2017: Identitätskrise oder neue Eintracht?
Der Wahlsieg Macrons in Frankreich, die Brexit-Verhandlungen und der Streit über Katalonien prägten Europas Debatten im vergangenen Jahr. Die EU steckt in der Identitätskrise und droht mit "Schrebergarten-Nationalismus" den Anschluss zu verlieren, meinen einige Journalisten. Andere freuen sich über neue Einigkeit und einen Sieg über rechte Populisten.
EU verliert Anschluss
"Kleinliche Schrebergärten-Nationalismen" in Europa diagnostiziert der Kurier - und warnt, dass nur eine geeinte EU dem rasanten Aufstieg Chinas und Indiens etwas entgegensetzen kann:
„Es ist … absurd, zu glauben, dass etwa Tschechien oder Österreich den asiatischen Tigern oder der amerikanischen Supermacht alleine ökonomisch die Stirn bieten könne. Nur eine einige und solidarische EU hat in diesem globalen Wettlauf eine Chance. Doch davon ist man weit entfernt. Die auch politische Lokomotive Deutschland fährt mangels handlungsfähiger Regierung auf Reserve. Einige Oststaaten, allen voran Ungarn und Polen, behandeln die Union wie einen räudigen Hund. Und Brüssel selbst kommt aus seiner leidigen Nabelschau auch nicht heraus - abgesehen davon, dass die Brexit-Verhandlungen viel Energie binden.“
Auf Konfrontationskurs
Das zu Ende gehende Jahr hat gezeigt, dass sich Europa in einer tiefen Identitätskrise befindet, kommentiert der rumänische Politikexperte Valentin Naumescu auf dem Onlineportal Contributors:
„Wir sind hin- und hergerissen zwischen der im freien Fall befindlichen liberalen Option und den neuen 'Stars' der europäischen Politik - der nationalistischen und protektionistischen Option. Mehr noch: Die Krise wird sich in den kommenden Jahren verschärfen und sich in andere Staaten fernab der Visegrád-Gruppe ausbreiten. (Erster Kandidat ist hier Rumänien.) … Mitteleuropa steuert mit hoher Geschwindigkeit auf eine große politische und soziale Konfrontation zu.“
Mit Offenheit Populisten besiegt
Land des Jahres 2017 war Frankreich - wegen des Aufstiegs und der Politik Emmanuel Macrons, findet The Economist:
„Im Wahlkampf warb Macron für ein Frankreich, das offen ist für Menschen, Güter und Ideen aus dem Ausland. Außerdem setzte er auf sozialen Wandel. In sechs Monaten brachten er und seine Bewegung eine Reihe vernünftiger Reformen auf den Weg, darunter ein Antikorruptionsgesetz und die Lockerung des strengen Arbeitsrechts. ... Macrons Bewegung fegte das Ancien Régime hinweg. Sie schlug die Ultranationalistin Marine Le Pen (die als Wahlsiegerin die Europäische Union zerstört hätte) vernichtend. Möglicherweise ist der Kampf zwischen einer offenen und einer geschlossenen Vision von der Gesellschaft die derzeit wichtigste politische Auseinandersetzung überhaupt. Denjenigen, die die Zugbrücken hochziehen wollten, hat sich Frankreich klar entgegengestellt - und gewonnen.“
Brexit hat Europa geeint
Der Brexit war eines der bestimmenden Themen im alten Jahr. Dabei wurde die neue Einigkeit der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten leider häufig übersehen, meint Delo:
„Das Inkrafttreten von Artikel 50 des EU-Vertrags hat unter den Regierungen der übrigen 27 Mitgliedsstaaten einen Interessenskonsens geschaffen. Sie waren sich einig, dass die wichtigste Vorbedingung für die Ausweitung der Verhandlungen mit Großbritannien sein musste, eine Lösung der Trennungsfragen zu finden: einen ausreichenden Fortschritt beim finanziellen Ausgleich, bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs und der Gerichte der EU hinsichtlich der Sicherung der Rechte europäischer Bürger sowie bei der künftigen Grenze zwischen Irland und Nordirland. Sie rückten nicht einen Millimeter von ihrem Standpunkt ab. Diese Einigkeit war für das Abschneiden der EU am Verhandlungstisch enorm wichtig.“
EU ist Gefängnis der Separatisten
In De Tijd blickt Politologe Bart Maddens zurück auf die Katalonien-Krise und ihren Einfluss auf Separatisten im übrigen Europa:
„Wovon viele flämische Nationalisten träumen, haben die Katalanen tatsächlich getan: Einseitig die Unabhängigkeit ausrufen. Es endete glimpflich. ... Katalonien wurde nicht zum erhofften Präzedenzfall. Im Gegenteil: ... Die EU erwies sich als größter Feind Kataloniens. Juncker und Konsorten scheinen die internen Grenzen auf ewig festschreiben zu wollen. Sie wollen um jeden Preis die etablierten Staatsinteressen schützen. Die EU ist kein Fangnetz für die Völker, sondern ein Gefängnis. Muss man das Gefängnis nicht abreißen? Dieser Frage können Separatisten nicht länger ausweichen.“
Eine ungerechte Weltordnung
Es war ein Jahr der globalen Ungerechtigkeit, findet Daily Sabah:
„Nun endet das Jahr mit einer Agenda, die sich auf die Jerusalem-Krise, den Aufstieg der extremen Rechten in Europa und die soziale Ungerechtigkeit konzentriert. ... In vielen europäischen Städten gibt es keinen Platz für Flüchtlinge - und auch keinen ernsthaften Plan für die Unterbringung von Obdachlosen. Die Drohungen von Nikki Haley sind Sinnbild einer ungerechten Weltordnung. [Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationan hatte gedroht, sich die Namen der Länder zu merken, die die USA wegen der geplanten Verlegung ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem kritisiert haben]. Die Menschheit nimmt das sehr wohl zur Kenntnis. Genauso wie die Unterdrückung im Nahen Osten, den Aufstieg der Rechtspopulisten und die frierenden Obdachlosen auf den Straßen Europas.“
Alle Hoffnungen zerstört
Viele Menschen haben das Vertrauen in die Politik verloren, analysiert Večernji list:
„Politik als Beruf ist gleichzeitig beliebt und verachtet. Manche schätzen Politiker, weil sie durch sie ihre Interessen umsetzen können. Andere verachten sie für eben genau diesen Opportunismus. Das Jahr 2017 hat den politischen Raum, in dem bereits Enttäuschung vorherrschte, zusätzlich noch um Resignation ergänzt - einer stumpfen Abfindung mit dem Schicksal. ... Die Menschen sehen keinen Sinn mehr darin, nach Veränderungen zu verlangen, die sowieso nicht eintreten. Obwohl es nicht das schlechteste Jahr war, so hat man doch den Eindruck, dass 2017 alle Hoffnungen zerstört hat.“