EU-Ukraine-Gipfel in Kyjiw: Erwartungen enttäuscht?
"Ich glaube, die Ukraine hat es verdient, bereits in diesem Jahr Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft aufzunehmen", hatte Wolodymyr Selenskyj im Vorfeld des EU-Ukraine-Gipfels vom Freitag gesagt. Nun ist der Gipfel vorbei, ohne dass ein Beitrittszeitplan genannt worden wäre. In den Kommentarspalten geht die Diskussion um wünschenswerte Perspektiven und realistische Erwartungen weiter.
Es ist noch weit bis zur Mitgliedschaft
Keine Anzeichen für ein beschleunigtes Beitrittsverfahren konnte Le Soir erkennen:
„Die Reden der Europäer in Kyjiw unterschieden sich kaum von denen, die bei vorherigen Beitrittskandidaten unter weit weniger tragischen Umständen gehalten wurden. Der Weg zum Beitritt ist lang (und beschwerlich). Der Mitgliedsstatus 'muss verdient werden'. Die EU begrüßt die 'beträchtlichen Anstrengungen' der Ukraine, doch der Zeitplan, den Kyjiw zur Beschleunigung des Beitrittsprozesses forderte, blieb in der Schreibtischschublade. 'Die Ukraine ist die EU, die EU ist die Ukraine' - der Slogan, den Charles Michel am Freitag in Kyjiw verwendete, hat seine Grenzen. Denn für die EU ist die Botschaft klar: 'Sicherheit geht vor'.“
Dämpfer mit Ansage
Der Politologe Wolodymyr Fessenko warnt auf seiner Facebook-Seite vor zu hohen Erwartungen:
„Es ist ein natürlicher Wunsch (besonders in Kriegszeiten), positive Nachrichten zu erhalten. Leider gab es aber auch völlig unrealistische Aussagen zu den Aussichten für die europäische Integration der Ukraine. Einer der höchsten Beamten des Landes kündigte sogar einen 'sehr ehrgeizigen Plan für den EU-Beitritt innerhalb der nächsten zwei Jahre' an. Jeder seriöse Experte weiß, dass dies unter dem Gesichtspunkt der politischen und bürokratischen Verfahren der EU unmöglich ist. ... Deshalb wiederhole ich meinen Appell: Nennen Sie keine konkreten Daten (Beitritt zur EU und zur NATO, Befreiung der Krim, Ende des Krieges usw.), konzentrieren Sie sich lieber auf die konkrete, sinnvolle Arbeit zur Erreichung der entsprechenden Ziele.“
EU reformieren, um Ukraine aufzunehmen
Rzeczpospolita fordert von der polnischen Regierung mehr Kompromissbereitschaft:
„Es ist klar, dass die EU in ihrer derzeitigen Form nicht darauf vorbereitet ist, die Ukraine aufzunehmen. Reformen sind daher notwendig. Kanzler Scholz hatte die umstrittene Idee, das Vetorecht einzuschränken, insbesondere wenn der EU-Rat Beschlüsse zu außenpolitischen Themen fasst. Die polnische Regierung hat dies damals - zum Wohlgefallen der PiS-Wählerschaft - scharf kritisiert, ohne jedoch eine Alternative aufzuzeigen. Man muss aber auch darüber nachdenken, um den Ukrainern einen Platz in der EU zu verschaffen.“
Kyjiw auch bei Korruptionsbekämpfung unterstützen
Nicht nur militärisch darf der Westen die Ukraine nicht alleine lassen, betont Helsingin Sanomat:
„Die ukrainische Führung weiß, dass die Ukraine im Westen als korrupt wahrgenommen wird. Das stimmt, und es zu sagen, heißt nicht, die russische Propaganda zu wiederholen. … Die ukrainische Korruption ist ein sowjetisches Erbe, das nur schwer zu beseitigen ist. Sie hat die Entwicklung gebremst und die Armut aufrechterhalten, aber sie war auch ein Sicherheitsrisiko, denn gierige Oligarchen boten Russland die Möglichkeit, die Ukraine zu beeinflussen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Ukrainer an beiden Fronten gewinnen. Und sie haben den Willen, dies zu tun. Der Westen muss die Ukraine militärisch unterstützen, aber auch bei der Bekämpfung der Korruption helfen.“
Keine Überholspur
El Periódico de Catalunya rät der Ukraine in der Beitrittsfrage zu Geduld:
„Es sieht nicht so aus, als würde es helfen, die Toten in die Waagschale zu werfen, um ein Ziel zu erreichen, das ebenso Teil von Selenskyjs Siegesplan ist wie die Rückkehr zu den Grenzen von 1991, die Verurteilung von Kriegsverbrechern und der Wiederaufbau des Landes. ... Es wird keine Ausnahmen geben. Die Ukraine wird mehrere Phasen durchlaufen müssen, die wie im Falle des westlichen Balkans Jahrzehnte dauern können. ... Durchgesickerte Erklärungen zeigen, wie der moralische Diskurs alles durchdringt: Alles, was keine Beschleunigung des EU-Beitritts bedeutet, wird als Kollaboration mit den Russen gebrandmarkt. ... Die Ukraine sollte ihre Rechtsstaatlichkeit verbessern, die Korruption aktiv bekämpfen und ihre Minderheiten schützen.“
Besuche reichen nicht
EU und Nato müssen der Ukraine mehr entgegenkommen, urteilt dagegen L’Opinion:
„Europa muss eine neue Lösung finden, damit die Ukraine schnell und offiziell in die Familie der Demokratien aufgenommen werden kann - und dies ohne zu verlangen, dass sie zunächst ihr Handelsrecht, ihre Umweltvorschriften oder Gesundheitsstandards an die Forderungen Brüssels anpasst. Die Frage der Korruption ist offensichtlich die sensibelste, doch Kyjiw sendet positive Signale, indem es - quasi unter Bombenbeschuss - auf frischer Tat ertappte führende Politiker und Beamte entlässt. … Der Besuch hochrangiger EU-Vertreter um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kyjiw ist eine willkommene, aber unzureichende Initiative.“
EU braucht einen Kommissar für Verteidigung
Eine wichtige Person fehlt in Kyjiw, stellt Der Tagesspiegel fest:
„Nicht dabei ist der Kommissar für Verteidigung. Denn es gibt ihn nicht. Es gibt Kommissare für Gleichheitspolitik, Internationale Partnerschaften und Umwelt, Meere, Fischerei. Aber dass sich jemand hauptamtlich mit dem Aufbau einer Europaarmee befasst, das bestehende Eurokorps ausbaut, die Zusammenarbeit der Länder bei Entwicklung und Kauf von militärischem Gerät koordiniert und das Fundament legt, um eine künftige europäische Armee in die Nato zu integrieren und in die transatlantischen Beziehungen einzubetten - Pustekuchen. ... Nicht am Ende der Entwicklung muss die Errichtung eines EU-Verteidigungsministeriums stehen, sondern es muss jetzt geschehen.“