Lula wird wieder Präsident: Wohin steuert Brasilien?
Luiz Inácio "Lula" da Silva von der linken Partido dos Trabalhadores ist am Sonntag zu Brasiliens Präsident gewählt worden. Lula, der bereits von 2003 bis 2011 im Amt war, löst den rechtspopulistischen Jair Bolsonaro an der Spitze der größten lateinamerikanischen Volkswirtschaft ab. Kommentatoren der europäischen Presse analysieren, was der Wechsel innen- und außenpolitisch bedeutet.
Lehre für Linke weltweit
Lulas Wahlsieg kann für linke und sozialdemokratische Parteien weltweit eine Lektion sein, freut sich Birgün:
„Wie Lulas Wahl zeigt, liegt es in den Händen der Linken, eine Dynamik zu schaffen, die die Massen in einem Umfeld mobilisiert, in dem neoliberale Politik wirtschaftliche, politische und soziale Krisen verschärft haben und die Arbeitslosigkeit grassiert. ... Trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler gibt es viele Gründe, zu hoffen und sich zu freuen. Lulas Ankündigung, dass er die Ungleichheit beseitigen, den Wohlfahrtsstaat wiederherstellen und die Sozialpolitik stärken will, ist lehrreich für andere linke und sozialdemokratische Führer weltweit.“
Minimaler Handlungsspielraum
Auf welche Hindernisse der neugewählte Präsident im Parlament stoßen wird, skizziert Expresso:
„Die Party wird nur von kurzer Dauer sein, da die Wahlen zum Kongress und zum Senat wie üblich zugunsten der Rechten ausgefallen sind. Da es in dieser Rechten eine große radikalisierte Gruppe gibt, ist für Lula fast alles unmöglich. Er muss mit diesem Sektor verhandeln. Also muss er das tun, was alle brasilianischen Präsidenten der letzten Zeit getan haben und wofür die PT, und nur sie, einen hohen Preis gezahlt hat: Abgeordnete für sich gewinnen, die nicht allein mit Ideen und Argumenten zu überzeugen sind. So krank ist das politische System in Brasilien. Lula hat nicht einmal genug sichere Abgeordnete, um ein Amtsenthebungsverfahren zu verhindern. Und er braucht viel mehr als das.“
Hoffnung für den Regenwald
Vor allem für Brasiliens Klimapolitik könnte der Machtwechsel bedeutend sein, schreibt Ilta-Sanomat:
„Obwohl Lula mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, verheißt sein Sieg Gutes für das Klima und den Amazonas-Regenwald, sofern er seine Wahlversprechen tatsächlich einhält. Lula hat versprochen, Bolsonaros Umweltpolitik umzukehren und ein ehrgeiziges Klimaprogramm zu starten. Das wird auf der großen UN-Klimakonferenz, die nächste Woche in Ägypten beginnt, sicher gut ankommen.“
Welch ein Kontrast zu Europa
Brasilien macht linken und progressiven Kräften in Europa Hoffnung, analysiert das St. Galler Tagblatt:
„Regional verfestigt sich mit der Wahl Lulas eine Tendenz. Jetzt werden die fünf grössten Volkswirtschaften Lateinamerikas - Brasilien, Mexiko, Argentinien, Kolumbien und Chile - von progressiven oder linken Regierungen geführt. Insofern bietet Lateinamerika einen Kontrast vor allem zu weiten Teilen Europas, wo rechte und extrem-rechte Positionen und illiberale Ideologien auf dem Vormarsch sind. Vor allem in Europa, aber auch in den USA hoffen die liberalen Kräfte auf weltweite Verbündete, die bereit sind, universelle Probleme wie den Umwelt- und Klimaschutz konstruktiv anzugehen.“
In Sachen Ukraine eher zurückhalten
In Lateinamerika blickt man anders auf Russland als in Ostmitteleuropa, beobachtet Krytyka Polityczna:
„Zweifel kommen in unserem Teil der Welt an der brasilianischen Herangehensweise an den Krieg in der Ukraine auf. Wie Bolsonaro und ein Großteil der führenden Politiker und Bewohner des globalen Südens sieht auch Lula den russischen Imperialismus nicht als Bedrohung an und spricht vor allem von Dialog. Diese Haltung ist in der Region weit verbreitet und zeigt sich insbesondere in den Äußerungen des in Argentinien geborenen Papstes. Im Kontext des Krieges in der Ukraine sei jedoch hinzugefügt, dass Lula ein pragmatischer Politiker ist und wahrscheinlich keine Anti-USA- oder Anti-Nato-Koalition bilden wird. Er wird sich aber wahrscheinlich gegen eine Isolierung Russlands aussprechen.“
Polarisierung wird bleiben
Wahlgewinner Lula wird es sehr schwer haben, seine Vorhaben umzusetzen, analysiert BBC News:
„Brasilien hat qualvolle Monate hinter sich. Zwei erbitterte Rivalen traten gegeneinander an und eine Nation ergriff Partei. Es gab viel Bitterkeit, Gereiztheit und Spaltung sowohl vonseiten der Kandidaten als auch von deren Anhängern. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Polarisierung verschwinden wird. Der Kongress wird von Gesetzgebern dominiert, die Bolsonaro treu ergeben sind. Angesichts dessen wird Lula ein harter Kampf bevorstehen, um seine Politik durchzubringen. Bolsonaros Anhänger waren siegessicher und dieses Ergebnis wird ein Schock für sie sein.“
Noch kein endgültiger Sieg
Auch die linke Avgi betont:
„Jetzt kommt die Konfrontation mit der Realität. Die Dinge werden für den neuen Präsidenten nicht einfach sein. Der Zustand der Wirtschaft ist tragisch, die Kassen sind leer, die Inflation steigt rasant, die Deindustrialisierung der letzten Jahrzehnte hat viele Menschen arbeitslos und perspektivlos gemacht. Der Kongress ist rechtsgerichtet und wird sicher versuchen, jeden Versuch einer demokratischen oder sozialen Reform zu verhindern. Die Spaltung, auf die Bolsonaro 'sein ganzes Geld' gesetzt hat, indem er den Hass gegen die Linke schürte, wird nicht über Nacht überwunden werden. ... Die rechtsextreme digitale Opposition wird nicht nachlassen.“
Sorge vor brasilianischem Sturm aufs Kapitol
Le Monde fragt sich, ob Bolsonaros Lager eine geräuschlose Amtsübergabe zulassen wird:
„Die Frage ist nun, ob Jair Bolsonaro das Urteil der Wahlurnen akzeptieren wird. Denn seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1985 ist er der erste Präsident, der für eine zweite Amtszeit kandidierte und nicht wiedergewählt wurde. Nachdem er immer wieder Angriffe auf das 'betrügerische' System der elektronischen Wahlurnen gestartet hatte, behauptete er am Freitag: 'Derjenige mit den meisten Stimmen gewinnt. Das ist Demokratie' - doch er überzeugte nicht. Viele befürchten eine brasilianische Nachahmung des Sturms auf das Kapitolin Washington am 6. Januar 2021 nach der Niederlage von Donald Trump.“