Kann Mays Brexit-Strategie aufgehen?
Einen Monat vor den vorgezogenen Neuwahlen in Großbritannien wird in Europas Presse zunehmend diskutiert, wie diese die Brexit-Strategie von Premierministerin Theresa May beeinflussen werden.
Eine gestärkte May für einen weicheren Brexit
Sollte May gestärkt aus der Wahl hervorgehen, könnte das einem weichen Brexit den Weg bereiten, schreibt der britische Journalist Edward Lucas in BNS:
„Ein überzeugender Sieg würde der Premierministerin ein starkes Mandat geben – nicht in den Verhandlungen mit der EU, sondern in der Konfrontation mit ihren Mitstreitern, die eine harte Linie verlangen. Und mit den bösen anti-europäischen Boulevardzeitungen, wenn es darum geht, verschiedenste Fragen zu beantworten, zum Beispiel über die Rechte der EU-Bürger, die Rolle des Europäischen Gerichtshofes, und über die Rechnung, die Großbritannien für seinen Austritt erhalten wird. Um es kurz zu fassen: Je stärker der Sieg von May, desto milder könnte der Brexit werden.“
Selbstgefälliges Land steuert ins Verderben
Die Premierministerin und die britische Elite überschätzen Großbritannien in einer Weise, die dem Land noch schaden wird, analysiert The Guardian:
„Der Großteil der britischen Elite lebt in London, in Europas einziger wirklich globalen Stadt. Das scheint sie zu dem Glauben zu verleiten, dass Großbritannien wichtiger und mächtiger und seine Wirtschaft dynamischer ist, als dies tatsächlich der Fall ist. ... Ein weiterer Grund für die britische Selbstgefälligkeit in Bezug auf die Auswirkungen des Brexit ist die Vorstellung der Elite, dass die EU ein krankhaftes, wirtschaftlich versagendes Gebilde sei. Die EU steht vor großen Herausforderungen, ist aber weit von der britischen Karikatur eines protektionistischen, engstirnigen und wirtschaftlich illiberalen Gebildes entfernt. ... Großbritannien steuert auf eine Schmach zu ... Die nur mittelmäßige wirtschaftliche Bilanz des Landes wird sich verschlechtern. Es wird sich von seinen engsten Verbündeten - dem Rest der EU - entfremden und international wenig Einfluss haben.“
Kein Deal ist auch eine Lösung
Das viel diskutierte Brexit-Dinner zwischen May und Juncker vergangene Woche lässt ahnen, wie viele Krisen in den bevorstehenden Verhandlungen noch durchgestanden werden müssen, glaubt The Daily Telegraph:
„May muss die Nerven behalten und, wie sie gestern sagte, eine 'verdammt schwierige Frau' sein. Die offizielle Position des Vereinigten Königreichs ist die, dass ein Abkommen gewollt ist. Der Mumpitz der letzten Tage hat aber gezeigt, dass es weise ist, sich auf ein Scheitern vorzubereiten. Der große Fehler David Camerons bei den EU-Verhandlungen zur Position Großbritanniens war, dass jeder wusste, dass er den Verhandlungstisch nicht verlassen würde. ... May dagegen hat gesagt, dass kein Abkommen besser sei als ein schlechtes. Dementsprechend sollte sie sich auf einen Bruch mit der EU ohne ein Abkommen vorbereiten. Der beste Weg, um einen Deal zu bekommen ist, unsere Gegenüber nicht daran zweifeln zu lassen, dass wir es ernst meinen.“
Großbritannien kann Realität nicht mehr leugnen
Beim EU-Gipfel am Samstag rückte der rumänische Staatschef Klaus Johannis die britische Flagge beiseite, um besser mit Journalisten sprechen zu können. Für Adevărul enthält die Geste viel Symbolik:
„Die Desillusion hat längst alle erreicht - jene, die dachten, dass sich populistische Slogans ebenso leicht umsetzen ließen wie ein Referendum und jene, die falsche Versprechungen machten, um politischen Erfolg aus der [Brexit]-Abstimmung zu schlagen. ... Nicht die Rechte von in Großbritannien ansässigen Europäern zu garantieren, doch gleichzeitig einen Zugang zur Zollunion und zu den europäischen Märkten zu bekommen, wird die EU nicht akzeptieren. Populistische Politiker und Demagogen werden früher oder später der Realität begegnen, die sie nicht mehr umschiffen oder werden verstecken können. Andernfalls könnte das Folgen für Hunderte Millionen Menschen haben. Das Beiseitestellen der britischen Flagge war vermutlich nicht politisch gemeint, doch steht es für eine harte Realität und beschreibt sehr konkret die Zeiten, in denen wir leben.“
Schwere Zeiten für Rosinenpicker
Die Brexit-Verhandlungen werden für Großbritannien kein Zuckerschlecken und allen Sonderwünschen wird eine Absage erteilt werden, prophezeit The Irish Times:
„Überraschenderweise ist die Antwort der EU schlicht, bestimmt, kohärent und einheitlich. Das Vereinigte Königreich muss nach dem Austritt schlechter dastehen als vorher. Es wird beim Freihandel keine unterschiedlichen Regeln je nach Branche geben, keine Rosinenpickerei. Die Rechte ihrer Bürger sind für das Selbstverständnis der EU zentral und müssen geschützt werden. ... Sollte es ein Freihandelsabkommen geben, das den Zugang zum Binnenmarkt sichert, wird dies nicht dem bisherigen entsprechen, sondern schlechter sein. Sollte es also eine Verhandlungslösung geben, wird diese sich darum drehen, wie viel Schaden der Wirtschaft des Vereinigten Königreiches zugefügt werden soll.“
EU muss sich selbst schützen
Die EU hat gar keine andere Wahl, als in den Brexit-Verhandlungen knallhart zu bleiben, erklärt Politologe Hendrik Vos in seiner Kolumne in De Standaard:
„Das hat nichts mit Groll oder Verbitterung tun, denn das Wesen der Union selbst steht auf dem Spiel. Schließlich wollen die Briten von den europäischen Normen verschont bleiben. ... Die Union aber kann es unmöglich akzeptieren, dass die Briten hier mit unseren Unternehmen konkurrieren, ohne unsere Regeln zu befolgen. Wir sind nicht der Wilde Westen, wo alles möglich ist, sondern ein Ort, an dem Normen gelten und Schutz vorgesehen ist. Daher hat die Union keine Wahl. Sie muss bei den Handelsgesprächen knallhart bleiben. May hat noch eine andere Option: Sie kann ihre Meinung ändern. Wenn sie doch noch verspricht, dass Großbritannien sich weiter an europäische Regeln halten wird, wie Norwegen oder die Schweiz, dann kann viel beim Alten bleiben.“
London und die EU brauchen einen Vermittler
May ist im Recht, wenn sie die von der EU gestellten Bedingungen für die Verhandlungen ablehnt, beobachtet The Daily Telegraph und sieht aus dem Konflikt einen Ausweg:
„May besteht auf etwas, von dem sie ausging, dass dies auch die Position der EU sei - nämlich, dass nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist. ... Die Gefahr bestand immer darin, dass die ungewählte Kommission in Brüssel den Brexit-Prozess institutionalisieren würde; jetzt ist sie mit einem Mandat für Gespräche bewaffnet, die sich nur schwer aufdröseln lassen werden. Eine überlegenswerte Idee wäre, ob nicht eine angesehene, nicht-europäische politische Persönlichkeit eingeladen werden sollte, um Ratschläge zu geben und, falls nötig, zu vermitteln. Ohne einen unabhängigen Mittelsmann besteht die Gefahr ernster Missverständnisse, die die Beziehung zu unseren EU-Mitgliedern unnötig und langfristig beschädigen könnten.“
Türkei offenbar wichtiger als Großbritannien
Die EU will Großbritannien so schnell wie möglich rausschmeißen, doch mit der Türkei verhandelt sie geduldig weiter, klagt Die Welt:
„Die Briten sind raus, und zwar ganz. Brexit war von EU-Seite als harter Schnitt definiert, noch bevor David Cameron Gelegenheit fand zurückzutreten. Wie ungewöhnlich das ist, zeigt sich im Umgang mit der Türkei. Wenn dort eine Mehrheit nach einem unappetitlichen Lügenwahlkampf das Zeichen setzt, dass sie ihr Land nicht als ein europäisches sieht, dann heißt es, dass Europa die unterlegene Minderheit nicht aufgeben dürfe, dass Geopolitik Abwägung erfordere, dass die Türkei auf der Landkarte ja nicht auf einmal verschwinde. Das ist auch mit Großbritannien bislang nicht geschehen, aber von der weltpolitischen Bedeutung ihres Landes sind die Bewohner der Insel in kalter See überzeugt, der Rest Europas nicht so sehr.“
Geschlossenheit ist nicht zu erwarten
Dass sich die angekündigte Geschlossenheit der EU bei den tatsächlichen Verhandlungen auch durchhalten lässt, bezweifelt der Deutschlandfunk:
„Denn statt der EU werden da ganz schnell wieder 27 einzelne Länder auf der Matte stehen, die alle vorwiegend ihre wirtschaftlichen Partikularinteressen verfolgen und die deshalb, aller Leitlinien zum Trotz, viel schneller wieder zu merkwürdigen Kompromissen bereit sein werden, weil das den eigenen Interessen, dem Schutz der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen und der damit verbundenen Arbeitsplätze dient. Die Briten kennen das Spiel. Sie sind seit jeher Meister darin gewesen, innerhalb der EU mit wechselnden Koalitionen ihre eigenen Interessen durchzusetzen, weil wortreiche Deklarationen im Vorfeld selten etwas mit der nackten Wirklichkeit am Verhandlungstisch zu tun haben, wo nur noch mit harten Bandagen für die eigenen Vorteile gekämpft wird.“
Immer weniger Begeisterung für Austritt
Einer neuen Umfrage zufolge glaubt die Mehrheit der Briten, dass der Brexit ein Fehler ist. Das wird Regierungschefin Theresa May bei den Verhandlungen mit der EU in eine noch schwierigere Position bringen, meint The Independent:
„Als Theresa May aus rein opportunistischen Gründen die Neuwahl [im Juni] ausrief, erklärte sie, dass die Öffentlichkeit nun deutlich den Brexit unterstütze. Sie brauche lediglich eine Bestätigung durch die Wähler, um die Fieslinge im Parlament in Westminister aufzuhalten, die sich dem Willen des Volks entgegenstellen. ... Jene, die den Brexit ablehnen, können dank der neuen Umfragewerte Mut schöpfen. Diese zeigen klar, dass die Sache keineswegs gelaufen ist. ... Mays Opposition mag derzeit schwach und gespalten erscheinen, doch das wird nicht immer so bleiben. Das Mandat, das sie nun erhalten wird, baut darauf auf, dass sie aus dem Brexit einen Erfolg machen kann. Sie muss also eine Fantasievorstellung wahrmachen. Das ist keine gute Position.“