Verschwörungen und Falschmeldungen über Flüchtlinge finden im Netz große Resonanz. Wer sie in die Welt setzt, ist oft schwer herauszufinden. Leichter ist zu durchschauen, wer davon profitiert.
Die Lüge als Machtinstrument
Dass die Flüchtlingsbewegung nach Europa von irgendeiner geheimen Macht gesteuert wird, gilt bei einem Teil der europäischen Internetnutzer offenbar als erwiesen – auch wenn es dafür keine Beweise gibt. Die Behauptung reiht sich ein in zahlreiche Falschinformationen, Hetzen und Legenden über Flüchtlinge, die im Netz verbreitet werden. Wer hinter der Propaganda steckt, ist oft schwer zu durchschauen. Leichter zu erkennen ist, wer von ihr profitiert.
"Im Internet beobachten wir das Ende Europas"
Die Argumentationslinien der Verschwörungstheoretiker und Untergangsapologeten - die sich in vielen europäischen Ländern ähneln - beschreibt der litauische Journalist Vytautas Bruveris in der Zeitung Lietuvos rytas: "Da wird behauptet, dass der Islam den geschwächten Westen allmählich okkupiert und Europa im kulturellen, politischen und militärischen Sinne aufgefressen wird. Es herrscht eine besonders radikale Kritik an der Schwäche Westeuropas vor. Für deren Ursache werden nicht nur die 'politische Korrektheit', die Toleranz und der Multikulturalismus gehalten, sondern die ganze liberale Demokratie." Einblick in diese Denkweise gibt der Pro-Kreml-Kolumnist Eduard Limonow in der russischen Tageszeitung Izvestia: "Im Internet, auf den TV-Bildschirmen, in den Zeitungen beobachten wir das Ende Europas. Der Chimäre des Islamischen Staats steht heute ein entwaffnetes Christentum gegenüber, das keine Religion mehr ist, sondern träges Menschenrechtsgetue, träger Moralismus."
Flüchtlinge als Teil einer Gefahr, die von außen gesteuert über das entkräftete Europa hereinbricht: Um dieser Theorie Nachdruck zu verleihen, führen Internetnutzer erfundene oder halbwahre Geschichten an, bevorzugt dabei ist die der Vergewaltigung einheimischer Frauen durch Migranten. Dass die Polizei die allermeisten Vorwürfen, die im Netz kursieren, nicht bestätigen kann, gilt in rechten Kreisen dann lediglich als Beweis dafür, dass auch sie ganz tief im Lügengeflecht mit drinsteckt.
Der "Fall Lisa"
Der "Fall Lisa" war eine der prominentesten dieser Art von Geschichten - und führte sogar zu diplomatischen Verwerfungen zwischen Russland und Deutschland. Das dreizehnjährige russlanddeutsche Mädchen aus Berlin verschwand im Januar für 30 Stunden und berichtete ihren Eltern dann, dass sie sei von drei Migranten vergewaltigt worden sei. Der Vorwurf der Vergewaltigung wurde von der Staatsanwaltschaft zwar recht schnell fallen gelassen. Doch hatten russische Medien den Fall bereits zu einem Riesenfall aufgebauscht, der in mehreren deutschen Städten zu Protesten von Neonazis und Russlanddeutschen führte.
Sie warfen der deutschen Justiz vor, die Vergewaltigung aus "politischer Korrektheit" verschleiern zu wollen. Selbst der russische Außenminister Lawrow schaltete sich ein und machte sich zum Anwalt des Mädchens, was die russische Zeitung Swobodnaja Pressa gleich rechtfertigt: "Westliche Politiker sind es gewohnt, dass sie sich in jeden Vorfall in Russland und anderen ihrer Meinung nach zweitklassigen Ländern einmischen können. Doch alles, was in ihren Ländern passiert, halten die Europäer für ihre eigene Angelegenheit.“
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung profitiert von dieser Geschichte jedoch vor allem die russische Führung. Denn so könne "der Kreml dem Volk zeigen, wie gefährlich Flüchtlinge für Russland wären" und von innenpolitischen Problemen ablenken. Somit sei "der Fall nicht nur ein Musterexempel russischer Propaganda, sondern auch ein Indiz für Moskaus aktive Unterstützung von Rechtsradikalen in Europa."
Online-Gerüchte nutzen Kreml und Rechtsradikalen
Doch nicht nur eine russische Propagandamaschine profitiert von solcher Art Gerüchte – egal, wie sie nun auch entstanden sind. Für rechte Bewegungen und Parteien in ganz Europa wirkt die Gerüchteküche im Internet wie ein kostenloses Wahlkampfhilfe, bemerkt die französische Version der Huffington Post: "Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen Front National, übernimmt die Theorie eines Komplotts der Eliten, die das Volk mit Migrantenströmen überfluten wollen. Dadurch soll die Angst vor einem Untergang ausgelöst werden, die zwar unbegründet ist, sich aber bei Wahlen auszahlen kann, da sie der Manipulation der Öffentlichkeit dient."
Damit können Lügen und Desinformationen über Flüchtlinge im Netz zu einem Machtinstrument werden, beobachtet Frank Patalong auf Spiegel Online: "Dieses Streuen von Lügen, verfälschten Informationen und haltlosen Behauptungen gehört von jeher zum Werkzeug von Demagogen und Volksverhetzern. Um wirklich Wucht zu entfalten, brauchten sie einst willige Medien, um Massen zu erreichen." Heute hingegen werde das Propagandageschäft von Facebook, Blogs und "freien, unabhängigen Nachrichtenseiten" erledigt.