Was bewegt Europa am 1. Mai?
Vieles hat sich verändert, seitdem 1889 europäische Gewerkschaften und Arbeiterparteien beschlossen, am 1. Mai für einen Acht-Stunden-Tag, bessere Arbeitsbedingungen und Löhne auf die Straßen zu gehen. Europas Medien präsentieren ein Kaleidoskop an Themen, die in ihren Ländern am Tag der Arbeit relevant sind.
Italiens Regierung verschärft die Prekarität
Die Regierung in Rom hat ausgerechnet am Maifeiertag neue Arbeitsmarktmaßnahmen und eine Kürzung des Bürgergelds beschlossen. Avvenire kritisiert die Beschlüsse:
„Der Ministerrat möchte die Beschäftigungsmöglichkeiten wiederbeleben und die Arbeitnehmer 'bereichern', indem er die Steuerbelastung senkt. ... Stattdessen läuft er aber Gefahr, die prekäre Situation durch die Ausweitung befristeter Verträge noch zu verschärfen und die Arbeitslosen durch die Nettokürzungen des Bürgergeldes noch ärmer zu machen. Die Armen werden weiterhin dafür verantwortlich gemacht, dass sie arm sind, und junge Menschen werden beschuldigt, nicht in Bars und Restaurants arbeiten zu wollen. Dies sind aber genau die Berufszweige, in denen die Inspektoren festgestellt haben, dass es in 76 Prozent der Unternehmen Unregelmäßigkeiten wie Schwarzarbeit gibt.“
Alle buhlen um die Arbeiter
El Español kritisiert die Teilnahme spanischer Regierungsmitglieder an den Demonstrationen der Gewerkschaften:
„Die Unterstützung der Regierung für UGT und CCOO lässt Zweifel an der Unabhängigkeit einer Bewegung aufkommen, die weniger kritisch auftritt, wenn die Linke regiert. … [Die rechtsradikale Partei] Vox wendet ihrerseits die Strategie Marine Le Pens an und wirbt in den Arbeitervierteln im Süden Madrids um Wähler. [Vox-Chef] Santiago Abascal hat die irreguläre Einwanderung für wirtschaftliche Unsicherheit und Kriminalität verantwortlich gemacht. ... Konservative und Ultrarechte werden mit den Sozialisten um die Stimmen der Arbeiter buhlen, und das ist verständlich. Die Tatsache, dass sich die linken Parteien so schamlos bei den Gewerkschaften einschmeicheln, wird diesen Trend verstärken.“
Spazieren statt marschieren
In Rumänien hat sich der 1. Mai in den mehr als drei Jahrzehnten seit der Wende gewaltig verändert, beobachtet Ziarul Financiar:
„Großeltern und Eltern wurden noch gezwungen, vor den Chefs der Kommunistischen Partei aufzumarschieren, heute flanieren die Kinder und Enkel genüsslich auf der [Bukarester Prunkstraße] Calea Victoriei und beobachten, wer in welchem Outfit erscheint. Die Leute, die am Wochenende auf der Calea Victoriei unterwegs waren, sind in Rumänien geblieben und wollen auch weiterhin in Rumänien bleiben. … Sehr viele Angestellte der internationalen Multis in Bukarest, aber auch in anderen Großstädten, stellen fest, dass sie hier quasi Gleiches wie im Ausland bekommen haben: Die Jobs bei den Multis sind wie dort. Das Essen ist das Gleiche und die Löhne sind zwar geringer, haben aber eine größere Kaufkraft.“
Mit Kampfliedern erreicht man die Jungen nicht
In Deutschland gab es in den vergangenen Wochen Tarifabschlüsse, durch die die Arbeitnehmer deutlich mehr Geld erhalten. Dennoch sollten sich die Gewerkschaften nicht auf diesen Erfolgen ausruhen, fordert die Frankfurter Rundschau:
„Die Gewerkschaften brauchen endlich Konzepte, wie sie auch außerhalb der traditionellen Industriehochburgen Fuß fassen können, nicht nur in Pflegeeinrichtungen, sondern auch in der wachsenden Start-up-Szene. ... [D]ie aktuellen Streiks bei Lieferando zeigen: Gewerkschaftskampagnen können auch heute funktionieren. Ihre Vertreterinnen und Vertreter müssen aber moderner, weiblicher und vor allem jünger werden. Mit komplizierter Gewerkschaftssprache, brennenden Ölfässern vor dem Werkstor, Trillerpfeifen und Arbeiterliedern alleine wird das nicht funktionieren.“
Sind Bulgaren Opfer der Geschichte?
Die im Vergleich zu Westeuropa relativ geringe Produktivität und Effizienz der bulgarischen Arbeitnehmer galt vor 1989 als Folge des Kommunismus, schreibt news.bg anlässlich des 1. Mai und fragt, welche Ausrede es heute für dasselbe Problem gibt:
„Wir können nicht mehr sagen, dass wir von sowjetischen Stiefeln niedergedrückt werden und unsere Fähigkeiten nicht entwickeln können. ... Jetzt heißt es: Das Osmanische Reich hat uns fünf Jahrhunderte lang ausgebremst, wir mussten den Rückstand gegenüber dem industriellen Europa aufholen. Der Kommunismus verlangsamte uns um ein weiteres halbes Jahrhundert, und jetzt müssen wir die demokratische Welt einholen. Wir sind Opfer der Geschichte und der internationalen Situation!“