EU-Mittel für Polen freigegeben: Zu früh?
Weil die Regierung in Warschau nach Ansicht der EU-Kommission geforderte Reformen eingeleitet und wichtige Schritte zur Unabhängigkeit der Justiz zufriedenstellend erfüllt hat, sind 137 Milliarden eingefrorene Gelder formell freigegeben worden – die Mitgliedstaaten müssen aber noch zustimmen. Kommentatoren reagieren eher zurückhaltend.
Eine politische Entscheidung
Formale Gründe für die Freigabe sieht Rezczpospolita nicht:
„Hinter einer solchen Entscheidung steht in erster Linie eine politische Logik: Der Wunsch, anderen Ländern, die von Populisten regiert werden (Italien) oder regiert werden könnten (Frankreich), zu zeigen, dass es sich lohnt, den Rechtsstaat zu achten. Aber es gibt auch eine eher persönliche Logik. Ursula von der Leyen braucht die Unterstützung von Donald Tusk, um ein zweites Mandat als Chefin der Europäischen Kommission zu erhalten.“
Zweierlei Maß
Die Kommission gewährt einen ziemlichen Vertrauensvorschuss, findet die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Sie gibt im Rechtsstaatsstreit 137 Milliarden Euro frei, obwohl sie bisher im Wesentlichen nur politische Zusagen über die Erfüllung der angemahnten Reformen hat. Vor allem im Justizwesen ist die Aussicht gering, dass sich der Neuanfang in Warschau bald auch im Gesetzblatt widerspiegelt. ... In der EU wurde über Jahre hinweg argumentiert, dass die Rechtsstaatsverfahren dem objektiven Schutz des EU-Haushalts dienten und nichts mit Parteipolitik zu tun hätten. Genau der Eindruck entsteht nun aber, wenn an eine EU-freundliche Regierung in Polen andere Maßstäbe angelegt werden als an ihre Vorgänger, die 'Brüssel' bekämpften.“
Der Populismus ist nicht verschwunden
Polen ist trotz des Regierungswechsels noch längst kein liberaler Staat, schreibt der Politikwissenschaftler Jan Zielonka in Diário de Notícias:
„Die deutsche und die französische Regierung freuen sich über die Rückkehr des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk als polnischer Premier, sind aber über seine internen populistischen Bedrohungen besorgt. In Hauptstädten wie Rom, Bratislava oder Budapest [hingegen] beobachtet man den Niedergang des Populismus in Polen mit Sorge. ... Polen steht besser da als vor fünf Monaten, aber die Rückkehr der Liberalen an die Macht bedeutet nicht automatisch das Ende der illiberalen Politik.“
Man braucht doch keine Erpressung
Népszava sorgt sich um Ungarns Zukunft:
„Der wirtschaftliche Vorsprung Warschaus [gegenüber Budapest] wird immer größer, insbesondere nachdem die Europäische Kommission vergangene Woche angekündigt hat, dass sie die EU-Mittel für Polen freigeben wird. ... Und die Tusk-Regierung musste Brüssel dazu nicht einmal erpressen. Der Kontrast könnte nicht größer sein, denn wir können nicht einmal sicher sein, dass die Kommission die für Ungarn noch blockierten 20 Milliarden Euro jemals freigeben wird. Die Aussichten sind nicht ermutigend. ... Polen entfernt sich immer weiter von Ungarn. Und die anderen europäischen Länder sind längst außer Sichtweite.“