Israel: Kehrtwende nach Tod von Helfern in Gaza?
Nach massiver internationaler Kritik wegen des Todes von sieben Mitarbeitern der World Central Kitchen im Gazastreifen hat Israels Regierung zunächst Fehler eingeräumt – und nun die Öffnung von Grenzübergängen für zusätzliche Hilfslieferungen angekündigt. Auch innenpolitisch wächst der Druck auf Premier Netanjahu.
Erste Risse im Kriegskabinett
Benny Gantz, Kriegskabinettsmitglied und zugleich Chef der zweitgrößten Oppositionspartei, fordert vorgezogene Wahlen. Ein Hoffnungsschimmer, findet La Repubblica:
„Ein politischer Schachzug während des laufenden Konflikts, der in gewisser Weise in der Luft lag. Seit seinem Eintritt in das Notstandskabinett hat Gantz einen Ministerposten, ist aber nicht Teil der Mehrheitskoalition. Im Gegenteil, er ist der anerkannte Oppositionsführer an der Spitze der Partei HaMahane HaMamlachti – der einzige, der nach Ansicht von Analysten in der Lage ist, Bibi den Staffelstab zu entreißen. ... Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob Gantz' Worte das Ende des Kriegskabinetts bedeuten ... Doch sie sind ein erster Riss. Laut Umfragen würden im Falle einer Wahl Gantz 30 Sitze und Netanjahus Likud 20 Sitze erhalten.“
Ein zynischer Plan scheint aufzugehen
Aftonbladet zeigt sich ernüchtert:
„Die ohnehin schon verzweifelte Hungersnot in Gaza hat sich noch verschlimmert. Die Boote von World Central Kitchen drehten ab. Schon vorher war es unmöglich, genügend Hilfslieferungen zu bekommen. Jetzt ist es noch schwieriger geworden. Vielleicht hat die Hamas genau damit gerechnet, als sie am 7. Oktober den bestialischen Angriff verübte. Dass die Brutalität die israelische Führung dazu bringen würde, alle Grenzen zu überschreiten. Dass die Rache, anders kann man es nicht nennen, so schrecklich wäre, dass Israel jegliche moralische Glaubwürdigkeit verlieren würde. In diesem Fall ein schrecklich zynischer Plan, aber auf verdrehte Weise sieht es so aus, als ob er gelingen könnte.“
Warum Israel Fehler eingesteht
Israel hat einen schweren Fehler eingeräumt. So etwas hat es in den 76 Jahren seines Bestehens selten gegeben, stellt La Repubblica fest und analysiert die Gründe:
„Der erste ist, dass sechs der sieben Opfer Ausländer sind. … Das könnte der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt, wenn sich der Westen von der israelischen Operation in Gaza distanziert. Der zweite Grund ist, dass der Vorfall weitere Beweise für die Anklage wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof liefern könnte. … Der dritte Grund ist, dass Israel die World Central Kitchen braucht: Die NGO reagierte auf den Vorfall, indem sie ihre humanitären Aktivitäten im Gazastreifen einstellte, wodurch sich die Gefahr einer Hungersnot vergrößert - eine Katastrophe, für die die Uno Israels Regierung verantwortlich macht.“
Absicht oder nicht
Israel muss das Geschehene jetzt umgehend aufklären, fordert Dagens Nyheter:
„Medizinisches Personal und zivile Helfer werden in allen Kriegen zu Opfern, aber es ist ein enormer Unterschied, ob das unbeabsichtigt geschieht oder ob die Menschen bewusst zu Zielscheiben gemacht werden. Letzteres ist etwas, was wir mit der russischen Militärtaktik in Verbindung bringen, so wie wir sie sowohl in Syrien als auch in der Ukraine gesehen haben. … Israel muss den Ereignissen auf den Grund gehen, und wenn der Angriff eine bewusste Handlung war, müssen die Verantwortlichen vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Ansonsten würde die Militärführung ein direktes Kriegsverbrechen absegnen, und sei es auch nur im Nachhinein.“
Schutz von Zivilisten hat keine Priorität
Das Eingeständnis von Fehlern macht die Toten nicht wieder lebendig, schimpft Avvenire:
„Niemand bezweifelt, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte - wie die Regierung zugegeben hat -, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das Schießen auf unbewaffnete und identifizierbare Helfer das Ergebnis von Einsatzregeln ist, die nicht auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgerichtet sind. … So wurden in den vergangenen Monaten einige jüdische Geiseln getötet, und jeden Tag sind Dutzende oder Hunderte von Einwohnern, zumeist Frauen und Kinder, in die Auseinandersetzungen verwickelt: Die Bilanz der örtlichen Gesundheitsbehörden spricht von 33.000 Opfern bis gestern, 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.“
Krieg ist nunmal die Hölle
Westliche Politiker sind heuchlerisch, wenn sie Israel mit dem moralischen Zeigefinger kommen, findet The Spectator:
„Man sollte meinen, dass ein ehemaliger Premier [David Cameron, jetzt britischer Außenminister], der in Kriege verwickelt war, in denen ebenfalls Unfälle passierten, begreifen sollte, dass 'friendly fire' leider fast unvermeidlich ist. ... Auch US-Präsident Joe Biden hat sich zu Wort gemeldet und erklärt, er sei über die Tötung der Helfer 'empört'. Bleibt die Frage, ob er sich ähnlich empört über das US-Militär geäußert hat, als [2012] 37 Afghanen auf einer Hochzeitsfeier versehentlich durch einen US-Luftangriff getötet wurden. ... Im Krieg passieren schreckliche Unfälle. Denn Krieg ist nun mal die Hölle.“
Netanjahu entfernt sich vom Westen
Rzeczpospolita ist von der Reaktion Israels auf den Tod eines polnischen Helfers enttäuscht:
„Ein wirkliches Umdenken von Netanjahu und den extremen Nationalisten in seiner Regierung ist höchst unwahrscheinlich. Das haben die ersten Reaktionen des Premiers und seiner Diplomatie gezeigt: kein Mitleid, keine Entschuldigungen, einfach, dass solche Dinge in Kriegen passieren. Und - so die Folgerung - sie werden auch weiterhin passieren. Und jeder, der sich weigert, dies zu akzeptieren, und Israel kritisiert, ist ein Antisemit. ... Netanjahus Regierung hat sich von der Realität entfernt, zumindest von der Realität der westlichen Welt. ... Sie behauptet, dass sie für die westlichen Werte kämpft. Doch die sind im Israel von Benjamin Netanjahu immer weniger erkennbar.“