Ukraine-Hilfe: Wende in Washington, Wende für Kyjiw?
Nach monatelangem Ringen hat das US-Repräsentantenhaus ein Gesetzespaket mit Ukraine-Hilfen in Höhe von 61 Milliarden Dollar verabschiedet. Auch viele Republikaner stimmten dafür. Rund neun Millarden sollen als Darlehen gewährt werden, 23 Milliarden gehen in die Aufstockung eigener US-Bestände. Voraussichtlich am heutigen Dienstag soll das Paket im Senat verhandelt werden. Europas Presse diskutiert die Tragweite der Entscheidung.
Mangel an Soldaten bleibt ein Problem
Die internationale Unterstützung genügt allein nicht für eine Wende, gibt Irish Independent zu bedenken:
„Der Waffennachschub dürfte Kyjiws Chancen verbessern, einen russischen Durchbruch größeren Ausmaßes im Osten zu verhindern. ... Doch Kyjiw hat immer noch mit Personalmangel auf dem Schlachtfeld zu kämpfen. ... Nach monatelangen Debatten tritt im Mai ein Gesetz in Kraft, mit dem die Regeln für die Einberufung in die ukrainische Armee geändert werden, um den Prozess schneller, transparenter und effektiver zu gestalten. Die neuen Wehrpflichtigen müssen jedoch erst monatelang ausgebildet werden, bevor sie eingesetzt werden können, was wiederum ein 'Zeitfenster' schafft, das Russland ausnutzen kann.“
US-Isolationismus ist zurück
Die Zustimmung zum Militärhilfe-Paket für die Ukraine heißt nicht, dass die USA nun wieder vermehrt global agieren wollen, warnt Publizist Frans Verhagen in De Standaard:
„'America First', Trumps Motto für seine Außenpolitik, ist beim durchschnittlichen Amerikaner populärer als der internationale Blick von Präsident Biden. Ein möglicher republikanischer Nachfolger sollte allen Verbündeten Sorgen machen. Wir können es nicht ignorieren: Der Isolationismus hat ein Comeback. ... 'America First' mag zwar ein Spruch mit einer belasteten Vergangenheit sein, und derjenige, der ihn benutzt, ein gefährlicher Opportunist, doch Isolationismus ist ein Gefühl, das in der amerikanischen Psyche tief verankert ist.“
Gefahr durch Russland ernster nehmen
Europa sollte sich bei der Unterstützung der Ukraine mehr ins Zeug legen, verlangt Kauppalehti:
„Obwohl die Unterstützung Europas für die Ukraine allen Bekundungen zufolge uneingeschränkt ist, gab es bisher verschiedene Hindernisse und Einschränkungen bei der Unterstützung. Es scheint, dass die Hilfe für die Ukraine groß genug ist, damit sie den Krieg nicht verliert, aber nicht groß genug, dass sie eine Chance hätte, ihn zu gewinnen. ... Europa sollte die Gefahr durch den Krieg in der Ukraine ernstnehmen. Man sollte sich fragen, ob Wladimir Putin, falls er ihn gewinnen würde, wirklich aufhören würde.“
Vom Ja-Sager zum Anti-Opportunisten
Die Kleine Zeitung lobt den Mut des republikanischen Sprechers des US-Repräsentantenhauses, Mike Johnson, der die Abstimmung möglich machte:
„Aus dem Trump ergebenen Ja-Sager Johnson, der die Regierung in Kiew mehrere Monate lange zappeln ließ, wurde in einer spektakulären Kehrtwende ein Anti-Opportunist. Die Abstimmung über das Ukraine-Hilfspaket ist aber nicht nur bemerkenswert, weil Johnson für seine Überzeugung politisch Kopf und Kragen riskiert. Sie zeigt auch, dass es möglich ist, seinem Beispiel zu folgen und mit Mut und Haltung Politik gegen den allmächtigen republikanischen Übervater Trump zu machen. So stimmten am Samstag nicht nur alle Demokraten für die Unterstützung der Ukraine, sondern auch mehr als hundert der 213 Republikaner.“
Sofortige Wirkung
Das sind für die Ukraine die besten Nachrichten seit einem Jahr, so The Economist:
„Die Folgen werden fast unmittelbar spürbar werden. ... In naher Zukunft werden ernsthafte Rückschläge auf dem Schlachtfeld verhindert und Russlands felsenfeste Überzeugung untergraben, dass seine Kriegswirtschaft ein unaufhaltsamer Koloss ist. ... Amerika plant, insgesamt 61 Milliarden Dollar in die Ukraine zu schicken. Der größte Teil davon wird für Kriegsgerät ausgegeben, indem die amerikanischen Militärbestände aufgefüllt und so mehr ausgeteilt und neue Waffen und Munition von US-Rüstungsfirmen beschafft werden können. Oberste Priorität haben Granaten. ... Die Hoffnung ist, dass dies ausreicht, um eine größere russische Offensive abzuwehren.“
Worst Case abgewendet
Erleichtert kommentiert Lidové noviny:
„Nur große Optimisten wetten darauf, dass der Krieg in der Ukraine gut endet. Aber selbst wenn es schiefgeht, ist es wichtig, in welchem Ausmaß es schiefgeht. Ob Russland die derzeit besetzten Gebiete behält oder ob es die Ukraine als Ganzes kontrollieren und dort eine Art Marionettenstaat schaffen wird. Das ist es, was Pessimisten befürchten. Der Ausgang der Abstimmung im US-Repräsentantenhaus soll dazu beitragen, dieses pessimistische Szenario abzuwenden. Und nach Samstag lässt sich sagen, dass das Risiko, dass der Krieg in der Ukraine schlecht endet, deutlich gesunken ist.“
Cameron und Duda in wichtiger Mission
Die Verabschiedung des Hilfspakets ist einem Stimmungswandel bei Donald Trump zu verdanken, erklärt der in den USA lebende Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin auf Facebook:
„Seit letzter Woche machte Trump den Mitte- und Mitte-Rechts-Republikanern im Kongress klar, dass sie für die Ukrainehilfe stimmen könnten - so wie sie es auch wollten, aber nicht taten, weil er dagegen war. Und er unterstützte Parlamentspräsident Johnson, der das Thema sonst nicht hätte zur Abstimmung stellen können. Was hat Trump umgestimmt? In den letzten Wochen besuchten ihn Persönlichkeiten vom britischen Außenminister Cameron bis zum polnischen Präsidenten Duda. ... Eine wichtige Rolle spielte natürlich auch, dass die Ukraine bei den US-Wählern starke Unterstützung genießt.“
Verzögerung hat die Ukraine gestärkt
Das monatelange Tauziehen hatte auch positive Nebeneffekte, meint Blogger Serhij Fursa auf Facebook:
„Ja, die Verzögerung in den USA hat uns an der Front viel gekostet. Doch andererseits hat sie zu einer Aktivierung Europas und einem radikalen Anstieg der Unterstützung durch die EU geführt. ... Die Rede ist von der wichtigsten Unterstützung: der militärischen. ... Es sei auch darauf hingewiesen, dass sich Trump faktisch für die Unterstützung der Ukraine ausgesprochen hat. Das hat die aus seinem möglichen Wahlsieg folgenden Risiken erheblich verringert. Der rituelle Ersatz von Zuschüssen durch Darlehen, die niemand zurückzuzahlen plant, ist ein symbolischer Schritt und ändert nichts am Kern der Sache. Wir lassen diese Phase faktisch in einer stärkeren Position hinter uns.“
Das Puzzle fügt sich zusammen
France Inter betont die Stärken der ukrainischen Armee:
„Zum Beispiel die Ausschaltung von 20 Prozent der russischen Schwarzmeerflotte sowie die neue Fähigkeit des Landes, Drohnen industriell herzustellen. Die Behörden sagen, dass allein in diesem Jahr zwei Millionen Exemplare von den Produktionsbändern laufen könnten. Außerdem zeigen sich die Ukrainer verstärkt in der Lage, in der Tiefe zuzuschlagen. Diese Woche richteten sie zum Beispiel großen Schaden an, als sie eine Militärbasis auf der Krim bombardierten. Und letztlich darf man auch nicht vergessen, dass in einigen Monaten die von mehreren europäischen Ländern versprochenen F-16 Kampfjets in Aktion treten sollen. ... Wenn man all diese Faktoren zusammennimmt und die US-Hilfe hinzufügt, kann man sagen, dass die Ukrainer noch Grund zur Hoffnung haben.“
Europa setzt zu sehr auf die USA
Die EU sollte endlich selbst mehr tun, fordert Ilta-Sanomat:
„Eigentlich sollte sich Europa dafür schämen, wie sehr es sich auf die US-Hilfe verlassen hat und wie wenig es selbst erreicht hat. … Die Unterstützung der USA ist von unschätzbarem Wert, aber es ist gefährlich, sich auf sie zu verlassen. Im November finden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Wenn Donald Trump gewählt wird, gibt es keine Garantie, dass er die Ukraine weiterhin unterstützen wird. … Bereits in seiner letzten Amtszeit hat Trump mehrfach gesagt, dass es für Europa an der Zeit sei, mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit zu übernehmen. ... Wollen wir wirklich, dass Trump zum Garanten der europäischen Sicherheit wird? Das ist Russisches Roulette.“