Iran: Werden die Proteste Erfolg haben?
Der nach dem Tod von Mahsa Amini ausgebrochene "Hidschab-Aufstand" gegen die für Frauen besonders restriktiven Sittengesetze und die Mullah-Herrschaft vereint im Iran inzwischen Frauen und Männer, Perser und Minderheiten, Studierende und Schüler. Auch Arbeitende der wirtschaftlich bedeutenden Ölindustrie haben sich nun angeschlossen. Das Regime geht weiter brutal gegen die Demonstrierenden vor.
Jetzt kommt der Arbeitskampf
Für Evrensel bedeutet die Teilnahme von Arbeitern der Ölindustrie eine neue Phase:
„Im Iran ist die Öl- und petrochemische Industrie der dominante Industriesektor. Die Tatsache, dass sich auch Arbeiter dieser Industriezweige in Räten zusammengeschlossen haben, die sie in ihren Fabriken unter der Parole 'Tod dem Diktator' gebildet haben, erhöht die Möglichkeit, dass die Proteste einen arbeitskämpferischen Stempel aufgedrückt bekommen. Gleichzeitig wird dadurch wirtschaftlicher Druck auf das Mullah-Regime ausgeübt. In Anbetracht der wichtigen Rolle, die die Ölarbeiter beim Sturz des Schahs gespielt haben, wäre es nicht falsch zu sagen, dass das Mullah-Regime begonnen hat, richtig Angst zu haben.“
Solidarisch auf die Knie gehen
Die Gegner des Regimes verdienen alle Unterstützung, fordert De Standaard:
„Der Westen darf jetzt nicht zögern. Die Aktionen müssen über gut gemeinte 'How-Can-I-make-this-about-me'-Aktionen hinausgehen, bei denen sich Politiker eine Haarlocke abschneiden. Nötig sind gezielte Sanktionen, die die iranischen Führer treffen. Nur durch anhaltenden internationalen Druck kann aus dem Iran ein Land werden, in dem Frauen gleiche Rechte haben und das Kopftuch ein Selbstbestimmungsrecht wird. Der Protest ist mit der Black-Lives-Matter-Bewegung vergleichbar. Wenn man zu Recht für den schwarzen Kampf niederkniet, dann kann eine ähnliche Geste der Solidarität mit der iranischen Bevölkerung nicht ausbleiben.“
Wandel nur Frage der Zeit
Die Protestbewegung wird sich am Ende durchsetzen, ist The Irish Times überzeugt:
„In ihrer zunehmenden Verzweiflung schlossen die Behörden alle Schulen und Hochschulen im iranischen Kurdistan, während die Polizei Schüler und Studierende in Bildungsinstitutionen zusammentrieb und verhaftete. Die Mullahs warnten, dass Teilnehmer an Demonstrationen hart bestraft werden würden. ... Das Regime kennt keinen anderen Weg, sich zu behaupten. Und vielleicht gelingt es ihm tatsächlich noch einmal, die Flamme der Revolte vorübergehend zu löschen. Aber die Saat ist gesät. Die Zeit der Protestbewegung wird kommen.“
Auf dem Weg zur Atommacht
Die Herrscher sitzen unerschrocken im Sattel, befürchtet hingegen Jyllands-Posten:
„Das 2015 geschlossene Abkommen, das eine iranische Atombombe verhindern sollte, haben die USA unter Präsident Trump gekündigt, sodass der Iran gerade jetzt freie Hand hat, Atommacht zu werden. Die Aussicht darauf ist geradezu erschreckend; auch weil sie einen atomaren Wettlauf im Nahen Osten auslösen wird. Vor allem Saudi-Arabien wird alles daran setzen, mit dem großen Rivalen gleichzuziehen. So mutig die aktuellen Proteste auch sind, sie bedrohen das Regime selbst hier und jetzt nicht. Es hält eisern an der Macht fest und kennt keine Zurückhaltung.“
System stützt sich auf Frauenfeindlichkeit
Die Proteste greifen das islamistische Regime im Kern an, meint Islamismus-Expertin Saïda Keller-Messahli in der NZZ am Sonntag:
„Die Jugend ... fordert grundlegende individuelle Freiheiten, wie man sie in der Moderne erwarten darf. … Der Gottesstaat Iran hat aus dem Kopftuch für Frauen das Hauptinstrument seiner Herrschaft gemacht. Das obligatorische Kopftuch wurde zum sichtbarsten Merkmal seiner Schreckensherrschaft. Und Frauenfeindlichkeit ist die Wirbelsäule der islamistischen Ideologie. Die Herrschaft über den weiblichen Körper ist deren Herzstück. Den Kopftuchzwang in Iran anzugreifen, bedeutet daher, ein zentrales Instrument des Mullah-Regimes anzugreifen.“
Individuelle Freiheit statt Zwang oder Verbot
Paternalistische Bevormundung in Sachen Schleier gibt es nicht nur im Iran, erinnert die Anthropologin Karima Ziali in ctxt.es:
„Das Beispiel Iran bringt uns leider nicht dazu, darüber nachzudenken, wie nahe sich Schleierzwang und Schleierverbot sind und dass die Freiheit des Individuums (auswählen, Fehler machen, entscheiden, irren ...) an erster Stelle steht. Eine reife Gesellschaft überwindet Gebote und Verbote. ... Der brutale Tod von Mahsa Amini ist eine schmerzvolle Chance, die Polarisierung zu einem Stück Stoff zu thematisieren. ... Es ist das Spiel der ewigen Bevormundung, von dem man sich nur emanzipieren kann, indem man Verantwortung für sein Handeln übernimmt.“
Hoffnung auch für ethnische Minderheiten
Der Kampf der Frauen hat sich bereits auf andere Unterdrückte ausgeweitet, beobachtet Gewerkschafter Jamshid Pouranpir in Le Temps:
„Die Straße ist besetzt vom neuen Feminismus des Iran, der bisher Bastion einer haarsträubenden Frauenfeindlichkeit war. Das Erstarken kurdischer Bewegungen erfreut weder die größten Chauvinisten unter den Iranern noch die Türkei oder Saudi-Arabien. Eine Bewegung ohne Anführer und Organisation ist den Ideologen der 'Revolution' suspekt. … Die doppelte Unterdrückung, welche die Kurden und andere ethnische Minderheiten im Iran erleiden, konfrontiert die Vorstellung eines längst vergangenen Perserreichs mit den eigenen Dämonen. Jina [kurdischer Name von Mahsa Amini] wurde geopfert, ihre Haare im Wind waren der Funken, der den Bart der Ajatollahs in Brand gesetzt hat.“
Menschenrechte und realpolitische Zwänge
Inwieweit die Niederschlagung der Proteste zu Sanktionen führt, hängt noch von ganz anderen Themen ab, analysiert Milliyet:
„Der Westen muss hier eine Entscheidung treffen. Die USA haben eine Reihe von Sanktionen verhängt, die sie schrittweise erhöht haben. Solange die Atomverhandlungen laufen, können sie jedoch keinen großen Druck ausüben. Auch sollten die Auswirkungen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine berücksichtigt werden. Denn jetzt kommen die Wintermonate und Europa könnte eine Energiekrise erleben. Wenn man die engen Beziehungen zwischen dem Iran und Russland bedenkt, könnten sie ihre strategische Partnerschaft sogar noch verstärken.“
An ihrer Seite stehen
Die Revolte der iranischen Frauen verdient Beistand aus dem Nachbarland Türkei, bemerkt Hürriyet:
„Die jüngsten Ereignisse haben das Bild eines rücksichtslosen theokratischen Regimes der Islamischen Republik Iran verfestigt, das seine Hand gegen Frauen erhebt, sie ermordet. ... Es ist das natürlichste und unverzichtbare Recht dieser Menschen in unserer Nachbarschaft, Grundrechte und -Freiheiten zu besitzen und ihr Leben ohne Repression zu führen. An diesem Punkt ist ihr Problem auch unser Problem. Unsere Pflicht sollte es sein, den iranischen Frauen zu zeigen, dass wir bei ihrem Widerstand an ihrer Seite stehen.“
Feministische Außenpolitik auch praktizieren
Für die deutsche Regierung wäre es an der Zeit, ihren Koalitionsvertrag ernst zu nehmen, findet Die Welt:
„Sanktionen waren ohnehin nie Sache der Deutschen. 'Wandel durch Handel' lautet hier das Motto, das sich ja im Kalten Krieg als erfolgreich erwiesen habe. ... Eine feministische Außenpolitik könnte ein Gegenentwurf zur 'Wandel durch Handel'-Politik sein, die sich als Illusion erwiesen hat. ... Der Punkt ist: Man muss sie halt nur machen. Und für sie kann es keinen geeigneteren Praxistest geben als den bewundernswerten Protest der Iranerinnen und Iraner nach dem Mord an Mahsa Amini. Eine feministische Außenpolitik, die nicht an der Seite der Frauen steht, die für ihre Freiheit kämpfen, und die den Mullahs nicht mehr entgegenzusetzen weiß als die obligatorischen 'Sorgen', wäre eine Lüge.“
Wenig Aussicht auf Erfolg
Die Proteste der Frauen im Iran sind mutig, werden aber wahrscheinlich wenig ändern, befürchtet Trouw:
„Leider sieht es nicht danach aus, dass das Regime zur Einsicht kommen wird. Präsident Ebrahim Raisi verfügt beinahe über absolute Macht und kann auf die Unterstützung der Armee und der großen Landbevölkerung zählen, die im Allgemeinen konservativer ist als die Städter. Ob noch mehr Sanktionen gegen den Iran helfen werden, ist leider fraglich. Diese werden auch die sich mühsam hinschleppenden Verhandlungen über einen 'Nuklear-Deal' behindern.“
Hemmungsloser Totalitarismus
Die Ereignisse offenbaren den wahren Charakter des Regimes, betont Sicherheitsexperte Éric Delbecque in Le Point:
„Anlässlich dieser Rebellion von Frauen, die vollen Mutes und nach Freiheit dürstend ihre Schleier verbrennen, erleben wir, auf welch triste Weise die durch und durch totalitäre Natur des islamistischen Anliegens zum Ausdruck kommt. Darin ist alles enthalten, angefangen bei der Gewalt des Staates. Im Iran zeigt sie sich hemmungslos. … In solch einem Programm umfassender Beherrschung und barbarischen Drills wird nicht gezögert, den Bürgern, die zu ihrer Emanzipation Kommunikationsmittel verwenden möchten, den Zugang dazu zu verbieten.“
Verantwortliche für Tötungen benennen
Politiken fordert, dass die Verantwortlichen für die Gewaltakte benannt werden:
„Es ist absolut alarmierend, dass die herrschende Geistlichkeit nichts Besseres weiß, als ihre Landsleute mit Zensur, strenger politischer Kontrolle, Unterdrückung von Minderheiten und brutaler Verfolgung ihrer Kritiker niederzuhalten. ... Der UN-Menschenrechtsrat muss eine umfassende Untersuchung der Verantwortlichkeiten einleiten – sowohl bezogen auf den konkreten Mord vergangener Woche als auch auf die politisch Verantwortlichen für das rücksichtslose mörderische Vorgehen jetzt.“
Iran muss Frauenrechte und Freiheiten diskutieren
Den Protesten liegen grundsätzliche Fragen über das Verhältnis von Staat und Volk zugrunde, analysiert Meinungsforscher İhsan Aktaş in der regierungsnahen Daily Sabah:
„Die Intervention und Unterdrückung menschlicher Identitäten mit dem Anspruch, eine singuläre Identität zu schaffen, sind ein fundamentales Problem von Nationalstaaten. Wenn ein Nationalstaat dazu noch eine 'nationale' Religion hat, kann dies in der Tat zu einer menschlichen Tragödie werden. Das iranische Volk erlebt sowohl nationalstaatliche Unterdrückung als auch den Einfluss des religiösen Staates. ... Meiner Meinung nach wird der Iran alsbald ausführlich über den Status der Frau und die Religions- und Gewissensfreiheit diskutieren müssen.“
Deutschland hätte machtvolle Hebel
Ohne Hilfe von außen wird der Kampf der Frauen kaum erfolgreich sein, betont die Berliner Zeitung:
„Deutschland ist der wichtigste Handelspartner des Irans innerhalb der EU. Scholz und Baerbock hätten also in der Theorie durchaus machtvolle Hebel, um die Situation der Frauen im Iran zu verbessern. Dass sie es nicht tun, deutet darauf hin, dass es Interessen gibt, die die Menschenrechte überwiegen. Zum Beispiel die Wiederbelebung des Atomabkommens. Erst vergangenen Monat hatte die EU einen Kompromissvorschlag vorgelegt, um das Abkommen zu retten. Eine Antwort des Irans steht noch aus. Gut möglich, dass man es sich bis dahin nicht mit den Machthabern in Teheran verscherzen will.“
Es brodelt unter der strengen Oberfläche
Die iranische Führung sieht sich einer ernsthaften Herausforderung gegenüber, analysiert The Irish Times:
„Die Proteste scheinen das Regime auf dem falschen Fuß erwischt zu haben. Sie seien von äußeren Einflüssen inspiriert, behaupten die Machthaber. Doch kaum ein hochrangiger Politiker war bereit, die Verhaftung Aminis zu verteidigen. ... Die Brutalität der Sittenpolizei ist bekannt und wird vom Regime eindeutig geduldet. Die mutigen Proteste, die mit Schlagstöcken, Kugeln und Gas niedergeschlagen werden, sind die bedeutendste Herausforderung für das Regime in den vergangenen Jahren - ein Zeichen dafür, dass unter der Oberfläche Spannungen brodeln. Repressive Mittel können die Machthaber nur eine begrenzte Zeit lang stützen.“
Iraner verdienen Befreiung
Großen Respekt vor dem Protest hat De Volkskrant:
„Auffällig ist die mutige Rolle, die Frauen im Protest spielen. Sie wollen die strengen Kleidungsvorschriften der Autoritäten nicht mehr - und auch nicht deren gewalttätige Durchsetzung. Ihr Protest wird breit getragen und findet immer mehr Rückhalt in einer Gesellschaft, die einfach genug hat von den Mullahs. Man muss noch mehr Gewalt fürchten - aber insgeheim dämmert die Hoffnung auf eine Wende. Denn das ist es, was viele Iraner wollen und verdienen - keine Reform, sondern Befreiung.“
Theokraten-Regime wird kaum wanken
Die aktuellen Proteste sind weit davon entfernt, das iranische Regime zum Umdenken zu bewegen, bedauert France Inter:
„Niemand sollte die Fähigkeit dieses Regimes unterschätzen, alles für seinen Machterhalt zu tun, denn die hat es in der Vergangenheit bewiesen. Auch das internationale Klima mit den festgefahrenen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm und der Annäherung Teherans an Russland lässt nicht gerade auf ein Entgegenkommen hoffen. Selten war die Kluft zwischen den alten Religiösen an der Spitze des Staates und einer Jugend, die nichts anderes will, als frei zu leben, so groß. Im Iran, genauso wie auch in Afghanistan seit der Rückkehr der Taliban, sind vor allem die Frauen die Sühneopfer dieser theokratischen Machthaber.“
Mutige Demonstrantinnen nicht im Stich lassen
El Mundo fordert internationale Solidarität:
„Das Bild von Hunderten junger Frauen, die unbedeckt auf der Straße protestieren, ist ein Aufschrei, der von der internationalen Gemeinschaft gehört werden muss. ... Präsident Ibrahim Raisi verspricht eine Untersuchung, während seine ultrakonservative Regierung die Unterdrückung der weiblichen Bevölkerung durch eine Sittenpolizei verschärft, die gewaltsam verhaftet, körperlich und verbal misshandelt. ... Wie US-Außenminister Antony Blinken gestern betonte, muss Teheran 'die systematische Verfolgung von Frauen' beenden und 'Proteste zulassen', wenn es nicht länger ein globaler Paria sein will. Niemand sollte den Mut dieser Frauen vergessen, deren Wille täglich unterdrückt wird.“
Frauen sind willkommenes Angriffsziel
Das Regime in Teheran stützt sich auf modernste Überwachungstechnologie, merken die Oberösterreichischen Nachrichten an:
„Auch die neue Protestwelle wird die Ajatollahs kaum zum Umdenken bewegen. Denn sie wollen jetzt um jeden Preis von der derzeit massiven Wirtschaftskrise ablenken. Und Frauen sind eben ein leichtes Ziel, um Stärke zu demonstrieren. Dank des technischen Fortschritts haben die iranischen Sittenwächter nun eine neue Waffe: Mit der biometrischen Gesichtserkennung kann künftig jede 'böse' Frau identifiziert und bestraft werden. Modernisierung stellt man sich eigentlich ganz anders vor.“
Unterdrückung aus Schwäche
Der Tod Aminis ist Ausdruck dafür, dass sich die Machthaber in Teheran nicht anders als mit Repressionen zu helfen wissen, streicht The Times heraus:
„Wenn das iranische Regime die Religionspolizei anstachelt, dann tut sie das, weil es soziale Freiheit zu Recht als Bedrohung der eigenen Stabilität begreift. Präsident Raisi wird diese Woche auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York sein. Es wird ein frostiger Empfang für ihn, was nicht nur am Tod der jungen Frau liegt, die an seinem schonungslosen Konservatismus starb. ... Durch den Tod von Amini haben die Handlanger des Regimes dessen moralische Sittenlosigkeit entblößt. So möchten Menschen nicht leben.“