Nahost: Wie kann die EU deeskalieren?
Nach dem Angriff der radikal-islamischen Hamas auf Israel ringt die EU um eine geschlossene Haltung. Bei einem Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg wurde deutlich, dass insbesondere die Forderung nach einer humanitären Feuerpause für Gaza umstritten ist. Länder wie Spanien und Irland sind dafür, Deutschland und Österreich äußern Skepsis. Auch in den Kommentarspalten spiegelt sich die schwierige Entscheidungsfindung.
Zu wenig Einigkeit
Die EU hat bislang zu viele wichtige Fragen offen gelassen, beklagt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Mit Mühe haben sich die Staats- und Regierungschefs auf eine gemeinsame Erklärung verständigt, doch ist deren Inhalt nicht sonderlich belastbar. Sie verurteilen den Terror der Hamas und heben Israels Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen des Völkerrechts ebenso hervor wie den gebotenen Schutz von Zivilisten. Ist die Evakuierung von Gaza-Stadt ein Verstoß dagegen? Darf Israel zivile Ziele angreifen, wenn sich dort militärische Infrastruktur befindet? Oder muss es sich vielmehr auf einen Waffenstillstand einlassen, weil humanitäre Hilfe vor Terrorbekämpfung geht? Darüber besteht keine Einigkeit.“
Europa kann sich nicht auf eine Seite schlagen
Dass Spanien die Brücken zur arabischen Welt nicht abbrechen will, findet La Vanguardia richtig:
„Das ist keine einfache Position, besonders nach der Kontroverse, als die israelische Botschaft wegen der Aussagen der Podemos-Minister die Regierung beschuldigte, sich mit dem Hamas-Terrorismus zu verbünden. ... Andere EU-Länder wie Frankreich oder Deutschland haben eine deutlich positivere Haltung gegenüber Israel gezeigt, aber das Sánchez-Kabinett hält das für einen Fehler, weil sich Europa nicht auf eine Seite schlagen könne. Spanien will vermitteln, eine friedliche Lösung des Konflikts suchen und eine Eskalation verhindern, die zum totalen Krieg führt. ... Europa und Spanien lägen falsch, wenn sie die notwendige Unterstützung Israels mit der Ausgrenzung der Palästinenser verwechseln würden.“
Israel von Verhandlungen überzeugen
Expresso argumentiert:
„Seine Verbündeten müssen Israel zwingen, sich mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, der einzigen gemäßigten Instanz in diesem Konflikt, zusammenzusetzen. Ziel ist es zunächst, Israel dazu zu bringen, das Völkerrecht und die bestehenden Vereinbarungen zu respektieren, indem über den Rückzug aus den besetzten Gebieten und die Auflösung der illegalen Siedlungen verhandelt wird. Dann müssen schwierige Verhandlungen über den Status von Jerusalem aufgenommen und gemeinsame Sicherheitsmaßnahmen entwickelt werden, die nicht der etablierten kolonialen Kultur entsprechen. Nur so kann die Hamas zum gemeinsamen Feind von Israelis und Palästinensern werden. Anders wird es keinen Frieden geben.“
So konsequent wie gegenüber Russland handeln
Der Westen muss nun an zwei Fronten kämpfen, drängen der britische Ex-Premier Boris Johnson und der Philosoph Bernard-Henri Lévy in Le Figaro:
„Wir beobachten, dass Russland die Hamas keineswegs als Terrorbewegung betrachtet. Es hat den blutigen Angriff auf Israel nicht verurteilt und unterhält die besten Beziehungen der Welt zu den beiden Sponsoren der Mörder des 7. Oktober: Syrien und Iran. ... Der Terrorist Putin steht den Terroristen der Hamas in nichts nach: die russischen Streitkräfte töten Zivilisten und Militärs gleichermaßen. … Es geht in Israel und in der Ukraine um die gleichen Werte – und der Westen muss schnellstens wieder lernen, bis zwei zu zählen. Jede andere Haltung würde ein schreckliches Signal an all die auf der Welt senden, die Demokratien angreifen.“
Entwicklungshilfe gegen Radikalisierung
Dagens Nyheter fordert von Schweden, weiter Hilfsgelder nach Gaza fließen zu lassen:
„Die Hilfsgelder fließen gezielt an Kräfte, die der Radikalisierung entgegenwirken und sich für die Demokratie einsetzen – alles mit dem Ziel, eine friedliche und nachhaltige Zweistaatenlösung auf der Grundlage des Völkerrechts zu erreichen. Deshalb sollte die Regierung weiterhin Entwicklungshilfe leisten und die Bewohner von Gaza unterstützen, damit diejenigen, die heute Kinder sind, eine bessere Zukunft haben. ... Es geht darum, zwischen Hamas und dem palästinensischen Volk zu unterscheiden.“
Presse muss besonders sorgfältig arbeiten
Club Z kritisiert Teile der Medien:
„Was den Menschen in Gaza widerfährt, ist wirklich tragisch. Aber Medien und Menschenrechtsaktivisten scheinen zu übersehen, dass die gleiche Anzahl von Raketen von palästinensischem Gebiet auf Israel abgefeuert wird. Und zwar nicht gegen militärische Ziele, sondern einfach auf Teufel komm raus. Der Unterschied ist offensichtlich: Israel will die Terrororganisation Hamas zerstören, die Hamas will Israel und alle Juden vernichten. Für die Medien ist dies in Zeiten der sozialen Netzwerke jedoch schwierig zu vermitteln. Sie sollten endlich erkennen, dass sie nicht mit den sozialen Medien konkurrieren, sondern ein Gegenpol zu ihnen sein sollten - einer, dem man vertrauen kann und dessen Berichterstattung von Fachleuten geschrieben und überprüft wird.“
Brüssel muss sich entscheiden
Die aktuelle Gewalteskalation fordert eine eindeutige Positionierung der EU, urteilt Europa-Korrespondent Philippe Jacqué in Le Monde:
„Ein Diplomat in Brüssel erinnerte daran, dass 'es in Europa so viele Positionen zu dem Thema [Nahostkonflikt] gibt wie Mitgliedsstaaten'. Eine breite Palette diplomatischer Positionen, von Ländern, die Israel bedingungslos unterstützen, bis hin zu anderen, die eine weitaus kritischere Beziehung pflegen und sich mehr für die Frage des Friedensprozesses interessieren. ... Die Wiederaufnahme des Gewaltzyklus in Gaza zwingt die Europäer jedoch nun dazu, sich in einem Gebiet, das Teil ihrer Nachbarschaft ist, diplomatisch zu positionieren. Denn der Krieg und die Gefahr einer humanitären Katastrophe könnten unmittelbare Auswirkungen haben.“
Einzig gangbaren Weg einschlagen
Philosoph Massimo Cacciari fordert in La Stampa:
„Es wäre irrsinnig, heute zu glauben, dass man nach dem Angriff der Hamas und der israelischen Reaktion - ohne eine unkontrollierbare Ausweitung des Krieges zu riskieren - die einzig mögliche Lösung weiter auf die lange Bank schieben kann: Die Schaffung eines echten palästinensischen Staates in den Gebieten, die bereits durch UN-Resolutionen definiert sind und die Israel weiterhin besetzt hält, im Austausch für eine klare und endgültige Anerkennung des Staates Israel selbst. ... Auf diese Weise wird Israel selbst verteidigt, nicht durch unkritische und bedingungslose Unterstützung seiner Regierungen, was auch immer sie vorhaben.“
Die Spaltung im Innern
Der Krieg in Nahost heizt auch die Spannungen innerhalb der europäischen Gesellschaften an, befürchtet Corriere della Sera:
„Das Schlüsselland ist Frankreich. Zehn Flughäfen sind geschlossen. Das Schloss von Versailles wurde dreimal wegen Terroralarm evakuiert, ebenso der Louvre. … Emmanuel Macron hat sechs Millionen Muslime zu Hause, von denen viele schon von sich aus ziemlich wütend sind. Und er hat eine extreme Rechte, zwischen Le Pen und Zemmour, mit über 30 Prozent. Machen wir uns nichts vor: Sie mögen Souveränisten sein (als ob Macron das nicht wäre) und Globalisierungsgegner; aber der Treibstoff der Parteien von Le Pen und Zemmour - die nicht zufällig Reconquête [Rückeroberung] heißt - ist die Einwanderung, insbesondere die islamische.“
Moralische Autorität in Gefahr
El País kritisiert Ursula von der Leyens Israel-Reise:
„Einige Regierungen fühlten sich nicht vertreten und machten deutlich: Absolute Verurteilung der Angriffe der Hamas, aber die legitime Verteidigung Israels muss das Völkerrecht respektieren. ... Für Deutschland ist Israels Sicherheit eine Staatsangelegenheit. ... In Spanien hat die [israelische] Botschaft Regierungsmitglieder beschuldigt, sich mit der Hamas verbündet zu haben. La France Insoumise stuft die Hamas nicht als Terrorgruppe ein. Das Thema ist zum Kulturkampf geworden. Der Europäische Rat hat nun einen gemeinsamen Standpunkt festgelegt. ... Wenn die EU die Unterbrechung der Wasserversorgung des Gazastreifens nicht verurteilt, verliert sie ihre moralische Autorität. Wir brauchen das Gleichgewicht, das von der Leyen gestört hat.“
Spaniens Linke unterminiert europäische Einheit
Dass Sozialministerin Ione Belarra (Podemos) zu pro-palästinensischen Demos aufgerufen hat, hält El Mundo für skandalös:
„Die Schwere des Krieges im Nahen Osten, das Risiko einer neuen Welle dschihadistischer Anschläge in Europa und die rotierende EU-Ratspräsidentschaft verpflichten Spanien, in diesem Konflikt eine Führungsrolle zu übernehmen. ... Es ist inakzeptabel, dass wir der erste europäische Partner sind, der mit dem Land aneinander gerät, das Opfer des Hamas-Anschlags geworden ist. ... Die Regierungsbeteiligung der extremen Linken untergräbt Spaniens internationales Ansehen und steht im Gegensatz zur Position der wichtigsten europäischen Hauptstädte. ... In einer Zeit, in der nach dem dschihadistischen Anschlag in Brüssel die terroristische Bedrohung in Europa gestiegen ist, brauchen wir demokratische Einheit.“
Streng gegen Antisemitismus vorgehen
Politik und Gesellschaft in Deutschland und Österreich müssen antisemitischen Aktivisten Grenzen setzen, fordert Der Standard in Hinblick auf die Debatte über Demonstrationsverbote:
„Seit dem von langer Hand geplanten Terrorangriff der Hamas auf Israel ist die Zahl der antisemitischen und antiisraelischen Vorfälle in Deutschland und Österreich sprunghaft angestiegen. Neue offizielle Zahlen aus Deutschland zeigen sogar eine Verdreifachung im Vergleich mit dem Vorjahr. ... Politik und Gesellschaft müssen antisemitische Aktivistinnen und Aktivisten in die Schranken weisen und mit allen rechtlichen Mitteln, die dem demokratischen Rechtsstaat zur Verfügung stehen, gegen sie vorgehen.“
Problematische Debattenkultur in Deutschland
Dass die Rede des Philosophen Slavoj Žižek zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse heftig kritisiert wurde, weil er zwar die Terrorangriffe der Hamas verurteilte, aber auch forderte, den Palästinensern zuzuhören, ist für Dnevnik sinnbildlich für die deutsche Debatte zum Thema:
„Deutschlands Kulturministerin Claudia Roth machte [in ihrer Rede] deutlich, welche Botschaft die Messe aussendet: Als wäre eine Buchmesse kein Forum der Demokratie, kein sicherer Debattenort, sondern eine Botschafterin der durch Kollektivschuld belasteten deutschen Politik. Dann kam Žižek und erklärte den schockierten Besuchern, dass die Palästinenser nicht die Hamas sind. ... Erst in dem Moment, in dem ein Gegenstandpunkt geäußert werden kann, kann sich eine Debatte entwickeln. ... Und nur wenn sich eine Debatte entwickelt, funktioniert die Demokratie. Wir können Žižek nur danken.“