Welche Chancen bietet Netanjahus Ablösung?
Benjamin Netanjahu ist nach zwölf Jahren nicht mehr Israels Premierminister. Hauchdünn, mit 60 zu 59 Stimmen, votierte die Knesset am Sonntag für eine Acht-Parteien-Regierung unter Ultranationalist Naftali Bennett, an der unter anderem Jair Lapids liberale Zukunftspartei sowie mit Ra'am erstmals eine arabische Partei beteiligt sind. Europas Presse kommentiert, was sich jetzt ändern kann und muss.
Auch Frust kann zusammenschweißen
Dass es vor allem die starke Abneigung gegenüber Netanjahu ist, die diese Regierung eint, muss kein Nachteil sein, meint Benjamin Hammer, Israel-Korrespondent der ARD, auf tagesschau.de:
„Auf dem Rabin-Platz im liberalen Tel Aviv feierten Tausende Menschen das vorläufige Ende der Ära Netanyahu als Premierminister. Dass die eher linken Menschen in Tel Aviv damit indirekt auch den rechtsnationalen Bennett und dessen Nähe zur israelischen Siedlerbewegung feierten, wirkt zwar etwas absurd. Es zeigt aber, wie groß der Frust über Netanyahu war. Der könnte das Land nun zusammenhalten.“
Möglicher Neustart mit Israels Arabern
Die neue Koalition sollte ihren Erfolg im Verzicht auf weitere innenpolitische Polarisierung suchen, findet Financial Times:
„Die Chefs der Koalitionsparteien werden ihre politischen Differenzen beiseite legen und sich für das Wohl aller israelischen Bürger einsetzen müssen. In den vergangenen zwei Jahren war das Land innenpolitisch gelähmt. Wenn die Regierung erfolgreich ist, könnte sie den inneren Drang des moderaten Lagers zum Rechtsruck abschwächen und stark dazu beitragen, Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft davon zu überzeugen, dass die Politik des Landes integrativer sein kann. Wenn die neue Koalition scheitert, wird Israel die Qual einer fünften Parlamentswahl durchmachen müssen und das Vertrauen der Wähler in die Politik des Landes weiter untergraben.“
Zeichen der demokratischen Gesundheit
Berlingske hebt die Bedeutung des neuen Teams für die Rechtsstaatlichkeit hervor:
„Was wir uns vom Regierungswechsel in Israel zuerst erhoffen können, ist, dass die offenen Angriffe auf Israels rechtsstaatliche Institutionen reduziert werden. Da ist eine andere Dynamik als die, von der Benjamin Netanjahu angetrieben wurde. Man stelle sich vor, zum ersten Mal seit der Gründung Israels wird die israelische Regierung von einer arabischen Partei unterstützt. Das ist in der Tat ein großer Schritt für Israel und, dass das möglich ist, ein Zeichen der Gesundheit für die israelische Demokratie.“
Ambivalentes Erbe
La Repubblica analysiert, welche Erfolge und Baustellen Netanjahu seinen Nachfolgern hinterlässt:
„Einerseits war er der Architekt der wirtschaftlichen Modernisierung und der Garant der nationalen Sicherheit. Das gipfelte im Abraham-Abkommen, das den Frieden mit den Arabern auf die Emirate, Bahrain und Marokko ausdehnte. Andererseits hat er in fünfzehn Jahren Regierungszeit die palästinensische Frage, Quelle wiederkehrender Konflikte, nicht gelöst, wie der jüngste Austausch von Raketen mit Gaza bezeugt. Zu seinem Sturz haben eine lange Reihe von Skandalen und Gerichtsverfahren beigetragen. ... Doch ist nicht ausgeschlossen, dass es zu einer Revanche kommt. Denn die heterogene Koalition, die ihn ablöst, verfügt über eine Mehrheit von nur einem Sitz. ... Und Netanjahu wird die Opposition an der Spitze der stimmenstärksten Partei führen.“
Spaltung berechnend in Kauf genommen
Der scheidende Regierungschef hinterlässt ein wirtschaftlich stabiles, aber zutiefst zerrissenes Land, analysiert auch NRC Handelsblad:
„Mit ständigen Beschuldigungen und Verschwörungstheorien an die Adresse der Medien und Justiz untergrub er das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Er überzeugte seine Wähler davon, dass die Korruptionsklagen gegen ihn auf Lügen beruhen und dass das gesamte Rechtssystem nur seinen Untergang will. An der Macht zu bleiben und damit auch aus dem Gefängnis wurde sein Ziel, für das alles andere weichen musste. Der Premier verschaffte kleinen rechts-extremen Parteien, die ihm politisch helfen konnten, Spielraum, schloss Koalitions-Vereinbarungen, um sie dann wieder zu brechen und versuchte auf jede mögliche Weise, Druck auf andere Politiker auszuüben.“
Auf Nimmerwiedersehen, bitte
Nun geht es darum, sicherzustellen, dass Netanjahus Abschied definitiv ist, kommentiert Gazeta Wyborcza:
„Die vielleicht wichtigste Aufgabe der neuen Regierung wird die Verabschiedung eines Gesetzes sein, das Benjamin Netanjahu daran hindert, auf den Posten des Premierministers zurückzukehren. Es gibt die Idee, das Amt auf acht Jahre zu befristen. Alternativ könnte geregelt werden, dass der Premierminister kein in einem Strafverfahren angeklagter Politiker sein darf.“