EU-Asylreform: Was kann sie bewirken?
Das EU-Parlament hat eine nach langem Ringen erreichte Einigung zur Verschärfung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gebilligt. Eine knappe Mehrheit nahm alle zehn vorgelegten Gesetzesvorschläge an. Asylverfahren sollen an den Außengrenzen abgewickelt, Abschiebungen beschleunigt und Hauptaufnahmeländer durch einen Solidaritätsmechanismus entlastet werden.
Ein taktischer Schachzug, keine Lösung
El País ist schwer enttäuscht:
„Der Pakt ist eine Niederlage für diejenigen, die glauben, dass die EU sowohl Migranten braucht als auch Verantwortung hat, sie aufzunehmen. Auf eigene Argumente zu verzichten und sich darauf zu beschränken, die Argumente der extremen Rechten zu verwässern, hat seinen Preis. Den zahlen verzweifelte Menschen, die vor Elend und Krieg fliehen, mit mehr Leid. Die neue gemeinsame Politik löst weder die Grundprobleme, die zu Migration führen, noch hilft sie zu vermeiden, dass das Mittelmeer zu einem Massengrab wird: 3.000 Menschen starben letztes Jahr bei dem Versuch, es zu überqueren. Ein taktischer Schachzug darf nicht mit einer Lösung verwechselt werden.“
Griechenland hat hier nichts gewonnen
Dieser Pakt markiert das Ende vom Europa der Solidarität, so Avgi:
„Ein Pakt, für den die Europaabgeordneten der Nea Demokratia gestimmt haben und der von der Regierung Mitsotakis gefeiert wird – obwohl er den Mitgliedstaaten erlaubt, sich anstelle einer echten, obligatorischen Solidarität, also einer gerechten Umverteilung von Asylbewerbern, für eine finanzielle 'Solidarität' zu entscheiden. Diese wird den Druck unweigerlich auf die Erstaufnahmeländer wie Griechenland verlagern, die Gefahr laufen, zu europäischen Guantánamos zu werden. ... Es ist bezeichnend, dass der Betrag von 20.000 Euro, den ein Mitgliedstaat bisher als Entschädigung für jeden nicht aufgenommenen Flüchtling zu zahlen hatte, in einen frei verhandelbaren Betrag umgewandelt wurde.“
Besser als nichts
Für Der Standard handelt sich um einen klassischen Kompromiss:
„Asylverfahren rasch abschließen, Zuwanderer in Arbeit bringen und integrieren, das ist seit langem ein EU-Hauptziel. Mit dem neuen Pakt könnte eine weniger lasche gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik als bisher gelingen. … Zweifel sind angebracht. Im EU-Parlament spiegelt sich das reale Europa ganz gut. Die Polarisierung wird eher stärker als schwächer, nicht nur in der Asylpolitik. Die dünnen Mehrheiten für eine nicht unvernünftige Realpolitik jenseits von Illusionen und Hass sind kein gutes Vorzeichen. Der Migrationsdruck wird durch zwei Kriege in der Nachbarschaft bald eher größer als kleiner werden. Bleibt das Prinzip Hoffnung. Ein beschlossener Asyl- und Migrationspakt ist jedenfalls besser als nichts.“
Keine Ursachenbekämpfung
The Irish Times ist skeptisch, ob das schärfere Asylgesetz wirklich den erwünschten Effekt haben wird:
„Es liegt auf der Hand, dass die stark wachsende Unterstützung für die nativistischen und einwanderungsfeindlichen Parteien in der gesamten EU im Vorfeld der Wahlen im Juni den Anstoß für die Ereignisse dieser Woche gegeben haben. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Maßnahmen diesen Zuwachs aufhalten werden, wie die Parteien der traditionellen Mitte hoffen, oder ob sie, wie einige vermuten, lediglich den Rechtsextremen in die Hände spielen. Sicher ist, dass – angeheizt durch Gewaltkonflikte, Armut und Klimawandel – der Strom derer, die sich auf die gefährliche Reise begeben, um ein besseres Leben in Europa zu suchen, nicht abreißen wird.“
Geschicktes Manöver der politischen Mitte
Dnevnik sieht die nahende Europawahl als Grund für den Zeitpunkt des Abschlusses:
„Da es sich bei dem Pakt um einen Kompromiss handelt, mit dem weder die linken noch die rechten Parteien des politischen Spektrums zufrieden sind, wird dessen Interpretation für Wahlzwecke natürlich diametral entgegengesetzt sein, mit dem Ziel, die Wählerschaft zu mobilisieren. Mit der Ratifizierung des Pakts hat Europa dennoch zumindest ein Ziel erreicht: Damit erlangten die etablierten Parteien der Mitte ein starkes Argument gegenüber den Populisten und der extremen Rechten, dass Europa in der Lage ist, seine Probleme aus eigener Kraft zu lösen und dass eine gemeinsame Asylpolitik möglich ist.“
Rechtspopulisten sollen ausgebremst werden
Iswestija sieht das Gesetzespaket als populistische Maßnahme der EU-Parlamentarier:
„Der neue Pakt steht im Widerspruch zur bisherigen toleranten Migrationspolitik der EU. Daher hat er erwartungsgemäß Proteste in der linksliberalen Öffentlichkeit hervorgerufen. Man kann sich vorstellen, dass die Europaabgeordneten diesen Schritt nicht zum Spaß getan haben. Am Vorabend der Wahlen zum Europäischen Parlament beschloss die regierende Koalition aus Mitte-Rechts und Mitte-Links, der rasch wachsenden Popularität rechter Politiker aus den Fraktionen 'Europäische Konservative und Reformer' und 'Identität und Demokratie' den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Letztere haben die EU-Führung scharf dafür kritisiert, dass sie der Masseneinwanderung nach Europa nachgibt – aber jetzt haben sie weniger Grund dazu.“
Fortschritt geht anders
Der Text ist eine Fehlentwicklung, kritisiert La Croix:
„Es ist normal, dass die europäischen Staaten eine Kontrolle an den Zugängen zu ihrem Gebiet ausüben. Doch durch den vorgesehenen Auswahlmodus wird das Risiko eingegangen, dass Willkür waltet und Verstöße gegen die Menschenwürde von denjenigen, die gegen ihren Willen in Zentren untergebracht werden, vorkommen. Vor allem scheint das Ziel mit der Aufnahmetradition zu brechen, zu der ein Großteil der Demokratien des Kontinents lange stand. Insbesondere Frankreich hat sich seit dem 19. Jahrhundert durch die Integration von zahlreichen zugewanderten Gemeinschaften weiterentwickelt.“
Erster Schritt auf einem langem Weg
Für Euphorie gibt es keinen Anlass, findet die Stuttgarter Zeitung:
„Die ernüchternde Erfahrung der vergangenen Jahre ist, dass es den schnellen, großen, gerechten Wurf nicht geben wird. Will Europa das Problem an der Wurzel anpacken, müssen nicht nur effektive Kontrollen an den Grenzen eingeführt werden. Die Transitländer müssen Teil des Konzeptes sein und vor allem die Herkunftsstaaten der Geflüchteten müssen einbezogen werden. ... [Ü]ber eine gezieltere Förderung von Entwicklungsprojekten [kann] dafür gesorgt werden, dass sich die Menschen erst gar nicht auf den Weg nach Europa machen müssen. All diese Vorschläge werden seit Jahren diskutiert ... . Das geplante Asylpaket ist in diesem Sinne ein Erfolg, aber es ist nur der erste Schritt auf einem sehr langen Weg.“
Falscher und unmenschlicher Ansatz
Eine Chance für ein grundsätzlich neues Verständnis der Migration wurde verpasst, wettert die Pressesprecherin von Sea Watch Italien, Giorgia Linardi, in La Stampa:
„Der Pakt spiegelt einen Ansatz wider, der die Migration weiterhin als Ausnahme, als Notfall behandelt, anstatt sie als strukturelles Phänomen unserer Zeit anzuerkennen. Dabei wird vorgezogen, diese nicht zu steuern, sondern sie wie Staub unter den Teppich zu kehren. .… Die Reform des europäischen Rechtsrahmens für die Einwanderung hätte eine große Chance sein können, die nicht nur vertan wurde, sondern auch die Grundlage für die Legitimierung der anhaltenden Verstöße an den Außengrenzen der Union schafft und es den Mitgliedstaaten ermöglichen wird, noch menschenrechtswidriger zu handeln.“
Schleusergruppen werden gestärkt
Für die Frankfurter Rundschau hat Europas Ausverkauf nun endgültig begonnen:
„Schon heute herrschen unzumutbare Bedingungen in den Lagern an den Grenzen, etwa in Griechenland oder Italien, ohne dass die EU etwas dagegen unternommen hätte. ... Warum also sollte die EU künftig die Augen öffnen für das Leid, wenn nun viel mehr Menschen in den Lagern an der Außengrenze festgehalten werden, einschließlich Familien mit Kindern? ... Das zeigt, wie sehr die EU in der Migrationspolitik nach rechts gerückt ist. Zu viele EU-Staaten wollen Flüchtlinge abschrecken, und dafür kommen unzumutbare Lebensbedingungen in den Lagern gerade recht. Das hat aber einen Nebeneffekt: Es stärkt die Schleusergruppen, die doch angeblich mit dem Geas [Gemeinsames Europäisches Asylsystem] zurückgedrängt werden sollen.“
Für Italien ein schlechter Deal
Die EU-Abgeordneten Italiens haben mit Ausnahme von Fratelli d'Italia und Forza Italia gegen die Reform gestimmt. Verständlich, findet La Repubblica:
„Für Italien ändert sich kaum etwas, und wenn, dann eher zum Schlechten. Die Last der Aufnahme und Verwaltung der Asylanträge von Migranten verbleibt beim Erstankunftsland, dessen Zuständigkeit sogar auf 20 Monate ausgedehnt wird und die Registrierung im Eurodac-System mit Identifizierung, Fingerabdrücken und biometrischen Erhebungen aller Ankommenden, einschließlich der Kinder, sowie die Überwachung der sogenannten Sekundärbewegungen gewährleisten muss. Es besteht wenig Hoffnung auf Umsiedlung der Ankommenden in nennenswertem Umfang oder auf konkrete Hilfe bei der Rückführung.“
Polens Nein ist konsequent
Die polnischen Abgeordneten haben den Pakt trotz neuer Regierung in Warschau abgelehnt - nachvollziehbar, so Polityka:
„Der Migrations- und Asylpakt, der von der Rechten oft als zu 'einwanderungsfreundlich' kritisiert wird, hat heute das Europäische Parlament passiert. ... Das polnische Nein, das von der Regierung Donald Tusks nachdrücklich aufrechterhalten wurde, kam für viele in Brüssel überraschend, obwohl es im Einklang mit Tusks Anti-Umsiedlungs-Erklärungen schon aus seiner Zeit als Vorsitzender des Europäischen Rates steht.“