Taliban zurück in Kabul: Was droht jetzt?
Nach ihrem blitzartigen Vormarsch haben die Taliban am Sonntag den Präsidentenpalast in Kabul besetzt. US-Kräfte kontrollieren noch den Flughafen der Hauptstadt, über den die Evakuierung von Angehörigen westlicher Staaten und ehemaliger Ortskräfte läuft. Nach der Rückeroberung der Macht durch die radikal-islamische Miliz fürchten Kommentatoren dramatische Folgen weit über Afghanistan hinaus.
Die Miliz hat globale Ansprüche
Die Taliban werden sich nicht mit Afghanistan begnügen, befürchtet Večernji list:
„Es ist nicht sicher, dass die Taliban innerhalb der Grenzen 'ihres' Staates halt machen werden. Denn in der Nachbarschaft, sowohl der unmittelbaren als auch der weiteren, ist der Kampf für ihre 'Werte' noch nicht zu Ende. Ihre Ansprüche sind global, nicht lokal. Der Erfolg der Taliban in einem Land erhöht das Risiko von Instabilität und Terror auf der ganzen Welt. ... Im Moment ist nicht absehbar, wer die Taliban ohne neue Intervention stoppen kann.“
Migrationsströme in alle Richtungen
Habertürk fürchtet
„große Sicherheitsprobleme in Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Es wird sich zeigen, dass nicht nur Radikale aus Afghanistan in diese Länder strömen, sondern sich auch Menschen von dort den Taliban anschließen werden. Es wird angenommen, dass sich unter den Taliban-Truppen, deren Stärke ein UN-Bericht auf etwa 90.000 schätzt, auch etwa 10.000 ausländische Kämpfer befinden, darunter auch Personen aus den zentralasiatischen Ländern. Im Norden Afghanistans, wo mehrheitlich vor allem Usbeken und Turkmenen leben, zum Teil auch Kirgisen und Tadschiken, könnte sich die Tendenz zur Migration in die Türkei verstärken.“
Der Dschihadismus hat wieder ein Zuhause
Nowaja Gaseta kommentiert:
„Das ist ein Triumph des Terrors. ... Ab Montag werden all die vermeintlich schon besiegten und zerschlagenen Dschihadisten in den sozialen Netzen neue Kämpfer werben: Es ist nicht vorbei, wenn es gelungen ist, das Kernland der feindlichen Welt zu 'besiegen'. Alle europäischen Geheimdienste sollten nun aufmerksam die Freitagspredigten in den Moscheen übersetzen und analysieren, deren Geistliche schon länger unter Beobachtung stehen. In Afghanistan selbst ist mit dem Entstehen neuer Trainingslager und dem Zuzug von terroristischen Organisationszentralen zu rechnen. Denn unter der Taliban-Flagge erwarten sie komfortable Bedingungen.“
PR-Sieg für den Terrorismus
Auch Der Tagesspiegel warnt:
„Die militante Islamistenszene, diese Internationale des Terrorismus, wird das als Sieg über den verhassten Westen feiern. Wird jubeln, dass selbst der 'große Teufel' Amerika in die Knie gezwungen wurde - und das kurz vor dem 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 ... . Mehr PR für die eigene Sache geht kaum. Millionen Unzufriedener, die vielen Wütenden in der muslimischen Welt, die sich vom Westen gegängelt fühlen - sie werden die Erfolgsserie der Taliban aufmerksam verfolgen und mit Beifall goutieren. ... Es wird sich rächen, das afghanische Volk den Islamisten überlassen zu haben.“
China wird in die Bresche springen
Die chinesische Führung wird sich nun als Bollwerk gegen den internationalen Terrorismus ins Spiel bringen, prophezeit Les Echos:
„Die Machtübergabe in Kabul ist nicht nur ein Wendepunkt in der Geschichte Afghanistans. Es ist der schwerste Rückschlag für den Westen seit der Suez-Krise 1956. ... Wenn 1975 nach dem Fall von Saigon weder Breschnews UdSSR noch Maos China die amerikanische Demütigung voll ausnutzen konnten, so gilt das heute nicht für Xi Jinpings China. Es wird Peking ein Leichtes sein, seine Karten richtig auszuspielen und die Widersprüchlichkeit der USA aufzuzeigen. ... Zu den Taliban sagt China 'Scharia ja, Al-Qaida nein'. Präsentiert sich das Land uns damit nicht bereits als Bollwerk gegen den muslimischen Terrorismus? Und nimmt uns damit potentiell in Geiselhaft, so wie es Erdoğan in der Türkei mit der Migranten-Frage tut?“