Auf der Flucht ist das Smartphone überlebenswichtig – nicht nur physisch sondern auch psychisch. Es hilft auf dem Weg und dabei, die Hoffnung nicht zu verlieren.
Ein Stück Heimat in der Hand
Das türkische Internetportal Radikal erklärt, warum die Mobiltelefone so wichtig auf der Flucht sind: "Mit ihren Handys können Flüchtlinge Kontakt mit der Familie halten, Verbindung zu Schleppern aufbauen und in Notsituationen Hilfe anfordern. Besonders gefragt sind wasserfeste Smartphones, die auch eine Flucht über das Mittelmeer überstehen könnten. Im Notfall könnten ihre anderen Besitztümer verloren gehen und das Boot kentern – nur das Telefon darf nicht versagen." Als Tool für alle Fälle hilft das Gerät also dabei, die beschwerliche Reise physisch zu überstehen. Es gibt zahlreiche Apps, die zeigen, wo man schlafen kann, die fremde Sprachen übersetzen oder auflisten, welche Sachen man für die Flucht packen sollte. "Diejenigen, die über das Mittelmeer kommen, nutzen Whatsapp, um regelmäßig ihre Standort-Daten auf Google Maps zu aktualisieren, so dass sie im Notfall einen teuren Anruf bei der Küstenwache vermeiden können", so das US-Webmagazin Wired.
Durch Smartphones entsteht eigenes Narrativ
Mindestens genauso bedeutsam ist jedoch die Eigenschaft des Smartphones für das psychische Überleben, als Verbindung nach Hause, zu Familie und Freunden. Der Politikberater Farid Gueham beschreibt auf dem französischen Blog Trop Libre: "Das Mobilfunktelefon fungiert auch als Bote: Per SMS, Sprachmitteilungen und Fotos beruhigt es das Umfeld und die Angehörigen, die in der Heimat zurückgeblieben sind. Neuigkeiten von ihren Angehörigen stellen für die Flüchtlinge zudem eine Quelle der Hoffnung dar, denn oft ist es schwierig für sie, Zuversicht zu bewahren." In den vielen Selfies, die während der Flucht entstehen und von denen einige über Facebook oder klassische Medien den Weg in die breite Öffentlichkeit finden, sieht Wired auch den Versuch flüchtender Menschen, ihre eigene Geschichte zu schreiben, in einer Zeit, in der sie wenig Macht über ihr Schicksal haben: "Vor allem Flüchtlinge, die dem Chaos in Syrien entkommen sind, benutzen ihre Telefone, um ihre Reise in ein besseres Leben zu dokumentieren. Es gibt ihnen die Möglichkeit, wenigstens ein bisschen Kontrolle zu behalten in einer Zeit großer Unsicherheit."
Dass es vor allem Syrer sind, deren Geschichten wir in sozialen Netzwerken lesen und deren Selfies wir sehen, liegt aber natürlich auch daran, dass Syrien vor dem Krieg technologisch kein unterentwickeltes Land war. Genau, wie ihre Altersgenossen im Westen surfen junge Syrer mit Leidenschaft im Internet und tippen auf ihren Smartphones herum, nutzen dieselben sozialen Netzwerke und Apps. Laut einer Studie vom Januar 2015 besaßen 86 Prozent der jungen Syrer in Jordaniens größtem Flüchtlingslager Zaatari ein Smartphone, die Hälfte von ihnen nutzte das Internet mindestens einmal am Tag. Hilfsorganisationen und freiwillige Helfer stellen Sim-Karten dafür zur Verfügung und bauen WLAN-Verbindungen auch in den entlegensten Flüchtlingscamps oder entlang der Fluchtrouten auf.
Auch in Idomeni gibt es Internet
In Idomeni, dem Lager an der griechisch-mazedonischen Grenze, in dem derzeit tausende Flüchtlinge unter verheerenden Bedingungen gestrandet sind, gibt es dank des Engagements eines Einzelnen eine stabile Internetverbindung. Ilias Papadopoulos, ein griechischer Elektroingenieur installierte schon im August 2015 eine WLAN-Infrastruktur in einem leerstehenden Campingwagen. Die Verbindung mit dem Namen "Free" ermöglicht es den Menschen vor Ort auch bei widrigsten Bedingungen den Kontakt zur Außenwelt zu halten, schreibt das britisch-amerikanische Onlineportal Mashable.
Das Bild des Flüchtlings mit dem Mobiltelefon in der Hand weckt aber in den Ankunftsländern häufig Zweifel an der Hilfsbedürftigkeit der Flüchtlinge. Warum müssen sie flüchten, wenn es ihnen doch so gut geht, dass sie sich ein teures Smartphone leisten können?, fragen sich einige Menschen. "Solche Reaktionen sagen mehr über unseren westlichen Materialismus aus, als über die Flüchtlinge selbst", kommentiert die niederländische Journalistin Lisa Bouyeure in der Wochenzeitung HP/De Tijd. "Wie stellen wir uns diesen Krieg eigentlich vor? Auf der einen Seite steht Assad, auf der anderen IS und auf einmal – Abacadabra, hop! – verschwindet alles Eigentum? Oder denken wir, dass Menschen mit Besitz und Geld immun vor Bedrohung, Hunger und Krieg sind? Vielleicht sehen wir Kriegsflüchtlinge einfach nur am liebsten wie in einem dummen Reklamespot: Ausgehungert, bettelarm und heulend." Ohne zu zögern, ist sie sich jedoch sicher, würde jeder Flüchtling sein Smartphone gegen ein sicheres Heim eintauschen.