May kündigt Neuwahl an
Überraschend hat Großbritanniens Regierungschefin Theresa May eine Neuwahl für den 8. Juni angekündigt. Damit wolle sie sich eine stabile Mehrheit für die Brexit-Verhandlungen sichern. Laut Umfragen liegen ihre Konservativen weit vor allen anderen Parteien. Geht Mays Strategie auf?
Großbritanniens autokratische Abenteuer
Mays Strategie ist zutiefst undemokratisch, kritisiert De Standaard:
„May löst ein politisches Erdbeben aus, das ihr eine ungeheure parlamentarische Mehrheit sichern soll. ... Das Parlament würde dann eine Applausmaschine für die Premierministerin werden und ein Sterbehaus für die dezimierte Minderheit. ... Gleitet die ermattete Demokratie in Westeuropa unhaltbar ab in autokratische Abenteuer? Oder braucht sie dringend Injektionen von Tatendrang und Effizienz? ... Bei der notwendigen politischen Erneuerung muss das Kräftegleichgewicht und die Kontrolle von Macht immer Vorrang haben.“
Labour hat einzigartige Chance verpasst
Warum Labour in den Umfragen derzeit weit abgeschlagen hinter den Tories liegt, erklärt der Politikwissenschaftler Vasilis-Konstantinos Fouskas in Efimerida ton Syntakton:
„Sie haben die einzigartige Gelegenheit verpasst, beim Brexit-Referendum eine klare Position gegen die EU des deutschen Autoritarismus einzunehmen, indem sie keinen konkreten linken, sozialistischen Ausweg aus der Krise vorschlugen. ... Sie hätten damit viele Wähler gewinnen können. ... Sie hätten gemeinsam mit den Schotten und [der irisch-republikanischen Partei] Sinn Féin eine verbindende Plattform des linken sozialistischen Patriotismus bilden können. ... 2016 hätte Corbyn der europäischen und globalen Linken einen Neubeginn anbieten können, wie es Thatcher 1979 für die europäische und globale Rechte getan hat.“
Armes instrumentalisiertes Wahlvolk!
Die Wähler sind unberechenbar, bemerkt Le Soir und warnt die britische Premierministerin davor, sich des Sieges in der vorgezogenen Parlamentswahl allzu sicher zu sein:
„Theresa May sucht die Unterstützung, die sie bei vielen Bürgern zu finden glaubt, und festigt damit ihren harten Brexit-Kurs innerhalb der eigenen Partei und des Parlaments, mit dem sie die Verhandlungen mit der EU durchstehen muss. Aber die Taktik, auf eine Wahl zurückzugreifen, um die eigene Macht zu zementieren oder eine größere Mehrheit zu erreichen, ist schon bei so manchem europäischen Premier nach hinten los gegangen. ... Armes Volk, arme Bürger, die da zum Spielball dieser Demokraten werden, die den Wähler für ihr Machtkalkül manipulieren. Ist es da erstaunlich, wenn das 'Stimmvieh' sich manchmal rächt?“
Labours Chancen nicht unterschätzen
Für Labour ist die Wahl noch nicht verloren, glaubt auch The Independent:
„Es wäre naiv, im Vorfeld dieser Wahl die Augen vor der Realität zu verschließen und zu erklären, dass Labour vor einem todsicheren Sieg steht. Doch in einem unberechenbaren politischen Klima sollte die Partei eine Chance haben. Man muss sich nur den kometenhaften Aufstieg des französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon auf der anderen Seite des Ärmelkanals vor Augen halten, um zu realisieren, dass die Linke angesichts des rechtsextremen Populismus erfolgreich sein kann. Dass Labour als Außenseiter in diese Wahl geht, steht jedoch außer Zweifel. ... Die Partei wird dann eine Chance auf den Wahlsieg haben, wenn sie die bitteren Streitereien sein lässt und sich auf das konzentriert, was eine Labour-Regierung bieten kann. Dass die Kritiker von Parteichef Jeremy Corbyn diesen weiterhin jagen, hilft niemandem.“
Starkes Mandat für May auch gut für die EU
Sollten die Tories die Neuwahl klar gewinnen, wird das Theresa May mehr Verhandlungsspielraum bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU verschaffen, glaubt Financial Times:
„Die Entscheidung, kurzfristig neu wählen zu lassen, hat das Ziel, May von unerwünschter Einmischung durch EU-Befürworter unter den Tory-Abgeordneten einerseits und durch rechte Hardliner andererseits zu befreien. Auch wenn es Grund zur Sorge gibt, wird es sowohl für Großbritannien als auch für die EU gut sein, wenn May die Flexibilität zum Verhandeln hat, die sie braucht. Entscheidend wird sein, dass die folgende Parlamentswahl erst 2022 und nicht bereits 2020 stattfindet. May wird dadurch eher Kompromisse machen können - zum Beispiel bei der Frage, wie viel Großbritannien der EU wegen des Brexit schuldet oder bei der Frage, ob der Europäische Gerichtshof in einer Übergangsphase für Großbritannien zuständig bleibt. Diese Themen könnten die Brexit-Verhandlungen in der finalen Phase sonst zum Scheitern bringen.“
Euroskeptiker zum Schweigen bringen
Theresa May hofft durch die Neuwahl vor allem, Kritiker in den eigenen Reihen ruhig zu stellen, analysiert De Volkskrant:
„Inländische Kritiker beschuldigen May, dass sie mit diesem Beschluss die gesellschaftlichen Gegensätze über den Brexit schürt und die Brexit-Gegner ins Abseits stellt. Ein großer Sieg von May aber könnte genauso gut die Chance auf einen weichen Brexit erhöhen. Die Premierministerin wird mit einer größeren Mehrheit im Parlament schließlich nicht länger Gefangene der Euroskeptiker in ihrer Partei sein. Diese Hoffnung kann man auch in manchen europäischen Hauptstädten hören. ... May geht ein ziemlich geringes Risiko ein, aber bis zum 8. Juni kann noch viel passieren. In jedem Fall wird die europäische politische Agenda in diesem Jahr noch mehr belastet.“
Verlogenes Gerede über nationales Interesse
Dass es Theresa May um Stabilität und das nationale Interesse geht, nimmt ihr die Frankfurter Rundschau nicht ab:
„Die Führung des Landes ist … nicht gefährdet. Trotz katastrophaler Fehlentscheidungen, nicht zuletzt ihrem Eintreten für einen harten Brexit, hat May das Austrittsgesetz unangefochten durchs Unterhaus gebracht. Die Konservativen verfügen dort mit nordirischen Unionisten und Unabhängigen über eine stabile Mehrheit. … Die Konservative hat für Neuwahlen nur einen Grund: Ihre Partei liegt in Umfragen um mehr als 20 % vor der zerstrittenen Labour-Opposition unter dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Wenn sie die Hälfte des Vorsprungs ins Ziel rettet, kann May mit einer größeren Fraktion durchregieren. Weder Liberaldemokraten noch Ukip stellen eine ernsthafte Gefahr dar. Das Gerede vom nationalen Interesse ist also verlogen.“
Neuer Streich der Konservativen
Auch Dnevnik sieht rein taktische Gründe für die Neuwahl und geht hart mit der Regierungschefin und ihrer Partei ins Gericht:
„So wie das Brexit-Referendum haben auch die Brexit-Wahlen nichts mit dem nationalen Interesse zu tun, sondern dienen engen parteilichen Interessen der Konservativen. David Cameron hat das Referendum ausgerufen, um eine Spaltung innerhalb der Partei zu verhindern. May ruft die Wahl aus, um die Macht der Konservativen zu festigen - der Partei der bald befreiten Eliten. Ihnen ist mit dem Brexit, in den sie viel Geld, Fremdenfeindlichkeit und Lügen investiert haben, ein einzigartiger Streich gelungen: sie haben ihn als Volksaufstand verkauft.“
Corbyn hat May alternativlos gemacht
Die Neuwahl hätte eine Chance für eine neue Brexit-Entscheidung werden können, wenn Labour als Partei der EU-Befürworter nicht so jämmerlich versagt hätte, findet El País:
„Im Grunde ist Mays Entscheidung ein Zugeständnis, dass Londons Bruch mit dem Rest der EU für die Briten nicht so schnell, schmerzlos und vor allem siegreich sein wird, wie es die Brexit-Befürworter in der Kampagne versprochen hatten. ... Jetzt wäre es ideal, wenn sich diese Wahl stillschweigend in eine Art neues Plebiszit über den Verbleib in der EU verwandeln könnte. Aber das wird aufgrund der populistischen Wende der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn nicht möglich sein. Die Partei, die vorher die jungen, städtischen und progressiven Stimmen auf sich vereinte - also komplett Anti-Brexit - hat einem wichtigen Teil ihrer Wählerschaft den Rücken gekehrt und sich stattdessen dem Abschottungsdiskurs zugewandt. Und so sehen auch die Umfrageergebnisse aus: Die Konservativen liegen 21 Punkte vor Corbyns Labour.“