Türkei: Fragwürdige Desinformationsbekämpfung

Das Wahljahr 2023 war auch für die Medien mit großen Hoffnungen verbunden. Von einem Sieg der Opposition erhoffte man sich mehr Freiheiten. Doch es kam anders, der Druck auf den unabhängigen Journalismus dürfte bis auf Weiteres nicht nachlassen. Ein neues "Desinformationsgesetz" ist dafür ein weiteres Beispiel.

Zeitungsstand in Istanbul am Tag nach der türkischen Präsidentschaftswahl im Mai 2023. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Emrah Gurel)
Zeitungsstand in Istanbul am Tag nach der türkischen Präsidentschaftswahl im Mai 2023. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Emrah Gurel)
Die Türkei befindet sich in der von der NGO "Reporter ohne Grenzen" herausgegebenen Rangliste der Pressefreiheit schon lange im letzten Drittel, doch die Situation der Medienschaffenden hat sich zuletzt noch weiter verschlechtert: Das Land verlor nicht weniger als 16 Plätze gegenüber dem Vorjahr und rutschte 2023 auf Platz 165 von 180 Ländern ab. So hatte etwa die Medienpolitik nach den Erdbeben vom Februar 2023 (abermals) klar vor Augen geführt, dass der Staat Nachrichten weitestgehend kontrollieren will: Gegen Medien, die Kritik an behördlichen Präventions- und Katastrophenmanagement-Maßnahmen Raum gaben, wurden Einschränkungen und Geldstrafen verhängt, Journalisten vorübergehend festgenommen oder bedroht. Ankara nimmt dabei vor allem die lokalen Medien ins Visier, die noch weniger von großen Holdings kontrolliert werden.

Die Hoffnung, dass sich die Lage durch einen Regierungswechsel nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 verbessern würde, erfüllte sich nicht. Die islamisch-rechtsnationalistische AKP-MHP-Regierungskoalition um Präsident Erdoğan konnte sich erneut durchsetzen und setzte ihren autoritären innenpolitischen Kurs weitgehend fort. Ob die überraschende Niederlage der AKP bei den Kommunalwahlen im März 2024 Auswirkungen auf diesen Kurs haben wird, bleibt abzuwarten.

Einem Bericht der türkischen Journalistengewerkschaft zufolge waren im Mai 2023 26 Journalisten in der Türkei inhaftiert. Mehr als 270 Medienschaffende wurden 2022 vor Gericht gestellt, 57 weitere wurden körperlich angegriffen, 54 Nachrichten-Websites und 1.355 Artikel wurden gesperrt. Unabhängige Nachrichtensender wurden für ihre Berichterstattung zu Strafen und Bußgeldern von mehr als 10 Millionen türkische Lira (damals rund 500.000 Euro) verurteilt.

Ein weiterer Einschnitt ging mit dem im Oktober 2022 verabschiedeten sogenannten Desinformationsgesetz einher. Seither können Journalisten und Nutzer sozialer Medien leichter für “Falschinformationen“ angezeigt und zu bis zu drei Jahren Haft verurteilt werden. Dazu zählen auch “unbegründete” und “verzerrte” Informationen. Weil das Gesetz diese Begriffe nicht näher definiert, wird es stark von der Interpretation der Gerichte abhängen, was als Verletzung des “öffentlichen Friedens“ oder der “öffentlichen Ordnung“ angesehen wird – und dies unter den Vorzeichen eines weitgehend der Regierungslinie folgenden Justizsystems. Für die Regierung in Ankara scheint diese auf Abschreckung setzende Strategie aufzugehen. Nach Verabschiedung des Gesetzes wurde in sozialen Medien deutlich weniger Kritisches geteilt und die Kritik an der Regierung nahm spürbar ab.

Außerdem werden Social-Media-Plattformen durch das neue Gesetz gezwungen, persönliche Nutzerdaten an türkische Behörden weiterzugeben. Bei Weigerung wird ihre Bandbreite um 90 Prozent gedrosselt, was faktisch die Sperrung des Dienstes bedeutet.

Kaum noch unabhängige Publikationen
Rund 70 Prozent der türkischen Medien gehören zu wenigen großen Gruppen. Neben den etablierten Holdings kauften seit 2010 vermehrt islamisch-konservative, der Regierung nahestehende Unternehmer große Medien auf. So wurden etwa die verhältnismäßig auflagenstarke Sabah und der Fernsehsender ATV in Sprachrohre der Regierung umgewandelt. Fast alle Mediengruppen wiederum sind in der Hand großer Konzerne, die auch im Bau-, Finanz- oder Energiesektor tätig sind. Informationen, die ihren Geschäftszielen entgegenstehen, sind in der Berichterstattung selten zu finden. Angesichts lukrativer Staatsaufträge in diesen Sektoren gilt dies auch für regierungskritische Berichterstattung. Die einst betont regierungskritische größte türkische Mediengruppe Doğan, zu der unter anderem die Tageszeitung Hürriyet und der TV-Sender CNN Türk gehörten, wurde 2018 nach jahrelangem Druck an die regierungsnahe Demirören Holding verkauft, der bereits Zeitungen wie Milliyet und Habertürk gehören. Damit stehen mittlerweile 90 Prozent der Medien im mittelbaren oder unmittelbaren Einflussbereich der Regierung.

Aber auch bei den oppositionellen Medien sollte das Label unabhängig vermehrt hinterfragt werden. Viele von ihnen haben sich auf die Seite einer anderen Partei geschlagen, meist die der größten Oppositionskraft CHP. Solche Medien, etwa der Fernsehsender Halk TV oder die Zeitungen Sözcü und Cumhuriyet, verfolgen eine Pro-CHP-Berichterstattung, in der Journalisten zum Teil wie Partei-Aktivisten auftreten.

So berichten heute hauptsächlich Internetportale wie Artı Gerçek, T24 oder Gazete Duvar über Themen, die von etablierten Medien verschwiegen oder zumindest gemieden werden. Aber auch islamisch-konservative Medien berichten nicht immer und bei jedem Thema Erdoğan-treu, wie etwa am Beispiel von Karar oder Yeni Mesaj zu sehen ist.

Insgesamt behindern das neue Desinformationsgesetz, finanzielle Schwierigkeiten und das Ausbremsen auf den großen Digitalplattformen eine weitere Verbreitung und somit größeren Erfolg der unabhängigen Online-Medien.

Einen extrem hohen Stellenwert haben soziale Medien, 90 Prozent der Internetnutzer sind dort aktiv. Insbesondere bei der Nutzung von Facebook und X (vormals Twitter) rangiert die Türkei weltweit auf den vordersten Plätzen.


Rangliste der Pressefreiheit (Reporter ohne Grenzen): Platz 165 (2023)

Stand: November 2023
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