeit. Also muss nach Alternativen gesucht werden, eine Zollunion vielleicht oder eine enge Verknüpfung wie mit Nicht-EU-Mitglied Norwegen.“
Nicht zu lasch gegenüber Ankara werden
Europa muss Ankara weiter die Stirn bieten - um der Türken willen, mahnt Aftonbladet:
„Auf lange Sicht werden Erdoğans europafeindliche Rhetorik und seine offensichtliche Verachtung für die Werte der EU wie Demokratie, Pressefreiheit und Menschenrechte ein immer größeres Problem. Unter Erdoğan putinisiert sich die Türkei immer schneller und ein Ende ist nicht in Sicht. Entlang der östlichen Grenzen der EU, von Moskau bis Ankara, wird die liberale Demokratie immer stärker angegriffen. Aber Europa muss weiterhin Forderungen an die Türkei stellen, die Menschen dort verdienen ihre Freiheit. Und indem wir Journalisten, Oppositionellen und anderen, die zur Flucht gezwungen werden, eine Heimstatt bieten, halten wir die Hoffnung aufrecht, dass das Regime eines Tages fällt.“
Europa muss Finger von PKK lassen
Der PKK wird in Europa zu viel Einfluss gewährt - daran muss sich nach den brutalen Terroranschlägen von Istanbul endlich etwas ändern, fordert Hürriyet Daily News:
„Es ist wahr, dass die Türkei mit ihrem Kurdenproblem viel sensibler umgehen sollte. Die Tatsache, dass dies nicht passiert, gibt jedoch keiner Regierung oder Institution in Europa die Lizenz zur Nachsicht gegenüber einer Gruppe, die wahllos mordet. ... Viele Länder in Europa erlauben der PKK, offen von europäischem Recht zu profitieren, fördern ihre Propaganda mit Straflosigkeit, lassen sie Geld sammeln und neue Kämpfer für ihren Terrorfeldzug in der Türkei rekrutieren. ... Wenn manche glauben, Ankara damit in Schach halten oder sich vor PKK-Attacken auf eigenen Territorium schützen zu können, dann spielen sie ein gefährliches Spiel. Terrorgruppen als verdeckte politische Instrumente zu nutzen, gereicht letztlich niemandem zum Vorteil.“
Polizeistaat rückt immer näher
Nach den Anschlägen vom Samstagabend wurden rund 200 Politiker der kurdennahen HDP festgenommen. Dies zeigt einmal mehr die trostlose Lage der Türkei, bedauert Hämeen Sanomat:
„Die türkische Regierung hat einen neuen Grund bekommen für Repressalien, unter denen wahrscheinlich auch Unschuldige leiden müssen. Gleichzeitig rückt der Polizeistaat in der Türkei immer näher. Die Lage ist trostlos: Das Land hat sich zunehmend vom Weg der westlichen Integration entfernt. … Das Beispiel der Türkei zeigt, dass, wenn die Bedingungen günstig sind, in relativ kurzer Zeit eine Gesellschaft geschaffen werden kann, in der es nur eine Wahrheit gibt. … Im nächsten Jahr wird es wahrscheinlich weitere schlechte Nachrichten aus der Türkei geben. Vermutlich wird die Türkei die Todesstrafe wieder einführen und die EU-Beitrittsverhandlungen werden endgültig scheitern.“