Kann Europa die hohen Energiepreise verkraften?
Wegen der Sanktionen auf russisches Öl und der Drosselung der Gaslieferungen sind die Energiepreise in Europa weiterhin auf Rekordniveau: So kostete Strom an den Börsen im Juni dieses Jahres rund 218 Euro pro Kilowattstunde, im Juni 2021 waren es 74 Euro. Auch die Inflation ist in der Eurozone mit 8,6 Prozent weiterhin hoch. Europas Presse diskutiert über Nervenstärke und Prioritäten.
Lebensniveau darf nicht geopfert werden
Maßnahmen, die die heimische Bevölkerung nachteilig betreffen, sind inakzeptabel, meint der Geschäftsführer des ungarischen Klimapolitischen Instituts Máté Litkei in Magyar Nemzet:
„Einige Entscheidungsträger der EU sehen eine grundlegende Verschlechterung unseres Lebensniveaus vor, um Putin eine Lektion zu erteilen. ... Jedoch waren die Sanktionen bisher nur dazu geeignet, Russland in diesem Jahr nahezu eine halbe Billion Dollar mehr an Einnahmen aus fossilen Energieträgern zu bescheren, als im vergangenen Jahr. Die EU ist moralisch verpflichtet, die russische Aggression zu verurteilen, aber sie ist umso mehr moralisch verpflichtet, die Interessen der Mitgliedstaaten und insbesondere der dort lebenden Familien und der dort tätigen Unternehmen zu verteidigen.“
Ohne massive Hilfe für Kyjiw geht es nicht
Wenn es in Europa wegen der steigenden Preise zu sozialen Unruhen kommen sollte, könnte Putin die Einheit des Westens gegenüber seinem Regime ernsthaft ins Wanken bringen, meint 24 Chasa:
„Einige Länder könnten eigenständige Verhandlungen mit Russland insbesondere über profitable Gasgeschäfte aufnehmen. Deutschland ist der Top-Kandidat, wo bereits [wegen zu hoher Gaspreise auch schon vor dem Krieg] Pläne zur Schließung von Chemie- und Düngemittelfabriken erwogen werden. Aus diesem Grund muss der Westen jetzt unverzüglich massive militärische, wirtschaftliche und geopolitische Hilfe für die Ukraine bereitstellen und Druck auf China und Indien ausüben, die Hilfe für Russland einzustellen.“
Ein Krieg um Energie - und Nervenstärke
Radio Kommersant FM sieht die Konfrontation eskalieren:
„Es läuft ein echter Energiekrieg. Neben der Gaspipeline Nord Stream 1, die zur Wartung während der für Europa so wichtigen Phase der Speicherbefüllung geschlossen wird, ist noch die Stilllegung des Kaspischen Pipeline-Konsortiums zu nennen, das der EU Öl [aus Kasachstan] liefert. Natürlich werden offziell nur technische Gründe genannt. Rein theoretisch kann das alles wieder anlaufen, wenn der Westen seine Sanktionen überdenkt. ... Neben dem Energiekrieg läuft auch noch ein Nervenkrieg: Wer hat den längeren Atem? Öl-Gas-Trümpfe sind stark und schwer zu schlagen. Aber Zugeständnisse bedeuten auch nicht gleich Niederlagen.“
Solidarität mit Kyjiw sollte es uns wert sein
In Großbritannien haben Demonstranten mehrere Autobahnen blockiert, um gegen die hohen Kraftstoffpreise zu protestieren. Dieses Opfer sollten die Briten aber bringen, fordert The Times:
„Die Wut ist verständlich. Die Treibstoffpreise haben sich in den vergangenen zwei Jahren fast verdoppelt. ... Das bedeutet jedoch nicht, dass die Regierung gegenüber den Demonstranten nachgeben sollte. Hauptgrund für den Anstieg der Treibstoffpreise ist der Krieg in der Ukraine. ... Das westliche Bündnis hat beschlossen, in diesem nicht mit Soldaten, sondern mit Ressourcen zu kämpfen - teilweise indem es seinen wirtschaftlichen Einfluss nutzt, um russische Exporte zu sanktionieren. ... Höhere Energiekosten sind der Preis für den Widerstand gegen die russische Invasion.“
Maltesern ist das eigene Hemd am nächsten
Laut der aktuellsten Eurobarometer-Umfrage sind für 59 Prozent der EU-Bürger Werte wie Demokratie und Freiheit wichtiger als Preisstabilität. Nicht so in Malta, dort wünschen sich 63 Prozent vor allem Preisstabilität, beklagt Times of Malta:
„Demokratie und Freiheit bleiben für viele Malteser 'abstrakte' Werte, während der eigene Geldbeutel von größter Bedeutung ist - selbst wenn die europäischen Brüder und Schwestern in der Ukraine im Bombenhagel ums Überleben kämpfen. ... Malta ist in diesem Krieg zwar offiziell nicht neutral, aber er bleibt ein fernes Ereignis. ... Wenn wir diese Eurobarometer-Umfrage ehrlich und selbstkritisch interpretieren, müssen wir zugeben, dass sie einiges über uns aussagt.“
Portugal steht vor schwierigen Entscheidungen
Die portugiesische Regierung muss schnell handeln, um Engpässe im Winter zu vermeiden, schreibt der Ingenieur und Energieexperte Mário Guedes in Observador:
„In den ersten Monaten von 2022 musste Portugal Strom im Wert von mehr als einer Milliarde Euro aus Spanien importieren. … Portugal darf jetzt nicht warten, bis sich das Energieproblem meteorologisch löst, im Gegenteil: Zusätzlich zu dem wirtschaftlichen Desaster könnten wir mit einer Stromrationierung konfrontiert werden. Es ist daher wichtig, dass die Regierung auf die Experten hört und die Alternativen für das starke nationale Stromdefizit ernsthaft evaluiert, auch wenn das eine Reaktivierung des Kohlekraftwerks Pêgo bedeuten würde.“
Strategie des Westens ist eine Katastrophe
Die Menschen verkennen, was im Zuge der Sanktionen auf sie zukommt, ärgert sich der Wirtschaftsprofessor Jože P. Damijan auf seinem Blog:
„Vor allem die Mehrheit, die naiv den führenden Medien vertraut, die unkritisch die Aussagen der politischen Führer vermitteln, dass wir mit Sanktionen für den Import von Öl (und Gas) nur mehr Druck auf Russland ausüben und noch mehr Waffen an die Ukraine liefern müssen, und sich die Situation so von alleine löst. ... Wenn wir diese europäische 'Strategie' in Bezug auf Russland weiter verfolgen, oder Putin sich dazu entschließt, den Gashahn zu Europa zuzudrehen, dann könnte Europa im Winter in Dunkelheit und Kälte frieren und der Großteil der Industrie stillstehen. Dies könnte zu einer tiefen Rezession führen und die Inflation in die Höhe schießen lassen, und die Menschen würden um Brot und Benzin und Öl kämpfen. “