Opposition gewinnt türkische Kommunalwahlen
Die kemalistische CHP ist überraschend als Siegerin aus den landesweiten Kommunalwahlen in der Türkei hervorgegangen. Anders als von den Umfragen vorausgesagt, übertrumpfte sie die AKP von Präsident Erdoğan nicht nur in einigen Metropolen, sondern auch in vielen Kleinstädten, selbst in Anatolien. 63 Prozent der Türken werden künftig von CHP-Bürgermeistern regiert. Kommentatoren sehen nationale und internationale Implikationen.
Veränderung durch Brückenbauen
Die CHP hat endlich die Lehren aus den vielen Niederlagen gegen die AKP gezogen, applaudiert NRC:
„Die Türkei kann sich verändern, wenn sich die Opposition verändert. Auch wenn Erdoğan den türkischen Rechtsstaat zerlegt hat und seine Gegner ins Gefängnis wirft, ist die Türkei nicht Russland oder der Iran. Dass die CHP immer verlor, lag vor allem an der CHP selbst. Statt sich auf sozial-ökonomische Themen zu konzentrieren, die die Wähler verbinden, zeigte sich die CHP lange geringschätzend gegenüber Erdoğans Anhängern und ließ sich zu einem polarisierenden Kulturkampf provozieren. ... Imamoğlu hielt sogar am Sonntagabend an der Taktik fest, die ihn groß gemacht hat: Die des Brückenbauens.“
Frauen konnten punkten
Das Wahlergebnis war auch ein Sieg der Frauen, bemerkt die taz:
„Elf Frauen wurden diesmal als (Ober-) Bürgermeisterinnen gewählt – vor den Wahlen gab es nur vier. Zudem gewannen Frauen in 61 kleineren Gemeinden. Die überwiegende Mehrheit sind Politikerinnen der CHP. Die Repräsentation ist also deutlich gestiegen, auch wenn sie immer noch nicht im demografischen Verhältnis steht. Aber ist das jetzt eine feministische Errungenschaft? Dass die Repräsentation von Frauen in Führungspositionen Gesellschaften positiv beeinflusst, ist wissenschaftliche Realität. Bei diesen Kommunalwahlen in der Türkei allerdings ging es ums Überleben. Die Lage der Wirtschaft ist katastrophal und die AKP spricht immer selbstverständlicher von der Scharia.“
Aufschwung dringend gesucht
Vor allem, aber nicht nur die AKP braucht jetzt eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, kommentiert Diena:
„Für den türkischen Präsidenten und seine Verbündeten gibt es im Grunde nur einen Weg, das Vertrauen der Wähler wiederherzustellen: das Land wieder auf den Weg des Wirtschaftswachstums zurückzuführen. Sollte dies scheitern, wird es Erdoğan schwerfallen, die Macht im Jahr 2028 an einen selbst ausgewählten Nachfolger zu übergeben. ... Sollte sich ein Teil der Wähler radikalisieren und zu Protestwählern werden, könnte das Land in innenpolitische Konflikte verwickelt werden, die erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Region hätten.“
Ohne Rechtsstaat keine Demokratie
Im osttürkischen Van ist Wahlsieger Abdullah Zeydan von der pro-kurdischen DEM nachträglich disqualifiziert worden. Das Bürgermeisteramt soll nun an den zweitplatzierten AKP-Kandidaten gehen. Laut DEM hatte das Justizministerium zwei Tage vor den Wahlen eine Gerichtsentscheidung aufgehoben, die Zeydans Recht auf eine Kandidatur bestätigt hatte. Für Yetkin Report eine inakzeptable Einmischung:
„Die mit Hilfe des Justizministeriums in letzter Minute durchgeführte Van-Operation wirft einen Schatten auf die Tatsache, dass der Wille des Volkes bei den Wahlen vom 31. März entscheidend war. Das ist inakzeptabel. Diesen Fehler muss man sofort korrigieren und dem Willen des Volkes Respekt zollen. Der Van-Skandal zeigt, dass die pluralistische Demokratie in der Türkei, die sich am 31. März bewiesen hat, nur dann voll funktionieren kann, wenn die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit erfüllt sind.“
Denkzettel der Konservativen
Bei den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr konnte Erdoğan noch gewinnen, erinnert Karar:
„Am 14. Mai [2023] standen der rechten Wählerschaft zwei Optionen zur Verfügung, als Reaktion auf die gigantischen Probleme und die Misswirtschaft, die mit dem Präsidialsystem türkischer Prägung entstanden waren: Entweder der 22-jährigen AKP-Regierung ein Ende zu bereiten oder Erdoğan noch einmal zu ermächtigen, um um jeden Preis der CHP nicht den Weg an die Macht zu ebnen. ... Man hatte die Wahl zwischen 'die Regierung geht oder bleibt'. Das war diesmal nicht so. Die Regierungswähler haben erkannt, dass diese Wahl eine Gelegenheit war, der Regierung eine deutliche Warnung zukommen zu lassen.“
Die AKP hatte alle Trümpfe in der Hand
Für Rzeczpospolita ist das Wahlergebnis eine schwere Schlappe für Erdoğans Partei:
„Die Niederlage des Lagers von Präsident Erdoğan wächst sich zu einem Fiasko aus. ... Und das trotz eines Wahlkampfs mit nahezu unbegrenzten finanziellen Mitteln, der Unterstützung des Regierungsapparats und aggressiver Propaganda in den staatlichen Medien. Die Niederlage des Regierungslagers ist umso dramatischer, als der Präsident erst im vergangenen Jahr eine weitere Amtszeit erreichte und seine AKP zusammen mit einer kleinen verbündeten nationalistischen Partei eine Mehrheit im Parlament erringen konnte.“
Gelbe Karte von den verarmten Bürgern
Lidové noviny sieht den Hauptgrund für den Wahlausgang wie folgt:
„Millionen armer Türken haben Erdoğans AKP für die schlechte Wirtschaftslage der vergangenen Jahre bestraft. Die jährliche Inflationsrate in der Türkei liegt seit langem über 50 Prozent (im Februar lag sie bei über 67 Prozent), die Kreditzinsen sind extrem hoch und die türkische Lira sucht weiterhin nach ihrem Tiefpunkt. ... Für Erdoğan hat die Niederlage noch einen weiteren unangenehmen Aspekt. Seine derzeitige Amtszeit als Präsident endet in vier Jahren, und um möglicherweise auf der höchsten Ebene der türkischen Politik zu bleiben, müsste er eine Verfassungsänderung durchsetzen. Kommentatoren sind sich mittlerweile einig, dass er dies nach der aktuellen Wahlschlacht kaum noch versuchen könne.“
Faire Wahlen fürs Image im Ausland
Präsident Erdoğan kann aus diesem Urnengang trotz Niederlage Profit ziehen, glaubt die Politikwissenschaftlerin Ino Afentouli in To Vima:
„Die Wahlen in der Türkei werden fair durchgeführt. Andernfalls hätte die Regierungspartei, die den Staatsapparat kontrolliert, die Möglichkeit, das Ergebnis zu verfälschen. Eine faire Durchführung der Wahlen verschafft Erdoğan Pluspunkte gegenüber externen Beobachtern, die ihm antidemokratisches Verhalten vorwerfen. Und er wird dies als Argument in seinen Beziehungen zur EU wie auch zu den USA nutzen. Er bleibt Präsident und es ist sehr wahrscheinlich, dass er in den Außenbeziehungen nicht versöhnlicher wird, sondern sein Bündnis mit der nationalistischen MHP erneuert und zu härteren Positionen zurückkehrt.“
Der Druck dürfte wachsen
Vom Ende Erdoğans zu sprechen, wäre verfrüht, schreibt der Türkei- und Griechenland-Korrespondent Gerd Höhler in der Frankfurter Rundschau:
„Er ist keiner, der leicht aufgibt. Dass er sich nun auf die Werte der Demokratie und des Rechtsstaats besinnt, ist kaum anzunehmen. Wahrscheinlicher ist, dass er nun seine Pläne für eine Verfassungsreform vorantreibt, mit der er sich noch mehr Macht und die Möglichkeit einer weiteren Amtszeit als Präsident verschaffen könnte. Der Druck auf die Opposition, Regierungskritiker:innen und Bürgerrechtler:innen dürfte wachsen.“
Außenpolitisches Profil von İmamoğlu noch unscharf
Laut La Repubblica muss sich die Opposition auch auf internationaler Ebene positionieren:
„Eines ist es, mehr Freiheit, Demokratie und Bürgerrechte zu fordern, etwas Anderes, eine alternative Vision von der Rolle der Türkei in der Welt zu formulieren, die sich von der derzeitigen unterscheidet. Eine der Aufgaben, die auf İmamoğlu in den vier Jahren [bis zur nächsten Präsidentschaftswahl] wartet, ist es, eine eigene Außenpolitik zu entwickeln. ... Als Bürgermeister von Istanbul ist das sicherlich keine Priorität. Aber als Anwärter auf das höchste Amt im Staat unverzichtbar. Die Frage ist, ob und wie er die Haltung der Türkei zu den Kriegen im Norden (Ukraine gegen Russland) und im Süden (Israel gegen die Hamas) ändern wird oder nicht.“
Die Demokratie ist noch nicht tot
Über die Niederlage der AKP freut sich De Standaard:
„Wir haben das auch anderswo auf der Welt gesehen: Wenn es darauf ankommt, wenn die Schädigung der Demokratie zu weit geht, reagiert der Wähler, so lange am Ende des Horizonts noch ein Rest von demokratischen Spielregeln schimmert. ... Kommunalwahlen sind zwar keine Präsidentschaftswahlen. Lokal liegt die Schwelle niedriger, nicht die regierende Macht zu wählen, vor allem da die AKP unter Erdoğan zur Ein-Mann-Partei wurde. Wenn man nicht den einen Mann wählen kann, ist mehr möglich. Aber das Ergebnis macht Hoffnung auf Veränderung.“