Türkische Diaspora nach Referendum im Fokus
Im europäischen Ausland hat das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem deutlich mehr Zustimmung erfahren als in der Türkei selbst. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten fast 60 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja. Was sagt dieses Ergebnis über die Integration der Auslandstürken in Europa aus und welche Schlüsse sollte man daraus ziehen?
Pass hat nichts mit Loyalität zu tun
Die CDU fordert als Reaktion auf das Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden Türken Einschränkungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft. Eine wenig zielführende Debatte, findet Spiegel Online:
„Statt um die große Politik geht es vielen Menschen bei der Entscheidung für Pässe vielmehr um praktische Fragen, um Reiseerleichterungen etwa, oder um die Möglichkeit zum Immobilienbesitz in dem jeweiligen Land. Und was würde denn das Ergebnis sein, wenn sich die Menschen wieder öfter für einen Pass entscheiden müssten, wie es manche in der Union und AfD wollen - und wenn diese Menschen dann den türkischen wählten? Sie würden ja trotzdem in Deutschland leben und würden sich sicher nicht zugehöriger fühlen als mit beiden Pässen. Und wenn sie sich stattdessen unter Druck für den deutschen entschieden, würden sie sich dann automatisch einer freien, demokratischen Gesellschaft verpflichtet fühlen? Das ist leider reines Wunschdenken.“
Risiko Parallelgesellschaft
Die Ergebnisse des türkischen Referendums in Westeuropa zeigen, wie wenig integriert die Türken dort sind, kritisiert die Tageszeitung 24 Chasa und fürchtet, dass es den Migranten aus dem Nahen Osten ähnlich ergehen wird:
„Wie ist es möglich, dass der Diktator in der unterdrückten Türkei mit Mühe und Not 51,4 Prozent erreicht, und im freien Europa über 60 Prozent?! Nun stellt sich die Frage, ob die vielen Migranten, die uns in den letzten Jahren wegen der Kriege im Nahen Osten überrollt haben, irgendwann dieselbe Einstellung haben werden wie die Türken, die seit Jahrzehnten in Westeuropa leben. Eine aktuelle Studie aus Deutschland besagt, dass 80 Prozent der Türken dort nicht zufrieden sind mit dem, was sie in ihrem Leben erreicht haben. Das sind Menschen, die ihre Träume nicht verwirklicht haben. Sie kapseln sich in ihre konservative Gesellschaft ab und geben der Regierung in Berlin an allem die Schuld.“
Türkische Einflussnahme im Ausland stoppen
Versäumnisse bei der Integration der Auslandstürken und auch bei deren Schutz vor Einflussnahme durch Ankara sieht die Neue Zürcher Zeitung:
„Deutschland und andere europäische Staaten haben die Risiken anhaltender Parallelgesellschaften zu lange verdrängt. Bereitwillig und bequem wurde zugelassen, dass der türkische Staat Keile zwischen 'seine' Staatsbürger und deren Klassenkameraden, Arbeitskollegen, Nachbarn in Europa treibt, indem er sie durch die von Ankara finanzierten Moscheen und weitere staatliche Organisationen belehrt und manipuliert. Europa muss die politische Einflussnahme ausländischer Staaten auf die eigene Bevölkerung unterbinden, auch wenn das mit Prinzipien von Toleranz und Offenheit kollidiert. Diese Werte werden missbraucht, wenn die Integration ansässiger Bevölkerungsgruppen gezielt hintertrieben wird und die daraus folgenden Kosten den europäischen Gesellschaften aufgebürdet werden.“
Radikalisierung wird zunehmen
Die Stimmabgabe vieler Auslandstürken zeigt zwei Dinge, wie Politikexperte Valentin Naumescu auf Contributors darlegt:
„Erstens: die Mehrheit der Türken in der EU hat keinerlei Affinität zur ihren westlichen Ländern, obwohl diese ihnen vermutlich ein höheres Lebensniveau gesichert haben als die Türkei. Zweitens ist es möglich, dass sich diese Minderheiten, die bislang relativ ruhig mit der Mehrheit ausgekommen sind, radikalisieren und zur Quelle gesellschaftlicher Instabilität, von Anti-System-Gewalt, Kriminalität und auch von Terrorismus werden. … Es ist möglich, dass die Radikalisierung der Türken (der Muslime) in Europa mit dem Aufstieg der xenophoben, nationalistischen Parteien in der EU fortschreitet, wobei man nicht sagen kann, das eine ist eine Reaktion auf das andere. Beide Strömungen sind gefährlich für die EU, und eines eint sie: Die aggressive und bedrohliche Rückkehr zu Identitätsdiskursen, die in der Regel großen Konfrontationen vorausgehen.“
Eltern müssen Integration auch wollen
Die Frage, wie die Erziehung von Migrantenkindern deren Einstellung zu Politik und Gesellschaft prägt, wirft Jyllands-Posten auf:
„Analytiker, darunter kluge Türken im Ausland, sehen in der Unterstützung für Erdoğan einen Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, in denen man lebt. Man sieht sich diskriminiert, man spricht von Rassismus und man ist froh, dass ein Typ wie Erdoğan mal mit der Faust auf den Tisch der schlimmen Deutschen, Holländer und so weiter haut. Dazu ist Folgendes zu sagen: Ja, gewiss gibt es ab und an Diskriminierung, vielleicht sogar Rassismus, was immer und überall verwerflich ist. Aber damit mussten Einwanderer und Flüchtlinge immer kämpfen. Zum Beispiel auch Juden und Asiaten. Aber gerade diese beiden Gruppen haben in der Regel die Zähne zusammengebissen, ihre Kinder zu gesetzestreuen Bürgern erzogen und für ihre gute Ausbildung gesorgt. Sie gedeihen hervorragend in der Gesellschaft, in der sie leben. Die Abstimmung vom Sonntag zeigt eine andere Art der Reaktion. Die Türken in Westeuropa müssen umdenken.“
Deutlicher Sieg Erdoğans im liberalen Westen
Die Abstimmung der Auslandstürken im Türkei-Referendum ist in höchstem Maße paradox, erklärt Lidové noviny:
„Erdoğans wichtigste Bastionen sind neben den ländlichen Gebieten seines Landes die türkischen Gemeinschaften in Deutschland (63 Prozent), in den Niederlanden, in Dänemark, Belgien und Österreich (über 70 Prozent). Das muss Europa erst einmal verdauen. Erdoğan bekam die meisten Stimmen ausgerechnet in den Ländern, die den Türken eine liberale Demokratie und eine multikulturelle Gesellschaft bieten und die sich vehement dagegen wandten, dass die AKP dort ihren Wahlkampf durchführt. Mit anderen Worten: Die Türken, die am meisten für einen Führerstaat votierten, leben nicht in Ankara oder Istanbul (49 Prozent Ja), sondern in Dortmund (76 Prozent) und selbst im liberalen, grünen Berlin (50,13 Prozent). Die Vorstellung, dass ein über mehrere Generationen andauernder Aufenthalt in der EU aus den Türken 'neue deutsche Weltbürger' macht, ist falsch.“
Ja der Auslandstürken ist fatal
Entsetzt über das Abstimmungsverhalten der Auslandstürken zeigt sich der Kurier:
„Dass in Österreich fast eine Drei-Viertel-Mehrheit (bei einer Beteiligung von 50 Prozent sind das an die 40.000) für die Festschreibung einer autoritären Verfassung ist, muss jetzt aber diskutiert werden. Einfach zum Alltag überzugehen, wäre fahrlässig. Das Ergebnis wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Ja-Sager. Sie leben teils seit Jahrzehnten in der Alpenrepublik, genießen alle Privilegien, die der demokratische Rechtsstaat bietet – und begeistern sich im Gegensatz zu fast der Hälfte aller Türken in der alten Heimat für ein System, in dem ein Mann nahezu alles diktieren kann. Das ist nicht nur politisch bedenklich, diese Wahl wurde noch dazu aus der sicheren Komfortzone getätigt: Denn sollte Erdoğan sein Land in Richtung Diktatur führen, würden sie die Unterdrückung hier nicht zu spüren bekommen.“
Westeuropa lässt sich an der Nase herumführen
Von den rund 1.300 Türken, die sich in Bulgarien am Referendum beteiligten, stimmten nur 29 Prozent mit Ja, freut sich Duma und blickt besorgt auf die Ergebnisse aus Westeuropa:
„Für Bulgarien gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass die Türken in Bulgarien die Demokratie und den gesunden Menschenverstand gewählt haben. Die schlechte ist, dass sich Westeuropa mit seinen Prinzipien, Werten und Idealen verzettelt hat und sich nun aus lauter Dummheit von Erdoğan an der Nase herumführen lässt. Gleichzeitig hat man durch die feindliche Politik gegenüber Russland einen wichtigen Verbündeten verloren. Der Westen kann sich einen solchen Fehler allerdings leisten, weil er weit weg ist und aus der Geschichte weiß, dass anderen Länder die Rolle einer 'blutigen Schwelle' [zum Orient] zukommt. Um aber nicht ein zweites Mal diese Rolle zu übernehmen, müssen wir Bulgaren neue und stärkere Garantien für unsere Sicherheit verlangen.“