Wer profitiert von der Eskalation in Nahost?
Israels Armee hat ihre Angriffe auf den Gazastreifen verstärkt. Luft- und Bodentruppen sind im Einsatz, bislang sind aber keine Soldaten in das Gebiet vorgedrungen. Vorausgegangen war am Donnerstag ein erneuter Raketenbeschuss israelischer Städte durch die Hamas. Europas Medien beschäftigen sich damit, welche Interessen hinter der Eskalation stehen.
Wenn das Wahlergebnis nicht passt ...
Auf beiden Seiten heizt die politische Führung die Eskalation an, beobachtet Radio Kommersant FM:
„Vor zwei Wochen hat die palästinensische Führung beide anstehenden Wahlen [Parlaments- und Präsidentschaftswahl] auf unbestimmte Zeit vertagt. Offiziell wegen der Weigerung Israels, die Abstimmung in Ostjerusalem zuzulassen. Aber der wahre Grund dürften Umfragen sein, die den Hamas-Islamisten eine Mehrheit vorhersagen. Auch im jüdischen Staat beruhigt sich die politische Krise nicht. Nach vier Wahlgängen in zwei Jahren kann das Parlament noch immer keine Regierungskoalition bilden und es geht mit Volldampf in Richtung einer fünften Wahl. Es steht der Eindruck im Raum, dass es auf beiden Seiten genug Personen gibt, die Interesse an der Eskalation haben.“
Netanjahus Sabotageaktion
Netanjahu ist sehenden Auges in die Eskalation gegangen, erklärt die Kolumnistin Xenia Tourki in Phileleftheros:
„Sie hätte vermieden werden können, wenn die Warnungen der Armee, der Geheimdienste und der Polizei, die betonten, dass die Situation leicht außer Kontrolle geraten könnte, rechtzeitig beachtet worden wären. Viele in Israel behaupten, Netanjahu habe nichts unternommen, weil er davon profitiert. … Einerseits tritt er als dynamischer Verteidiger des jüdischen Elements auf und festigt so seine nationalistische Wählerbasis. Auf der anderen Seite werden die Bemühungen um eine Regierungsbildung [bisheriger Oppositionsparteien] untergraben. Denn nun ist es für die arabische Partei Raam, deren Stimmen benötigt werden, schwierig, den anderen Parteien die Hand zu reichen.“
Der lange Arm Teherans
Angesichts der Wiederbelebung der Verhandlungen um das iranische Atomprogramm haben vor allem die Hardliner der Revolutionsgarden im Iran größtes Interesse an dem Konflikt, analysiert Corriere della Sera:
„Diese Verhandlung wird kaum vorangehen, wenn die Hamas, die eng mit den iranischen Konservativen verbunden ist, weiterhin israelische Städte bombardiert oder dies gerade getan hat. ... Eine weitere Eskalation der Situation würde genügen, um das Weiße Haus daran zu hindern, den Pakt mit Teheran wieder aufleben zu lassen. Den Konservativen, mit den Revolutionsgarden an der Spitze, wäre der Weg für den Sieg bei der Wahl am 18. Juni geebnet.“
Ziemlich beste Feinde
Israels Regierungschef Netanjahu und die islamistische Hamas profitieren voneinander, kommentiert Delo:
„Die Hamas hat bisher alle Kriege mit Israel überlebt. Und das nicht gerade wegen ihrer militärischen Macht oder der Unterstützung durch die Zivilbevölkerung, die sie (buchstäblich) seit ihrem ersten Tag an der Macht opfert, um ihre gewalttätige und autoritäre Herrschaft zu festigen. Die Hamas überlebte auch, weil der israelische Staat, angeführt von König Bibi, sie bisher als ewiges Alibi für die Militarisierung, Einschränkung der Freiheiten und Dämonisierung der Palästinenserfrage brauchte.“
Strategie der Hamas schadet den Palästinensern
Die Kolumnistin Nagehan Alçı kritisiert in Habertürk die Strategie der Hamas:
„Warum greift die Hamas immer wieder auf Raketenangriffe zurück, obwohl doch auf der Hand liegt, dass Israel eine Todesmaschine ist? Es ist mir egal, was andere denken, aber ich bin der Ansicht, dass diese Angriffe nur Israel nützen, während sie für die Palästinenser einen großen Schaden anrichten. Seit Jahren versucht Israel seine eigene Gewalt zu legitimieren, indem es diese Raketen vorschiebt. Am Ende leiden kleine Kinder, leiden unschuldige Zivilisten, leidet das palästinensische Volk.“
Brandgefahr ignoriert
Dieser Gewaltausbruch war abzusehen, meint Iliya Kusa vom Ukrainian Institute for the Future, einem unabhängigen Thinktank in Kyjiw, auf gordonua.com:
„Nutznießer dieser Situation sind die Radikalen. … Es sind jüdische Ultrarechte, die jetzt wieder ihre Opferrolle hervorheben und sagen, dass alle Araber Extremisten und Terroristen seien. ... Und die palästinensischen Islamisten aus Gaza, die vor dem Hintergrund der völligen Ohnmacht der Fatah und der Umgebung von Abbas Entschlossenheit und Militanz demonstrieren. ... Wenn die Situation bis zum Siedepunkt angespannt ist, und alle dies erkennen, aber nichts tun, sind sie entweder Idioten, die in ihrem eigenen Unverständnis gefangen sind, oder aber sie sind an einer solchen Eskalation interessiert.“
Alte Probleme bringen neue Gewalt
Der Treibstoff für den Konflikt in Nahost bleibt seit Jahrzehnten der Alte, stellt The Guardian fest:
„Die 'Generation Blockade' ist in Gaza aufgewachsen, einem kleinen Streifen Land voller Bewohner, aber ohne ausreichend Arbeit, Strom und Trinkwasser. Covid und die schreiende Ungerechtigkeit der Impfkampagne Israels und in den besetzten Gebieten hat die Verbitterung darüber verstärkt, unter einer Regierung zu leben, die kontrolliert, aber keinen Schutz bietet. Die Unruhen, die man in den arabischen Städten Israels am Montag beobachten konnte, zeigten die Breite und die Tiefe der Wut, die sich angesichts vielfältiger Ungerechtigkeiten aufgestaut hat. Ungerechtigkeiten, die kürzlich Human Rights Watch dazu veranlassten, israelische Beamte der Apartheid zu beschuldigen.“
Wegschauen rächt sich
Der Nahostkonflikt hatte für Europa und die USA lange keine Priorität mehr, beklagt der Tagesspiegel:
„So hat Biden noch immer keinen Botschafter für Israel ernannt, und die Botschaft bleibt in Jerusalem. In dieser 'aussichtslosen' Lage schlägt die Stunde der islamistischen Hamas, die Tatkraft suggeriert, indem sie israelische Städte mit Raketen beschießt. Das ist Terror, ein elender Kreislauf, wohlbekannt. ... Eine robuste westliche Initiative zur Unterstützung palästinensischer Wahlen, mit dem nötigen Druck auf Israel, hätte eine Perspektive für Veränderung bieten können. Ob sie jetzt noch die Gewaltspirale unterbrechen kann, ist fraglich. Aber Wegschauen gilt nicht. Es rächt sich.“
Macht-Vakuum in Israel
Für Le Monde ist die Krise ein Ergebnis der Schwäche der israelischen Regierung:
„Die Krise, die am Montag begann, war nicht unvermeidlich. Sie ist zum Teil das Ergebnis eines besorgniserregenden Machtvakuums in Israel, wo die Regierung nicht in der Lage ist, die seit einem Monat vermehrten Polizeieinsätze in Jerusalem in den Griff zu bekommen. ... Nach vier ergebnislosen Parlamentswahlen in zwei Jahren scheint Premierminister Benjamin Netanjahu, der wegen Korruption vor Gericht steht, isoliert zu sein. Vielen Ministerien mangelt es an Führung, dringende Angelegenheiten werden vernachlässigt.“
Auffällig geteiltes Echo
Echo24 fasst die Reaktionen auf den aktuellen Konflikt zusammen:
„Westliche Medien ereifern sich über die angebliche Verletzung der palästinensischen Rechte und über den Beschuss des Gazastreifens, oft ohne zu erwähnen, dass der eine Reaktion auf die Raketenangriffe der Hamas auf zivile Gebiete ist. Interessanter ist jedoch, wer schweigt. Die arabischen Staaten, die im letzten Jahr die Beziehungen zu Israel normalisiert haben, interessieren sich nicht für das Schicksal der Palästinenser. Sie wollen mit dem reichen Israel Handel treiben und sich gegen einen gemeinsamen Feind, den Iran, vereinen.“
Netanjahus Schwäche gibt Verschärfung Raum
Unter anderen Umständen hätte Israels Premier mehr getan, um die Lage zu kontrollieren, glaubt The Economist:
„Netanjahu ist müde und abgelenkt. Innerhalb von zwei Jahren hat er vier Wahlen abgehalten, wovon keine ein bestandskräftiges Ergebnis hervorbrachte. Seine Rivalen nähern sich einem Abkommen, welches Netanjahu der Macht entheben würde. Dies lässt ihm wenig Hoffnung, den Prozess gegen ihn wegen Korruptionsvorwürfen, bei dem vor kurzem die Zeugenaussagen begannen, in Zaum zu halten. Wäre er in einer stärkeren Position, hätte er möglicherweise mehr getan, um die Polizei und seine weit rechts stehenden Unterstützer in die Schranken zu weisen. Bald könnten solche Entscheidungen von einer anderen Person getroffen werden.“
Konflikt reicht weit über Jerusalem hinaus
Nun wird entscheidend sein, wie sich Washington positioniert, erklärt Nahost-Experte Alberto Negri in Il Manifesto:
„Die Ausweitung des palästinensischen Protestes auf das Herz der heiligen Stadt und auf andere Städte weckt die arabischen Regierungen aus ihrer Erstarrung. Interessant ist aber nicht nur die jordanische, iranische oder tunesische Reaktion, sondern die aus den USA - während Italien und die EU entweder schweigen oder das verlogene Mantra vom 'Nein zur Gewalt auf beiden Seiten' wiederholen. ... Biden hat zwar bisher keine klare Position bezogen, noch die explosiven Entscheidungen seines Vorgängers Trump in Frage gestellt. ... Doch hat er begonnen, Premierminister Netanjahu wachzurütteln, indem er einen Dialog mit dem Iran initiiert hat, damit die USA wieder in das Atomabkommen eintreten.“
Für Israel wird es wieder ungemütlicher
Rzeczpospolita bemerkt, dass sich unter Biden die Bedingungen für Israel verändert haben:
„Die Entwicklungen stellen die israelischen Errungenschaften aus der Trump-Ära in Frage. Die neuen arabischen Verbündeten sind gezwungen, sich aus Angst vor dem Zorn der Straße zu empören und sogar von Seiten der US-amerikanischen Regierung hört man Kritik. Mäßig, aber signifikant im Vergleich zu den Vorjahren. Bidens Team steht unter dem Druck des linken Flügels der Demokratischen Partei, der verlangt, dass die USA die Führung im Kampf für die Rechte der Palästinenser übernehmen.“
Zweistaatenlösung erneut aufs Tapet bringen
Die US-Regierung muss ihre Nahost-Politik neu justieren, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Unter Donald Trump konnte Netanjahu seine Vorstellungen von einem 'Groß-Israel' umsetzen, die Palästinenser wiederum konnten sich in ihrer Abwehrhaltung einbetonieren. Die Geschichte zeigt: Frieden in Jerusalem kann nur auf dem Verhandlungsweg erreicht werden. Die USA sollten den Anlass nutzen, um das Modell einer Zweistaatenlösung wiederzubeleben.“