Schengen-Raum: Warum darf nur Kroatien beitreten?
Die Entscheidung der zuständigen europäischen Minister vom 8. Dezember, nur Kroatien in den Schengenraum zu lassen, Rumänien und Bulgarien aber nicht, beschäftigt weiterhin die Gemüter. Österreich und die Niederlande hatten Bedenken gegenüber der Migrationspolitik der abgelehnten Länder angemeldet und damit den erforderlichen einstimmigen Beschluss blockiert.
Nein aus Eigennutz
Trud vermutet ganz andere Gründe als Migration für die Blockade:
„Wenn Bulgarien und Rumänien im Schengen-Raum wären, hätten die griechischen Häfen Piräus und Thessaloniki direkten und unmittelbaren Zugang zu Mittel- und Westeuropa, und dies wäre eine existenzielle Bedrohung für die Hegemonie von Rotterdam. ... Österreich wiederum ist der Hauptkorridor für türkische Waren in Richtung Deutschland und ganz Mitteleuropa. Wenn es eine alternative Route durch Bulgarien gäbe, würde ein Teil der Waren über uns geleitet, wodurch Staus und Verzögerungen in den Häfen vermieden würden. Der LKW-Verkehr durch Bulgarien würde die Transportkosten senken, die Logistik erleichtern und allgemein die Verbundenheit zwischen Europa und der Türkei verbessern.“
Noch ist nicht aller Tage Abend
Lidové noviny hat noch Hoffnung für die Abgelehnten:
„Womöglich kommt in die Schengen-Angelegenheit nach dem 29. Januar noch einmal Bewegung. Dann finden in Niederösterreich Landtagswahlen statt. Österreichs flächenmäßig größtes Bundesland ist eine Hochburg der Regierungspopulisten. Böse Zungen behaupten, dass der Kanzler und der Innenminister, die von hier stammen, manchmal so tun, als würden sie zuerst für diese Region jubeln und die Interessen des gesamten Staates erst danach für wichtig halten. So oder so wird der rumänische Botschafter, der zu Konsultationen nach Bukarest beordert wurde, Weihnachten in Wien verpassen. Aber bis Ostern könnte er wieder dort sein.“
Sofia und Bukarest müssen an einem Strang ziehen
Weil Niederlande eigentlich nur gegen Bulgariens Aufnahme waren, werden in Rumänien Rufe laut, die Anträge der beiden Länder zu entkoppeln. Spotmedia warnt davor:
„Die Entkoppelung ist schwierig, weil dann auch bestimmte Entscheidungen und rechtlich verbindliche Texte abgeändert werden müssten. Dies würde den gesamten Prozess in die Länge ziehen und während des ganzen Jahres 2023 Grund für neue Spannungen liefern. … Akzeptiert Rumänien den von den Niederlanden hingeworfenen Fehdehandschuh und überzeugt Österreich auf eigene Faust, uns Rückendeckung zu geben und so Bulgarien außerhalb von Schengen zu lassen, würde Sofia im Extremfall sein eigenes Veto einlegen und uns blockieren können. Das würde die Feindseligkeiten auf eine Spitze treiben, die Putin eine reine Freude wäre.“
Ungereimtheit mit vielen möglichen Ursachen
Jutarnji list rätselt darüber, warum nur Kroatien auserwählt wurde:
„Wir werden niemals richtig erfahren, ob Kroatien die 'Alteingesessenen', Rumänien und Bulgarien, allein deshalb übersprungen hat, weil es katholisch und (ein bisschen) weniger 'balkanisch' ist, oder weil es die Pakistanis in den Grenzregionen gewissenhafter verprügelt hat. Oder die Sache ist viel einfacher: Vielleicht war der Tourismus wieder einmal der Zaubertrank, wie immer bei uns. Vielleicht geht es eben nur darum, dass die Rumänen und Bulgaren in den Westen gehen und die Österreicher und Niederländer hierher kommen.“
Ungeschickte Politiker in Wien
Mit dem Veto hat sich Österreich vor allem selbst geschadet, stellt Newsweek România fest:
„Wenn Österreich gedacht hat, es würde Rumänien und Bulgarien zum Problem machen, dann hat es sich geirrt. Österreich ist selbst das Problem. Es ist plötzlich zu einem unsicheren Partner am europäischen Verhandlungstisch geworden, der ohne Vorwarnung seine Position ändern kann. Und nicht zuletzt hat Österreich damit seinen Ruf in Rumänien, in der größten Volkswirtschaft Südosteuropas, nachhaltig zerstört - wo es selbst sehr wichtige Geschäftsinteressen hat. Man kann nicht sagen, dass die Politiker in Wien allzu geschickt waren.“
Schutz der Außengrenze wäre wichtiger
Die Sorge um einen potenziellen Anstieg illegaler Grenzübertritte ist vorgeschoben, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Ob Bulgarien und Rumänien dem Schengenraum angehören oder nicht, ändert an diesem Problem wenig. Die wichtigsten Migrationsrouten in Südosteuropa verlaufen nicht durch diese beiden Länder, sondern über den Westbalkan. Dass der Wegfall der Grenzkontrollen zu einer gewissen Verlagerung führen könnte, ist zwar nicht ausgeschlossen. Doch viel wichtiger ist der Schutz der Außengrenze. … Die Geschichte der europäischen Integration ist voller Kandidaturen, die nicht an technischen Kriterien, sondern am innenpolitisch begründeten Widerstand einzelner Mitgliedstaaten scheitern. Auf dem Westbalkan kann so manches Land ein Lied davon singen.“
Jetzt endlich fähige Politiker wählen!
Die kroatischen Bürgern sollten die Chance der Aufnahme in die inneren Zirkel der EU nutzen, meint Index.hr:
„Trotz der Erfolge ist Kroatien weiterhin ein politisch verschlossenes Land, mit hunderten lokaler Bonzen und Schwindlern auf allen möglichen Ebenen. Ein Land, das von einer Partei regiert wird, die allein ihre eigenen Interessen bedient. Wie passt das zusammen? ... Wir sind nicht undemokratisch. Wir sind nicht unfähig. Aber als Volk wählen wir einfach grottenschlechte Politiker, die noch dazu korrupt und unbegabt sind. Der Beitritt zu allen wichtigen Formen der europäischen Zusammenarbeit ist eine Riesenchance für Kroatien. ... Aber die Verwirklichung dieser Chance hängt von uns, den Bürgern ab. Es kommt darauf an, wen wir wählen.“
Es ist eben ein Urlaubsland
Die Frankfurter Rundschau kann die Ungleichbehandlung nicht nachvollziehen:
„Wider besseres Wissen behauptet die EU-Kommission, im Umgang mit Geflüchteten würden dort [in Kroatien] die Grundrechte geachtet. Recherchen belegen das Gegenteil. Stattdessen wird gegen Rumänien und Bulgarien ins Feld geführt, sie ließen zu viele Geflüchtete durch. Wieder einmal setzen sich diejenigen durch, die - wie Österreich - einen harten Kurs der Abschottung fahren wollen. Den wichtigsten Grund für die Differenzierung kennen alle Beteiligten, und er ist geradezu zynisch: Kroatien ist Urlaubsland, die Autos stauen sich zur Ferienzeit an den Grenzen. Die EU will freie Fahrt für Touristinnen und Touristen, nicht aber für Menschen, die für sich ein besseres Leben suchen.“
Die Abweisung ist Teil unseres Selbstbildes
Österreich hat mit seinem Veto nur das Image von Rumänien verstärkt, das es selbst nicht korrigiert hat, meint republica.ro:
„Österreich hat es sich erlaubt, sich gegenüber Rumänien miserabel zu verhalten, weil das das Image ist, das wir in den letzten 30 Jahren von uns in die Welt projiziert haben. Dass wir nicht mehr wert sind, als dass man mit uns schroff umgeht, dass man uns in die Ecke drängt und dass wir jede Anweisung brav befolgen. Rumänien hat nicht bewiesen, dass es mehr ist als ein Land, aus dem man Erdöl und Erdgas für den Schengenraum holt, über dessen Bewohner man aber die Nase rümpft. ... Das Image eines Landes zu wandeln, ist eine schwierige Aufgabe. Alles beginnt mit unseren Entscheidungen, die zeigen, wie sehr wir uns selbst respektieren.“
Absage wegen Antiziganismus
24 Chasa hat eine Vermutung, warum Bulgarien und Rumänien aus dem Schengen-Raum herausgehalten werden:
„Das ganze Gerede über Migranten und Korruption ist nur Schall und Rauch. Die Wahrheit ist, dass die Nordeuropäer keine Roma wollen. Die meisten Roma in Europa leben in Rumänien und Bulgarien und das Ziel ist, dass sie hier auch bleiben, genau wie die Flüchtlinge, die aus Asien nach Europa kommen. Wenn möglich, sollen sie sich neben der Türkei auf ein anderes Gebiet verteilen, das zwar in der EU ist, aber nicht ganz.“
Unlogisch und inkonsequent
Die Alpenrepublik agiert politisch merkwürdig, findet die Wiener Zeitung:
„Dass Österreich mit dem Nein zum Schengen-Beitritt in Bulgarien und Rumänien in diesen beiden Ländern und in Brüssel guten Willen verspielt, ist unerfreulich: Denn gleichzeitig drängt Österreich seine europäischen Partner, Albanien, Bosnien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien endlich eine vernünftige [EU-]Beitrittsperspektive zu bieten. … Wenn Österreich nicht einmal Bulgarien und Rumänien bei Schengen dabei haben will, warum sollte man dann eine Mitgliedschaft der Westbalkanländer, die noch nicht Teil der Union sind, erwägen?“
Höchst unsolidarisch
Wien und Amsterdam scheren sich nicht im Geringsten um die Lage ihrer EU-Partner, kritisiert Jean Quatremer, Brüssel-Korrespondent von Libération:
„In Wirklichkeit betreiben Österreich - das von den Grünen mitregiert wird - und die Niederlande [die gegen den Beitritt Bulgariens gestimmt hatten] reine Innenpolitik, um den Populisten Honig ums Maul zu schmieren, ohne sich um die in den beiden Ländern verursachten Schäden zu sorgen. Denn sie vergessen, dass Bulgarien und Rumänien an den Seiten ihrer Partner gut gegen Russland standhalten trotz einer äußerst gespaltenen Öffentlichkeit und einer aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl schwer unter der Explosion der Energiepreise leidenden Wirtschaft.“