Von der Leyens EU-Rede: Wohin soll es gehen?
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ihre letzte Rede zur Lage der Union vor der Europawahl 2024 gehalten: Sie zeichnete das Bild einer EU, die geschlossen hinter der Ukraine steht, beispiellos gegen die Klimakatastrophe ankämpft und ohne Funktionsverlust in Richtung Erweiterung gehen könne. Zu einer möglichen zweiten Amtszeit äußerte sie sich nicht. Kommentatoren nehmen ihre Statements unter die Lupe.
Funke ist noch nicht übergesprungen
Das wichtigste Signal ging an die Ukraine, meint The Irish Times:
„Von der Leyens Hauptbotschaft bezog sich auf die moralische Notwendigkeit, sich politisch auf die nächste Erweiterungsrunde festzulegen - mit klarem Fokus auf der EU-Mitgliedschaft für die Ukraine. 'Die Zukunft der Ukraine liegt in unserer Union,' sagte sie. Man sei weiter an der Seite der Ukraine, so lange wie nötig. Zu den Erweiterungskandidaten zählen außerdem Serbien, der Westbalkan und Moldawien. Dies erfordert eine tiefgreifende Neuausrichtung der internen Entscheidungsfindung und der Budgets sowie gegebenenfalls den gefürchteten Prozess einer EU-Vertragsreform. Ob sich die einzelnen Mitgliedstaaten für dieses würdige Projekt begeistern werden können, ist höchst ungewiss.“
Beitritt der Ukraine konkret vorbereiten
Von der Leyen hält hinsichtlich des EU-Beitritts der Ukraine Kurs, kommentiert Rzeczpospolita:
„Anders als im letzten Jahr war von der Leyen dieses Mal nicht in Gelb und Blau gekleidet. Aber sie bleibt eine große Befürworterin des EU-Beitritts des Landes. Sie bescheinigte der Ukraine große Fortschritte bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Und sie kündigte an, dass sich die EU nun auf die Erweiterung vorbereiten werde. Und dafür müssten die Verträge nicht einmal geändert werden: Brüssel solle konkrete Vorschläge für Änderungen in der EU-Politik ausarbeiten, die ein reibungsloses Funktionieren einer aus mehr als 30 Ländern bestehenden EU ermöglichen sollen. Und das ist für Kyjiw viel wichtiger als eine blaue Bluse und ein gelbes Jackett.“
Weltpolitischer Akteur
Die EU befindet sich in einem nachhaltigen Wandel, kommentiert Helsingin Sanomat:
„Der russische Angriffskrieg zwang die EU, Maßnahmen zu ergreifen, um die Folgen früherer Versäumnisse auszugleichen. Als Folge des Krieges konzentrierte sich die Europäische Union auf Sicherheitsfragen. Gleichzeitig wurde sie mit ihren eigenen Schwächen und der Kluft zwischen Worten und Taten konfrontiert. ... Zu Beginn ihrer Amtszeit sagte von der Leyen, dass die Kommission, die sie leiten wird, eine geopolitische Kommission sein wird. Und das war sie auch. Die EU hat stärker und strategischer auf eine zunehmend komplexe geopolitische Situation und externe Krisen reagiert. ... Doch der Wandel ist noch nicht abgeschlossen, und auch protektionistische Bestrebungen machen sich bemerkbar.“
Bürger auf der Reise nicht vergessen
Für die konkreten Probleme vieler Menschen in der EU hat von der Leyen keine Lösungen parat, kritisieren die Salzburger Nachrichten:
„Warum ... entwirft von der Leyen diese Vision der großen, abschließenden EU-Osterweiterung? Aus geopolitischen Gründen. Es gilt, den Durchhaltewillen der Ukraine in der Verteidigung gegen die russische Aggression zu stärken. ... Was von der Leyen vergisst, ist, dass sie für ihre Vision eines noch größeren Europas die Bürgerinnen und Bürger der EU-27 auf die Reise mitnehmen muss. Und für deren ganz konkrete Sorgen und Nöte - Inflation, Energiepreise, Lebenschancen der Jugend - hat sie erstaunlich wenig Konkretes im Programm.“
Wogen glätten für Wiederwahl
In erster Linie ging es von der Leyen wohl darum, Chefin der EU-Kommission zu bleiben, beobachtet Mediapart:
„Während sie in Bezug auf die Ukraine mit der Mehrheit des Parlaments auf einer Linie zu sein schien, wurde der Rest ihrer Rede weniger positiv aufgenommen. Vor allem zwinkerte sie ihrer politischen Familie, der Europäischen Volkspartei (EVP), verstärkt zu, denn seit Monaten gibt es Spannungen. Sie hat versucht, die Scherben zusammenzufügen, um auch nach 2024 an der Spitze der Kommission stehen zu können.“