Gazastreifen: Was bewirkt die UN-Resolution?
Mit 14 Ja-Stimmen und der Enthaltung der USA hat der UN-Sicherheitsrat die Forderung nach einer "sofortigen Waffenruhe" im Gazastreifen angenommen. Die Resolution verlangt eine Feuerpause für die Dauer des islamischen Fastenmonats Ramadan und die Freilassung der von der radikal-islamischen Hamas genommenen Geiseln. Israel reagierte empört, die Hamas dankte dem Sicherheitsrat, forderte aber, dass die Geiseln gegen palästinensische Gefangene getauscht werden.
Bibi könnte sich verrechnet haben
Netanjahu lässt die Resolution kalt, klagt La Stampa:
„Schrecklich für die rund zwei Millionen palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen, die unter immer schlechteren Ernährungs- und Hygienebedingungen leben und ständig der Gefahr ausgesetzt sind, im Krieg zu sterben. Strategisch verheerend für die israelische Regierung, die sich auf Kollisionskurs mit der Biden-Regierung befindet. Benjamin Netanjahu hofft, damit durchzukommen. ... Dieses Mal könnte er sich verrechnet haben. ... Washington hat ein wichtiges Druckmittel: der stetige Fluss von Militärgütern, die für Israels anhaltende Kampagne gegen Gaza unerlässlich sind. Wird Biden den Hahn zudrehen? Oder wird er das israelische Vorgehen einfach missbilligen? Benjamin Netanjahu setzt auf Letzteres.“
Ärger über Waffenruhe vor Geiselfreilassung
Die Formulierung des Resolutionstextes ist hochpolitisch, meint Der Standard:
„Was zu Netanjahus jetziger wütender Reaktion beiträgt, ist die Nacheinandernennung von Waffenruhe und Geiselfreilassung im Resolutionstext. Die Formel liegt zwar seit Wochen auf dem Tisch – aber nicht in dieser Reihenfolge. Die USA haben das in Kauf genommen, um nach dem Scheitern ihres eigenen Textes dennoch Bewegung im Sicherheitsrat zuzulassen. Offenbar sieht Washington darin die einzige Hoffnung, die anderen Akteure wie Russland und China dazu zu bringen, ihrerseits Druck auf ihre Klienten auszuüben, die Region ohne Explosion durch den Ramadan zu bringen.“
Israel hat viel zu verlieren
Verhandlungen in Katar könnten einen Ausweg bieten, analysiert Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„Wenn Israel sich weigert, den Aufruf der UN zu respektieren, wird es heikel. Ein Ausweg aus der absehbaren Sackgasse wäre die Beschleunigung eines Abkommens in Katar: Es geht um die Aushandlung eines Waffenstillstands, der einen Austausch von Geiseln gegen Gefangene und den Zugang für humanitäre Hilfe in Gaza ermöglichen würde. Der Rückschlag, den Netanjahu gerade erlitten hat, würde durch die Rückkehr der Geiseln überdeckt werden. Israel hätte bei einer wachsenden Isolation, die eine Kampfansage an die UN mit sich bringen würde, viel zu verlieren.“
Resolution rettet Hungernde nicht
Irish Examiner fordert entschiedenes Handeln:
„Es fällt schwer, Begeisterung für die Forderung des UN-Sicherheitsrat nach einem sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen aufzubringen, wenn dort weiter hungernde Menschen nachts mit dem Gefühl schlafen gehen, im eigenen Grab zu liegen. ... Es ist unverantwortlich, dass Transporte von Hilfsgütern auf der anderen Seite der Grenze aufgehalten werden, wenn Kinder an akuter Unterernährung leiden. Es ist an der Zeit, die Gewalt zu beenden und die Region mit dringend benötigter Hilfe zu versorgen. Und wir dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren, dass die USA (und auch der Westen) mit einer Hand Hilfe leisten und mit der anderen Hand Waffen liefern.“
Armee muss Rafah einnehmen
Cicero beharrt darauf, dass ein Waffenstillstand derzeit allein der Hamas nützt:
„Eine Waffenruhe, einschließlich des geforderten Abzugs aller israelischen Truppen aus Gaza, gäbe ihr die Möglichkeit, sich zu regenerieren und die Kontrolle über den gesamten Streifen wieder zu übernehmen. Eben deswegen beharrt Israel darauf, Rafah einzunehmen, wo sich nebenbei auch die israelischen Geiseln mittlerweile befinden sollen. Denn sonst bliebe die Hamas unbesiegt, und alle bisherigen Kriegsanstrengungen wären umsonst gewesen. Ein Massaker wie das vom 7. Oktober könnte sich dann wiederholen.“
Möglicherweise kontraproduktiv
De Telegraaf befürchtet, dass die Resolution die Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien torpedieren könnte:
„Israel und Hamas verhandeln in Katar indirekt über eine Waffenruhe. Die Grundlinien sind deutlich: In einer ersten Phase die Freilassung von 40 israelischen Geiseln im Tausch für hunderte palästinensische Gefangene. Hamas kann sich nun aber auf die Resolution berufen und darauf pochen, dass die internationale Gemeinschaft ohnehin die sofortige Waffenruhe fordert. Israel kann wiederum behaupten, dass es keine Gegenleistung erbringen muss für die Freilassung der Geiseln, weil der Sicherheitsrat fordert, dass dies ohne Bedingungen geschehen soll.“
Biden verliert die Geduld
Zeit Online deutet die US-amerikanische Enthaltung als das erste sichtbare Zeichen eines Bruchs zwischen Biden und Netanjahu:
„Biden hatte seinen Ton gegenüber Netanjahu, den er seit Jahrzehnten kennt, zuletzt bereits verändert. Er sprach von seiner 'tiefen Besorgnis' in Bezug auf die geplante israelische Bodeninvasion in Rafah. ... Von einem Politikwechsel will das Weiße Haus offiziell nichts wissen, das ließ Biden über seinen Nationalen Sicherheitsberater John Kirby ausrichten. Der Präsident wird seine Loyalität gegenüber Israel so schnell nicht aufgeben. ... Aber der US-Präsident verliert – das zeigt die UN-Resolution – mehr und mehr die Geduld mit einem gänzlich uneinsichtigen Netanjahu. Das nicht ernst zu nehmen, wäre töricht.“
Israel kann das nicht ignorieren
La Stampa sieht Netanjahu jetzt unter Zugzwang:
„Das Vorgehen der UNO, verbunden mit dem laufenden Verfahren in Den Haag, setzt die israelischen Streitkräfte ernsthaft unter Druck. ... Die Operationen fortzusetzen, als ob nichts geschehen wäre – ganz zu schweigen von der Stürmung des riesigen Flüchtlingslagers, zu dem Rafah geworden ist – würde bedeuten, sich weiteren Anschuldigungen wegen Verletzung des Völkerrechts auszusetzen. Die harsche Reaktion des israelischen Premiers ist ein Zeichen dafür, dass Joe Biden ihn bis ins Mark getroffen hat.“
Einseitiger Druck
Die zu Krieg forschende Sozialwissenschaftlerin Limor Simhony kritisiert die Forderung in The Spectator entschieden:
„Während des gesamten Krieges waren UN-Vertreter konsequent und vehement anti-israelisch, wohingegen sie die Hamas nur leicht verurteilt haben. ... Diese Resolution könnte, in Verbindung mit der anhaltenden öffentlichen Kritik die Hamas ermutigen, ihre Haltung zu erhärten und die Bemühungen um eine Verständigung untergraben, was tragische Folgen für die israelischen Geiseln und die palästinensische Zivilbevölkerung hätte. Israelische Regierungsbeamte bezeichneten die Resolution als 'problematisch, weil man die Hamas zu nichts zwingen kann. Nur Israel wird unter internationalem Druck stehen, aber die andere Seite nicht.'“
Neuwahlen als Voraussetzung für Frieden
Politiken schaut weiter in die Zukunft:
„Wenn Frieden realistisch sein soll, bedarf es eines Regierungswechsels auf beiden Seiten. Die Israelis sollten nun Wahlen fordern und die Netanjahu-Regierung stürzen, die es versäumt hat, das Volk zu schützen, und deren brutale Kriegsführung dem internationalen Ruf Israels enormen Schaden zugefügt hat. Und den Palästinensern sollte die Möglichkeit gegeben werden, neue Führer und eine gemeinsame Regierung für das Westjordanland und den Gazastreifen zu wählen. Sowohl Präsident Mahmoud Abbas als auch die Hamas haben viel zu lange ein zunehmend zweifelhaftes demokratisches Mandat ausgeübt. Es ist Zeit für Veränderung.“
Kolossale Aufgaben für die Weltgemeinschaft
Für Delo ist diese Resolution nur ein Anfang:
„Die internationale Gemeinschaft steht vor einem historischen Moment. Neben der Sicherheit in Israel, dessen Bewohner am 7. Oktober die schlimmste Tragödie nach dem Holocaust erlebt haben, muss sie sicherstellen, dass sich die gesamte Region hin zu grundlegenden zivilisatorischen Standards der Demokratie bewegt. Gleichzeitig muss sie den Aufmarsch iranischer Ayatollahs, der mittels Hilfe für die Hamas, die libanesische Hisbollah und die jemenitischen Huthi erfolgt, und das Erstarken anderer autokratischer Kräfte wie Russland verhindern. Die Welt steht an einem Wendepunkt, und nach der UN-Resolution zu Gaza, auch wenn sie nicht leicht angenommen wurde, beginnt die harte Arbeit erst.“