Braucht Europa eine Flüchtlingsquote?
Die Staats- und Regierungschefs konnten auf dem EU-Gipfel ihren Streit über die Verteilung von Flüchtlingen auf der Grundlage von verbindlichen Quoten nicht beilegen. Ratspräsident Tusk und mehrere osteuropäische Staaten wollen die Flüchtlingsquote abschaffen, Aufnahmeländer wie Deutschland und die Niederlande fordern Solidarität. Die verhärteten Fronten spiegeln sich auch in den Kommentarspalten wider.
Es geht ums Prinzip
Die EU muss in der Frage der Flüchtlingsverteilung standhaft bleibt, fordert der Deutschlandfunk:
„Die Europäische Union hat in ihrer Geschichte den politischen Kompromiss zur Perfektion gebracht. Oft wird er dann als Kuhhandel, als fauler Kompromiss gebrandmarkt. Meistens zu Unrecht, weil es sich in der Regel um einen kunstvollen Interessensausgleich handelt. In der Frage der Flüchtlingsumverteilung aber kann es keinen Kompromiss, keinen Interessensausgleich geben. Hier geht es ums Prinzip. Deshalb ist es richtig, dass die übrigen 23 Mitgliedstaaten in dieser Frage nicht vor den Visegrád-4 einknicken. Weiter das Gespräch zu suchen ist richtig. Ansonsten bleibt der Weg, der in einer Rechtsgemeinschaft vorgezeichnet ist. Und das ist der Weg zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg.“
2018 droht böses Erwachen
Neue Formen der Solidarität zwischen den EU-Mitgliedsländern sind nach Ansicht der taz nun gefragt:
„Die Lösung der Flüchtlingskrise liegt nicht in einem Zurück zu den Nationalstaaten, wie Tusk suggeriert. Denn das wäre, angesichts der Verweigerung in Polen, Ungarn und Tschechien, das Ende der Solidarität. Die Lösung liegt darin, die Solidarität anders und besser zu organisieren. Statt mit verpflichtenden Quoten könnte es die EU mit freiwilligen Kontingenten versuchen, statt mit Zwangsgeldern mit Solidarbeiträgen für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Der Westen sollte auf den Osten zugehen, statt ihn an den Pranger zu stellen. … [W]enn es weitergeht wie bisher und alle Probleme auf die lange Bank geschoben werden, dann droht 2018 ein böses Erwachen.“
Tusk entlarvt europäische Schnapsidee
Für Die Welt hat Tusk mit seiner Kritik zur Flüchtlingsverteilung eine bittere Wahrheit ausgesprochen:
„Der eigentliche Grund, weshalb die Verteilung nicht funktioniert, ist ... schlicht und ergreifend, dass Geflüchtete wenig Neigung zeigen, sich von der EU-Bürokratie verteilen zu lassen. Sie ziehen in jene Länder, von denen sie ohnehin träumten. Oder sie sitzen in jenen Ländern fest, aus denen sie nicht wegkommen. Wenn die Bundeskanzlerin Tusks Thesen nun mit dem Satz verwirft, es dürfe keine 'selektive Solidarität' unter EU-Mitgliedstaaten geben, dann sagt sie damit lediglich, dass nicht sein sollte, was ihrer Meinung nach nicht sein darf. Ist aber leider trotzdem so. Eine EU, die sich nicht einmal auf eine gemeinsame Wirklichkeitsbeschreibung einigen kann, wird für ihre aktuell größte Herausforderung keine Lösung finden.“
Es fehlt noch immer die gemeinsame Strategie
Die Kritik von EU-Ratspräsident Tusk am Quotensystem kann den Weg ebnen für eine neue Diskussion über eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik, betont die Neue Zürcher Zeitung:
„Dass Tusk dies anerkennt und mit seinem Tabubruch einen Schritt auf die Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken zu macht, ist ... politisch nachvollziehbar. Diese haben bereits reagiert und Italien 35 Millionen Euro in Aussicht gestellt für eine Mission zum Schutz der libyschen Südgrenze. Das sind nette symbolische Gesten. Sie ersetzen allerdings keine europäische Strategie. Dass möglichst viele Migranten bereits vor einer besser gesicherten europäischen Grenze abgefangen werden sollten, ist heute Konsens. Eine Politik ohne Illusionen akzeptiert aber auch, dass dennoch ein Teil durchkommt - legal oder illegal.“
Osteuropa muss Solidarität lernen
Beim EU-Gipfel hat der niederländische Premier Mark Rutte Viktor Orbán scharf kritisiert, weil sein Land keine Flüchtlinge aufnehmen will. Zu Recht, findet De Telegraaf:
„Sobald das Thema Migration auf der Tagesordnung steht, fällt die EU wieder streitend auseinander. ... Die Visegrád-Länder weigern sich, bei der verpflichtenden Umverteilung mitzumachen. ... Sie verkauften gestern in Brüssel eine Unterstützung von 35 Millionen Euro für den Afrika-Fonds als ihren Beitrag zur europäischen Solidarität. ... Solidarität bedeutet mehr, fand aber Rutte. ... Den Ost-Europäern muss in jedem Fall deutlich gemacht werden, dass es in der EU nicht nur darum geht, die Hand aufzuhalten. Es ist für jeden Politiker schwierig, zu Hause zu erklären, warum Asylsuchende kommen.“
Widerstand der Bevölkerung akzeptieren
Ob der Widerstand gegen die Verteilung von Flüchtlingen in Europa moralisch richtig oder falsch ist, sei dahingestellt, schreibt Club Z. Demokratisch sei er aber allemal:
„Die politische Realität zeigt, dass der Widerstand gegen die Flüchtlingsverteilung ein Massenphänomen ist. Eine echte Demokratie muss diese Realität akzeptieren. Andernfalls könnte sie ihr zum Opfer fallen. Die Angst vor Flüchtlingen schafft eine Brutstätte für demokratiefeindliche politische Kräfte. Je mehr sich Brüssel auf die Durchsetzung der Quoten versteift, desto mehr bringt es Populisten und EU-Skeptikern aller Couleur Aufwind und desto mehr schwächt es die proeuropäischen Traditionsparteien.“
Tusk stellt sich zu den Unsolidarischen
Äußerst merkwürdig findet die Frankfurter Rundschau das Verhalten Tusks kurz vor Beginn des Brüsseler Gipfels:
„Es ist ein Affront gegen Länder wie Italien, Griechenland und Deutschland, die besonders von der Flüchtlingsmigration betroffen sind. Tusk schlägt sich auf die Seite von Ländern wie Ungarn und Polen, die nicht mehr viel von europäischen Werten und europäischer Solidarität halten, aber immer laut 'hier' rufen, wenn in Brüssel Geld zu verteilen ist. Der Ratspräsident sollte sich überlegen, wie er vor Beginn des Gipfels die Kurve kriegt. Ansonsten läuft er Gefahr, seinen Ruf als ehrlicher Makler zu verspielen.“
Am Ende erhält Kaczyński Recht
Das regierungsnahe Onlineportal wPolityce freut sich über eine Anerkennung von Warschaus Flüchtlingspolitik:
„Der Brief von Tusk ist eines der ersten Signale, die die Richtigkeit der bisherigen Maßnahmen der polnischen Diplomatie bestätigen. ... Das ist übrigens auch eine Niederlage für Tusk, der wochenlang versucht hat, von den Maßnahmen zu überzeugen, die ihm die Europäische Kommission und Berlin souffliert haben. Er hat Warschau sogar gerügt, und heute - ob er will oder nicht - gibt er Kaczyński Recht.“
Italien und Griechenland sind wieder die Dummen
Dass Tusk die Quote zur Umverteilung von Flüchtlingen aufgeben will, empört Proto Thema:
„Er annulliert die einzige Flüchtlings-Entscheidung, die irgendwie zeigte, dass die EU tatsächlich noch eine Union ist und keine bloße Ansammlung von Staaten, in der ein neoliberales und nationalistisches Konklave das Sagen hat. … Den schwächsten Gliedern in der Reihe, den Dummköpfen Italien und Griechenland, wird das Flüchtlingsproblem zugeschoben. Schuld daran ist eine Handvoll Bürokraten, die sich die Ansichten von extrem konservativen und fast rechtsextremen Kräften in Deutschland angeeignet haben, sowie die Haltung der Visegrád-Staaten und anderer nördlicher und 'auserwählter' Staaten.“
Solidarität und Einheit längst eine Farce
Das Vorhaben Tusks überrascht Avgi hingegen überhaupt nicht:
„Der Abschied vom europäischen 'Ideal' der Solidarität und Einheit hatte bereits mit der europäischen Toleranz gegenüber den Visegrád-Staaten begonnen, als die sich weigerten, die ihnen zustehende Anzahl der Flüchtlinge aufzunehmen. … Es war eine Tolerierung, die dann durch die Verhängung einer Pro-Kopf-Flüchtlingsgeldstrafe für diese Länder legalisiert wurde. Es war mehr als offensichtlich, dass, sobald ein Land sich durch die Zahlung von 250.000 Euro pro [nicht aufgenommenem] Flüchtling von seinen Verpflichtungen befreien konnte, dieses Land es bevorzugen würde, diesen niedrigen Preis zu zahlen. Insbesondere in Ländern, deren Ideologie es ist, von Flüchtlingen 'sauber' zu bleiben.“