Aquarius-Drama: Europas Poker um Flüchtlinge
Die neue Regierung in Spanien hat angeboten, das Rettungsschiff Aquarius mit 629 Flüchtlingen an Bord in einen Hafen einlaufen zu lassen. Die Überfahrt ist jedoch unter anderem wegen fehlender Vorräte heikel. Malta und Italien hatten tagelang gestritten und die Aufnahme des Schiffes jeweils verweigert. Für Kommentatoren manifestiert sich im Aquarius-Drama das ganze Scheitern von Europas Asylpolitik.
Flüchtlinge sind nicht allein Italiens Aufgabe
Italien erinnert Europa an seine Verantwortung, verdeutlicht Le Monde:
„Die Methode, die der neue italienische Innenminister Matteo Salvini gewählt hat, ist schockierend. Er hat den Migranten, die im Rahmen der vom Koordinationszentrum der Rettungsarbeiten in Rom aus dirigierten Aktion aufgegriffen wurden, die Einfahrt in italienische Häfen verweigert. Damit verstößt er gegen die internationalen Abkommen, die sein Land unterzeichnet hat. Aber diese Entscheidung hat den Verdienst, dass sie allen klar macht, dass die Rettung und Aufnahme der Migranten aus Afrika nicht allein Italiens Aufgabe sein kann. Das Land hat ja seit 2014 mehr als 600.000 Asylbewerber aufgenommen, und von seinen Partnern hat es nicht viel mehr als schöne Worte bekommen.“
Geiselnahme wird ein Nachspiel haben
Mit Geiselnahme und Erpressung wird Rom nicht weit kommen, wettert Andrea Bonanni, Brüsseler Korrespondent von La Repubblica:
„Bei ihrer ersten internationalen Bewährungsprobe hat die populistische Regierung, die in Italien an die Macht gekommen ist, nicht gezögert, mehr als sechshundert unbewaffnete und verzweifelte Menschen als Geiseln zu nehmen, in der Hoffnung, sich in Europa Gehör zu verschaffen. Es war kein guter Anfang. Salvini sieht in der Intervention Spaniens den Beweis für den Erfolg seiner politischen Strategie. Das ist ein großer Fehler. Die Regierung des Sozialisten Pedro Sánchez hat sich nicht mit Italien solidarisch gezeigt, sondern mit den Geiseln, die die italienische Regierung auf den europäischen Verhandlungstisch geworfen hatte. Nun, da diese sicher sind, wird ganz Europa von Salvini und seinen Gefolgsleuten Rechenschaft verlangen für ein Verhalten, das Paris als 'ekelerregend' bezeichnet.“
Gegen Populismus ist kein Kraut gewachsen
Das Rettungsschiff Aquarius ist zum bitteren Symbol geworden, stellt Népszava fest:
„Ein Bild dafür, dass die populistischen Parteien eine verheißungsvolle Zukunft in Europa haben. Wir hoffen umsonst, dass die europafeindlichen, radikalen Kräfte zurückgedrängt werden. Das sind nur Wunschträume. Aus der Flüchtlingsfrage lässt sich noch Jahre und Jahrzehnte lang politisches Kapital schlagen. Die traditionellen Parteien schaffen es nicht, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. ... Diese Flüchtlinge, die unter dramatischen Umständen dahinvegetieren, sie sind Opfer eines politischen Spiels. “
EU ist gelähmt und machtlos
Wen Roms Innenminister Salvini eigentlich meint, wenn er Europa als Buhmann hinstellt, fragt sich Politologe Gian Enrico Rusconi in La Stampa:
„Salvini hat aus innenpolitischen Gründen entschieden, Europa offen herauszufordern. Aber seine Rhetorik ('wir sind keine Sklaven mehr') setzt die Existenz einer 'souveränen' Macht voraus, die sich davongestohlen hat. Die verschiedenen europäischen Agenturen und Institutionen appellieren verstreut an das humanitäre Prinzip der Rettung von Menschen. ... Wo aber ist der europäische 'Souverän', der legitimiert ist, effektiv und einvernehmlich zu entscheiden? Es ist nicht das Parlament in Straßburg, es ist nicht die Kommission, sondern der Europäische Rat der europäischen Staaten. Doch dieser ist weder in der Lage, den Vertrag von Dublin zu überwinden, noch ihn zu reformieren. Der virtuelle souveräne Entscheidungsträger ist gelähmt, machtlos.“
Spaniens linke Regierung kontert
Die positiven Signale der neuen Sánchez-Regierung kommen genau zur richtigen Zeit, lobt El País in seinem Leitartikel:
„Mit der Entscheidung, die 'Aquarius' mit 629 geretteten Flüchtlingen an Bord in Valencia aufnehmen zu wollen, stellt sich die spanische Regierung hinter diejenigen, die der Meinung sind, dass die humanitäre Rettung in der Not Vorrang hat und dass es eine Alternative gibt zu der von den Rechtsextremen geforderten Sperrung der Häfen und Grenzen. ... Der Geste kommt umso größere Bedeutung zu, als dass sie in einem Moment erfolgt, da sich in Europa ein aggressiver Diskurs ausbreitet, unter dem irregulär Eingewanderte leiden müssen. Wenn der italienische Innenminister Matteo Salvini sagt 'das leichte Leben der Einwanderer' habe nun ein Ende, verdreht er nicht nur die Wirklichkeit, sondern er fördert auch die Gewalt.“
Verwerfliches Spiel mit Menschenleben
Der positive Ausgang der Episode rechtfertigt noch nicht die Mittel, mit denen Rom diesen erzwungen hat, mahnt Corriere della Sera:
„Was bleibt, ist ein moralisch schwer verdauliches Element: eine Politik, die sich des Einsatzes von Menschenleben bedient. Zudem bleibt der leicht groteske Nachgeschmack eines diplomatischen Kampfes zwischen einer Weltmacht (sind wir das noch?) und einem Staat [Malta], der nur sechsmal so groß ist wie die Insel Ischia. Auf der anderen Seite hat sich das Szenario für die Migranten schlagartig geändert. Die neue Situation könnte ihnen sogar zugutekommen. ... Der Fall Aquarius und das spanische Beispiel stellen Präzedenzfälle dar, die nicht wieder ungeschehen zu machen sind. In gewisser Weise wird der Dubliner Vertrag in der Praxis geändert, bevor er in den diplomatischen Akten geändert wird. Von weiteren Risikospielen sollte man jedoch Abstand nehmen.“
Mitgefühl befeuert nur das Schleppergeschäft
Rettungsaktionen im Mittelmeer und die offenen Arme Spaniens drohen das Problem der illegalen Migration zu vergrößern, kritisiert The Daily Telegraph:
„Wer die Situation nüchtern betrachtet, muss sich fragen, ob die Gegenwart dieser Rettungsschiffe Menschen nicht dazu ermutigt, Schlepper zu bezahlen und ihr eigenes Leben zu riskieren. Denn sie wissen, dass sie zu einem Hafen in der EU und nicht zu einem in Afrika wie Tunis oder Algier gebracht werden. Der neue spanische Regierungschef Pedro Sánchez wird zweifelsohne Beifall dafür ernten, dass er zugestimmt hat, die Aquarius und ihre Passagiere aufzunehmen. Doch wie gut seine Aktion auch immer gemeint sein mag, sie wird das Problem nicht lösen, sondern riskiert, den Menschenschmuggel anzufachen, den die EU stoppen möchte.“
Europa hat die Regierung in Rom, die es verdient
Dass die EU Italien in der Flüchtlingskrise im Stich gelassen hat, hat sich bitter gerächt, erinnert Der Standard:
„Wenn Salvini und der neue Premier Giuseppe Conte sagen, dass es nicht angehen kann, dass staatliche und private Rettungsschiffe aus aller Herren Länder die Migranten weiterhin praktisch ausschließlich nach Italien bringen, dann haben die beiden Recht. Das Gleiche haben auch schon die linken Vorgänger von Salvini und Conte gesagt - und wurden von den EU-Partnern im Stich gelassen. Die fehlende Solidarität bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise war einer der wichtigsten Gründe für den Wahlsieg der europafeindlichen Populisten. Und jetzt zittert der halbe Kontinent vor den Haushaltsabenteurern und Antieurophantasten in Rom. Aber etwas überspitzt formuliert darf man sagen: Europa hat die italienische Regierung bekommen, die es verdient.“
Kein gutes Ende in der Flüchtlingskrise in Sicht
In der Flüchtlingskrise im Mittelmeerraum gibt es weder eindeutige Schuldige noch einfache Lösungen, stellt Echo Moskwy ernüchtert fest:
„Die zivilisierten Länder dachten, wenn sie schlechte Regime verjagen, treten gute Regime an ihre Stelle und übersahen, dass statt der schlechten andere schlechte - oder noch schlechtere - kommen können. ... Abermillionen flüchten ins wohlhabende Europa. ... Wer ist schuld? Die Flüchtlinge, die ihr Leben retten wollten? Oder die Italiener, die es satt haben, die Notaufnahme des europäischen Krankenhauses zu sein? Soll man diese Migranten etwa ertränken? Oder versuchen, Frieden zu stiften in den Ländern, aus denen sie fliehen? Leicht ist es nur, einen Krieg zu beginnen. Frieden zu schaffen kann so lange dauern, dass die jetzt flüchtenden Jugendlichen bis dahin vergreisen. Varianten für einen schlechten Ausgang gibt es viele - ein guter ist nicht abzusehen.“
Von Humanismus keine Spur mehr
Italiens neuer Innenminister wirft die Flüchtlingspolitik des Landes über Bord, wettert La Repubblica:
„In nur einer Woche hat Matteo Salvini die italienische Einwanderungspolitik zerstört, in dem wahnwitzigen Versuch, eine Mauer mitten im Mittelmeer zu errichten. Er hat den humanitären Geist der [italienischen Seenot-Rettungsaktion] Mare Nostrum endgültig zerstört, die ... ins Leben gerufen wurde, um zu verhindern, dass die Meerenge vor Sizilien zum Grab wird. … In einem Crescendo, als ob er sich immer noch im Wahlkampf befände, erhob er seine Stimme bis zum Tweet von gestern Abend: 'Wir schließen die Häfen.'. ... Dabei sorgte er sich weder um die Auswirkungen, noch machte er sich Gedanken um seine institutionelle Rolle.“
Ohne Solidarität scheitert die EU
Bevor Italien weitere Flüchtlinge an Land lässt, muss ein für alle Mal geklärt werden, ob das Wort Solidarität in der EU überhaupt noch gilt, verteidigt hingegen Corriere della Sera die Entscheidung:
„Art. 67 Absatz 2 des Vertrags der EU fordert explizit Solidarität in der Teilung der Lasten der gemeinsamen Asylpolitik. Bisher gab es jedoch nur sehr wenig Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Wie können wir in diesem Zusammenhang die Schließung von Häfen durch Frankreich und Spanien im vergangenen Sommer vergessen, zu der die europäischen Institutionen sich ausschwiegen? Die Zeit ist nun abgelaufen. Wir brauchen keine umständlichen Worte oder pro-europäische Rhetorik mehr. Entweder wird die Solidarität in Bezug auf die Einwanderung zu einem konkreten Aktionsprojekt der EU, oder es ist das Projekt der europäischen Integration selbst, das zum Scheitern verurteilt ist.“