Nahost: Wem nützt die verlängerte Waffenruhe?
Bis Donnerstag ist die Feuerpause zwischen Israel und der Terror-Vereinigung Hamas verlängert worden. Nach ägyptischen Angaben sollen nun täglich 10 der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gegen 30 palästinensische Häftlinge ausgetauscht sowie Hilfsgüter nach Gaza geliefert werden. Insgesamt kamen bisher 81 der mutmaßlich 240 Geiseln frei. Kommentatoren bewerten die Abmachung unterschiedlich.
Hamas zwingt Israel lauter schlechte Optionen auf
Le Figaro schreibt:
„Dieses perverse Spiel trägt zur Spaltung der israelischen Gesellschaft bei, die sich in dem unmöglichen Dilemma zwischen dem Mitgefühl für die Opfer und der Ablehnung befindet, sich von der Hamas alles vorschreiben zu lassen. ... Die islamistische Bewegung benutzt die Waffenruhe und die Übergabe der Gefangenen dafür, die Unterstützung der palästinensischen und arabischen Öffentlichkeit zu festigen, und den Westen dazu zu bringen, Israel unter Druck zu setzen, die Feuerpause zu verlängern. Sobald die Hamas ihren Preis für die Rückgabe der gefangenen Zivilbevölkerung und der Soldaten erhöht, erwarten Israel noch schwierigere Entscheidungen. Sollte es am Ende auf den Handel verzichten und wieder zu den Waffen greifen, riskiert es, ganz alleine dazustehen.“
Vorteilhaft für beide
Auch Israel profitiert von der Feuerpause, meint Polityka:
„Israel steht unter Druck. Die Freilassung aller Geiseln wird nicht nur von den Familien, sondern auch von den Bürgern gefordert – rund 100.000 Menschen gingen am Samstag in Tel Aviv auf die Straße, ebenso viele wie bei den jüngsten öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen gegen die Justizreformen. Auch arabische Länder und die Nato haben auf eine Verlängerung der Waffenruhe gedrängt. ... Die Verlängerung des Waffenstillstands ist für beide Seiten von Vorteil: Premier Benjamin Netanjahu kann sich rühmen, dass es ihm gelungen ist, seine Landsleute nach Hause zu bringen, während sich die Hamas durch die Befreiung von Frauen und Kindern in ein 'humanitäres' Gewand kleidet und den Palästinensern zeigt, dass nur sie und nicht die Autonomiebehörde Israel zu Zugeständnissen zwingen kann.“
Palästinenser müssen von Höchstforderungen abweichen
ABC verweist darauf, dass Pragmatismus funktioniert:
„Die Verlängerung des Waffenstillstands ist der beste Beweis dafür, dass die Politik, wenn sie Maximalismen ausklammert, allen Nutzen bringt. ... Für Israel bedeutet die Verlängerung, dass es sich dem wachsenden internationalen Druck aussetzt, den Waffenstillstand zu verlängern, ohne sein Ziel, die Hamas aus dem Gazastreifen zu vertreiben, erreicht zu haben. ... Daraus ergibt sich eine wichtige Lektion für die Palästinenser: dass auch sie von ihren Höchstforderungen abweichen müssen. Mindestens fünfmal hat die palästinensische Seite abgelehnt, einen eigenen Staat mit breiter internationaler Unterstützung zu errichten. ... Sich auf die Verbesserung der Sicherheit und den Ausbau der Bürgerrechte zu konzentrieren, wäre ein realistisches Ziel, vor dem die Palästinenser nicht länger zurückschrecken sollten.“
Jeder Tag ohne Tote ein Erfolg
Irish Independent begrüßt die Verlängerung der Waffenruhe:
„Jeder Tag ohne Tote, der Entlastung und Versorgung ermöglicht, ist einem Gemetzel vorzuziehen - ganz gleich, auf welcher Seite. Es ist höchste Zeit, einen Schlussstrich unter die unerträglich hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung zu ziehen, zivile Opfer, die angesichts der hohen Bevölkerungsdichte auf so engem Raum nicht überraschend sind. ... Inmitten unbestreitbar großer Herausforderungen werden Frieden und Stabilität nur auf politischem Weg und nicht militärisch zu finden sein. Indes wäre ein langfristiger Waffenstillstand unendlich zufriedenstellender als die Wiederaufnahme eines katastrophalen Krieges.“
Ratlosigkeit in der arabischen Welt
Die Neue Zürcher Zeitung bedauert, dass es keine Friedenspläne arabischer Länder gibt:
„Israel hat jenseits des Ziels der Zerschlagung der Hamas bisher keinen Plan für die Zukunft des Küstengebiets vorgelegt. Auch von palästinensischer Seite kommen keine Ideen. ... In dieser Situation böte sich die Chance für die arabischen Staaten, eine Friedensinitiative zu lancieren. Sie könnten das Vakuum nutzen, um eigene Ideen zur Gestaltung des Nahen Ostens vorzulegen. ... Von einem arabischen Friedensplan ist allerdings wenig zu sehen. Sieben Wochen nach Beginn des Krieges herrscht in Kairo, Amman, Riad und Abu Dhabi vor allem Ratlosigkeit.“
Manchmal gibt es nur Linderung, keine Heilung
Ein ernüchterter Blick zurück und nach vorn bei La Stampa:
„Kann nach dem 7. Oktober gelingen, was in den vorangegangenen 74 Jahren, die eine Abfolge von Waffenstillständen und Kriegen waren, nie gelungen ist? Oder haben wir es mit einem Konflikt zu tun, der keine Lösungen vorsieht, wie bei Menschen, die an einer chronischen Krankheit leiden, für die es keine Heilung gibt, sondern nur Linderung und vorübergehende Abhilfe? ... Nach 74 Jahren ist die Bilanz düster. Einige arabische Staaten haben Israel akzeptiert, aber für diejenigen, die in demselben Land leben sollten, lautet das Fazit: Terrorismus und Gegenterrorismus.“
Die richtigen Verhandlungspartner finden
Nur mit der Aussicht auf eine Zwei-Staaten-Lösung kann Frieden gedeihen, glaubt Kristeligt Dagblad:
„Die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland, die trotz ihrer vielen Fehler weitgehend darauf verzichtet hat, sich in den Krieg einzumischen, ist ein offensichtlicher Kandidat für die Machtübernahme in Gaza, aber dies erfordert eine neue Führung und umfassende institutionelle Reformen. Und auf israelischer Seite ist es sehr schwierig, den derzeitigen Premierminister Benjamin Netanjahu als den Mann zu sehen, der einen Friedensprozess leiten kann. Doch die Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung sollten so schnell wie möglich beginnen. Ohne einen politischen Horizont – eine Karotte, wenn man so will – wächst im staubigen Boden von Gaza nur Bitterkeit.“
Frieden in Nahost wäre auch gut für die Ukraine
Der ehemalige lettische Verteidigungsminister Imants Lieģis kommentiert bei Delfi:
„Die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung ist der einzige Weg zum Frieden. Neben der Zerstörung der Hamas muss auch dies das strategische Ziel Israels sein. … Der Krieg in Nahost birgt die Gefahr, dass irgendwann eine Zeit kommen könnte, in der mehrere Krisen nicht gleichzeitig bewältigt werden können. Die Vereinigten Staaten erleben weltweit wachsenden Widerstand, weil es Länder gibt, die eine neue Weltordnung auf der Grundlage autokratischer Machttechniken schaffen wollen. ... Daher würde eine schnellere Lösung des Konflikts im Nahen Osten unserem wichtigsten strategischen Partner die Möglichkeit geben, sich auf den Sieg der Ukraine zu konzentrieren.“
Massive Zerstörung muss ein Ende haben
Laut Neue Zürcher Zeitung ist ein Strategiewechsel in Gaza unausweichlich:
„Die Taktik der massiven Zerstörung hat ihr Ablaufdatum erreicht. ... Je grösser die Zerstörung im Gazastreifen ist, je mehr zivile Opfer der Krieg fordert, desto grösser ist die Gefahr, dass aus der Asche der Hamas eine noch radikalere Generation von Terroristen aufsteigt. Eine kompromisslose militärische Herangehensweise wird die Terrorgefahr zwar vorübergehend eindämmen, doch langfristig bietet sie weder mehr Sicherheit für Israel noch eine Perspektive für den Gazastreifen.“
Israel vor schwerem Dilemma
Die in Gang gesetzte Dynamik setzt Israel unter starken Druck, so die Süddeutsche Zeitung:
„Anders als Israel hat die Hamas jedes Interesse an einer möglichst langen Waffenruhe ... . Denn je länger sie dauert, desto mehr verliert der Krieg von seinem tödlichen Schwung. Viele Israelis wollen alle Geiseln nach Hause geholt sehen, lebend. ... [D]er Druck [wächst], das Sterben zu beenden: zugunsten welcher 'Verhandlungslösung' auch immer. Wer nicht an das Wunder umfassender Gespräche und eine baldige Zwei-Staaten-Lösung glauben mag, steht vor der schrecklichen Wahl: den Krieg zu tolerieren, bis die Hamas vernichtet ist, oder die Hamas überleben zu lassen und auf ihren nächsten Angriff zu warten. Wer diese Entscheidung treffen muss, ist nicht zu beneiden.“
Hamas muss trotzdem vernichtet werden
Die Waffenruhe darf nicht zu lange dauern, mahnt The Daily Telegraph:
„Man darf nicht vergessen, dass für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten nicht nur die Befreiung von 240 Geiseln, sondern auch die Neutralisierung der Hamas erforderlich ist. ... Die Hamas wird überleben, wenn Israel aufgrund internationalen Drucks dazu gezwungen wird, seine Operationen einzustellen. Das ist nicht unwahrscheinlich. Je länger die Feuerpause andauert, desto schwieriger dürfte es für Israel werden, Unterstützung für die weitere Zerstörung der terroristischen Enklaven zu erhalten. Die derzeitige Vereinbarung ermöglicht eine längere Feuerpause – solange Hamas weiterhin Geiseln freilässt. Aber ab einem bestimmten Punkt könnte das nicht mehr zum Vorteil Israels sein.“
Auslöser des Kriegs gerät in Vergessenheit
Israel verliert den Informationskrieg, befürchtet Népszava:
„Die internationale Reaktion [auf Waffenruhe und Gefangenenaustausch] hat wieder bewiesen, dass Israel diesen Krieg zwar gewinnen könnte, aber in Hinblick auf die Kommunikation bereits eine verheerende Niederlage erlitten hat. ... Das Gedächtnis der internationalen Öffentlichkeit hat sich als überraschend kurz erwiesen: Die Tag für Tag steigende Zahl der palästinensischen Opfer lässt die Gräueltaten des 7. Oktober immer weiter in Vergessenheit geraten ebenso wie die Tatsache, dass die Hamas allein die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trägt.“