Ukraine unter Beschuss: Wessen Kalkül wird aufgehen?
Nach dem umfassenden Angriff russischer Raketen und Drohnen auf weite Teile der der Ukraine hat sich am Mittwoch der Nato-Ukraine-Rat getroffen. Die Nato-Staaten sicherten Kyjiw mehr Unterstützung zu, konnte sich aber weiterhin nicht darauf einigen, die noch geltenden Beschränkungen für den Einsatz westlicher Waffen gegen Russland aufzuheben. Russland hatte die Angriffe als Antwort auf Kyjiws Kursk-Offensive gestartet und rückt zudem in der Region Donezk weiter vor.
Ziele in Russland dürfen kein Tabu sein
Die rote Linie für den Einsatz bestimmter Waffen muss endlich fallen, fordert die Welt:
„Die Partner müssen Kiew jetzt die Erlaubnis erteilen, mit weitreichenden Waffen aus dem Westen (ausschließlich) militärische Ziele in Russland anzugreifen. Flugfelder, auf denen russische Kampfjets stationiert sind. Depots, in denen Raketen gelagert werden. Bislang greift die ukrainische Armee Ziele tiefer in Russland nur mit Drohnen aus eigener Produktion an. Für die aus Großbritannien gelieferten Marschflugkörper des Typs Storm Shadow oder ballistische Atacms-Raketen aus den USA gelten bislang Beschränkungen ... . Die ukrainische Regierung fordert schon lange, dass dies ein Ende nimmt. Und sie hat spätestens heute die besten Argumente auf ihrer Seite.“
Gefährliche Einschätzung
Proto Thema befürchtet eine weitere Eskalation des Krieges:
„Selenskyj erklärte eilig in den vergangenen Tagen, dass der ukrainische Vormarsch in Kursk beweise, dass Putins 'rote Linien' ein 'Bluff' seien und die westlichen Partner daher der Ukraine mit allen Mitteln helfen und die Beschränkung des Einsatzes von Waffensystemen gegen Russland aufheben sollten. Dies ist eine äußerst gefährliche Einschätzung, die den Westen in einen direkten Konflikt mit Russland verwickeln könnte, mit unvorhersehbaren globalen Dimensionen und Folgen. Denn Selenskyjs Gleichung trägt der Tatsache Rechnung, dass es bisher noch keine substanzielle und entschlossene Antwort aus Moskau gegeben hat – was aber nicht bedeutet, dass Russland und Wladimir Putin nicht reagieren werden.“
Bevölkerung zum Einknicken bringen
Russland versucht den Kampfgeist der Ukrainer zu brechen, beobachtet Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„Die Ukraine hat ihre Lage im Vergleich zum Jahresanfang ohne Zweifel verbessert, als es ihrer Armee einfach an Munition mangelte. Doch das Wettrennen zwischen Russen und Ukrainern auf den verschiedenen Schlachtfeldern ist noch nicht gewonnen, vor allem, wenn sich die Möglichkeit einer Verhandlungslösung durchsetzt. Die Moral der Zivilbevölkerung, die von russischen Raketen und Drohnen beschossen wurde, ist zweifellos Teil der Gleichung: Wladimir Putin setzt sie unendlichen Qualen aus, um sie zum Einknicken zu bringen.“
Missglückte Vergeltung
Als Erfolg kann Moskau seine Gegenschläge nicht verbuchen, findet La Stampa:
„Die Vergeltung des Kremls für den Durchbruch der Kyjiiwer Truppen auf russisches Territorium wurde erwartet und von russischen Politikern und Propagandisten lautstark beschworen. Nicht nur, um die öffentliche Meinung im eigenen Land zu befriedigen, sondern auch, um das politische und militärische Ausmaß der russischen Reaktion zu bewerten. Das Ergebnis scheint jedoch nicht begeistert zu haben, zumindest wenn man das zurückhaltende Schweigen der Kommunikationschefs des Kremls betrachtet. Von den 127 Raketen und 109 Drohnen wurden die meisten – respektive 102 und 99 - von dem ukrainischem Flugverteidigungssystem abgeschossen.“
Ein gefährliches Spiel
Kyjiw könnte sich verrechnet haben, warnt L'Humanité:
„Obwohl der ukrainische Plan zunächst gut zu funktionieren schien, ist das taktische Ziel noch lange nicht erreicht – und genau das hat die größten praktischen Konsequenzen. Moskau hat seine Truppen nicht umgruppiert, stattdessen intensiviert sich die russische Offensive im Osten, und Pokrowsk droht nun zu fallen. Es scheint, als würde Putin, ähnlich wie Selenskyj, nun ebenfalls ein gefährliches Spiel wagen: Er könnte versuchen, die Front im Donbass zu durchbrechen, um die ukrainische Armee zur Umgruppierung zu zwingen und so ihre Offensive auf Kursk zu stoppen. ... Durch die Bombardierung von Energieanlagen in mehreren Regionen signalisiert Moskau [zudem] deutlich, dass der Krieg nicht vor dem Winter enden wird.“
Putin in die Schranken weisen
Eine starke Ukraine liegt im Interesse der EU, schreibt El Mundo:
„Der Krieg wütet nun schon seit zweieinhalb Jahren, was zeigt, dass es für keine der beiden Seiten möglich ist, einen absoluten Sieg zu erringen. Deshalb bemühen sich sowohl Kyjiw als auch Moskau - dessen Verluste dreimal so hoch sind wie die der Ukraine, einigen Quellen zufolge bis zu 500.000 Personen, - um eine privilegierte Position am Tisch eines möglichen Dialogs. Kursk hat Putins Pläne, die Bedingungen für einen Frieden zu diktieren, vorerst zunichte gemacht. ... Eine einmalige Gelegenheit für Kyjiw, seine Position für einen gerechten Frieden zu stärken, der Putin davon abhalten würde, künftig eine imperialistische Aggression innerhalb der EU-Grenzen zu starten. Eine reale Bedrohung, gegen die sich die EU wappnen muss.“