Aleppo versinkt in humanitärer Katastrophe
Russland hat Langstreckenbomber in den Iran verlegt und von dort aus Stellungen der Aufständischen im Norden Aleppos attackiert. Ihre strategischen Ziele in der Region schweißen Moskau und Teheran zusammen, analysieren Kommentatoren und kritisieren, dass der Öffentlichkeit das unfassbare Leid der Zivilbevölkerung in Syrien zunehmend gleichgültig ist.
Strategisches Bündnis zwischen Russland und Iran
Warum Teheran und Moskau im Syrienkrieg eng zusammenarbeiten, erklärt Avvenire:
„Für den Iran wäre der Sturz Assads und der Sieg der radikalen sunnitischen Milizen, die von der Türkei und den Golfstaaten unterstützt werden, eine Katastrophe. Brutal gesagt: Während Teheran mit gezücktem Schwert den grausamen Diktator von Damaskus verteidigt, weil seine geostrategische Sicherheit auch von Assad abhängt, scheint Moskau den diplomatischen Prozess nicht ganz aus den Augen verloren zu haben. ... Doch wer glaubt, dieser Unterschied könnte zu einem Bruch zwischen Moskau und Teheran führen, gibt sich Illusionen hin. Jetzt wo das syrische Regime gestärkt und seine Gegner geschwächt sind, wird Putin nach Jahren der kostspieligen militärischen Unterstützung Syrien wohl kaum aufgeben. Es sei denn, es käme zu Gesprächen mit dem Westen, die die Ukraine und das Ende der Wirtschaftssanktionen einbeziehen. Doch solche Gespräche sind heute unvorstellbar.“
Wir sind abgestumpft
Das Schicksal der Kriegsflüchtlinge lässt uns Europäer kalt, kritisiert Aamulehti:
„Der Strom, der sich wöchentlich wiederholenden Nachrichten stumpft die Menschen ab. … Mit der Verlängerung des Kriegs dehnt sich die Gleichgültigkeit für die menschliche Not vom Kriegsschauplatz bis nach Finnland aus und setzt sich in unseren Ansichten fest. Auch wir verrohen. … Im Verlauf des Kriegs musste fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung flüchten. Der größte Teil der Flüchtlinge hat in den Nachbarländern Schutz gesucht. In die Türkei sind 2,7 Millionen Syrer geflüchtet. Im kleinen Libanon leben 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge - genauso viele, wie nach ganz Europa gekommen sind. In Finnland und Westeuropa hat sich der Krieg als Flüchtlingskrise gezeigt. Die Not der Syrer kümmert uns weniger als die Frage, wie unsere Gesellschaft mit den Zuwanderern zurechtkommt. Die Ankunft der Flüchtlinge hat Europa in einen moralischen Konkurs mit politischen Folgen getrieben. “
Russland und Iran wollen Fakten schaffen
Russlands Luftangriffe von einer iranischen Basis auf Aleppo zeigen, dass beide Staaten den Krieg in Syrien gewaltsam beenden wollen, warnt die konservative Tageszeitung Die Presse:
„Vom Iran aus fliegt Russlands Luftwaffe nicht nur Einsätze gegen Gebiete, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) kontrolliert werden. Sie nimmt auch Ziele in Idlib und Aleppo ins Visier. Von einer Waffenruhe für Aleppo ist - zumindest von russischer Seite - keine Rede mehr. Moskau und Teheran wollen offenbar Fakten schaffen und den Rebellen endgültig den Ostteil der nordsyrischen Großstadt entreißen. Das würde dem seit fünf Jahren währenden Aufstand gegen Assad einen schweren Rückschlag versetzen. ... Leidtragende sind Syriens Zivilisten, die in Städten wie Aleppo Granatbeschuss und Bombardements ausgesetzt sind - jetzt auch durch Angriffe, die von iranischen Basen aus geflogen werden.“
Lage der Bevölkerung spielt keine Rolle
Bei den Verhandlungen um einen Frieden für Aleppo spielt die Versorgung der leidenden Zivilbevölkerung keine Rolle, kritisiert Der Standard:
„Die humanitäre Sichtweise auf die Schlacht um Aleppo wäre die einzig angebrachte, sollte man meinen: Der Gedanke, dass Hunderttausende in der umkämpften Stadt eingeschlossen sind und es vielleicht noch sehr lange bleiben werden - so lange, dass auch die mediale Aufmerksamkeit wieder verloren geht -, ist unerträglich. Noch dazu trifft es, wenngleich nicht in symmetrischem Ausmaß, sowohl einen Bevölkerungsteil, der zum Assad-Regime hält, als auch einen, der mit den Rebellen sympathisiert. Da müsste sich doch eine Lösung für die Zivilisten finden lassen, sagt der gesunde Menschenverstand. Dieser ist jedoch kein Kriterium. Die Kriegsparteien nutzen jede noch so kleine Unterbrechung, um sich neu zu orientieren: Und da die Rebellen das nötiger haben als Assad und seine Unterstützer, profitieren Erstere mehr von längeren Feuerpausen, und Letztere sind dagegen.“
USA und EU haben Russland das Feld überlassen
Europa und die USA schauen zu, wie in Syrien eine unmenschliche Hölle entsteht, kritisiert El Periódico de Catalunya:
„Syrien ist derzeit für Ärzte und Pfleger das gefährlichste Land der Welt. 44 Anschläge auf Gesundheitszentren hat die Uno im Juli gezählt. Alle Krankenhäuser wurden in den vergangenen Wochen zwei bis dreimal bombardiert, vor allem im von den Aufständischen kontrollierten Teil. Dort gibt es nur noch 35 Ärzte für 250.000 Menschen. ... Syriens Regierung will die Bevölkerung demoralisieren und die Rebellen zum Aufgeben bewegen. Das machen die Nachrichten aus dieser Hölle deutlich. All das geschieht mit Unterstützung Russlands und des Irans, die zu Assad halten, und mit der stillschweigenden Unterstützung der USA. ... Europa und die USA haben mit ihrer Tatenlosigkeit und Nachlässigkeit Russland das Feld und die Kontrolle überlassen, nicht nur in Syrien, sondern auch im Sicherheitsrat der Uno.“
Allianz von Rebellen und al-Qaida nicht dulden
Das strategische Bündnis der Rebellen mit dem al-Qaida-Zweig Al-Nusra im Kampf um Aleppo bedroht den Westen, warnt der Kolumnist Dyab Abou Jahjah in De Standaard:
„Was ist, wenn es al-Qaida gelingt, ein Gebiet einzufordern und es zu vergrößern? Das wird früher oder später als Basis für den Kampf gegen die Nachbarländer und den Rest der Welt genutzt werden. Im Gegensatz zum megalomanen IS besitzt al-Qaida die strategische Stärke, um diese Situation optimal zu nutzen. Die einzige Lösung ist, dass die USA und Russland zusammenarbeiten und alle Parteien zu einem Kompromiss zwingen. Dann können die Rebellen und das Regime die Macht teilen und auch den Kampf gegen den IS und al-Qaida angehen, die sich einem solchen Kompromiss verweigern werden. Ein Sieg der Rebellen in Aleppo kann diesen Prozess beschleunigen. Ein Sieg des Regimes würde ihn unmöglich machen. Die Rebellen denken, dass sie al-Qaida dafür benutzen, aber nur die Zukunft wird zeigen, wer eigentlich wen benutzt.“
Das Leid der Zivilbevölkerung zählt nicht
Die Bewohner Aleppos werden den strategischen Interessen der Bürgerkriegsparteien geopfert, beklagt Keskisuomalainen:
„Seit jeher ist der Schutz der Zivilbevölkerung ein zentrales rechtliches Prinzip im Krieg. In dem seit sechs Jahren andauernden Bürgerkrieg in Syrien wird dieses Prinzip fortwährend gebrochen. ... Jeder Angriff auf ein Krankenhaus ist ein Kriegsverbrechen. Für Tausende in Aleppo eingeschlossene Menschen kommt die Zerstörung von Krankenhäusern einem Todesurteil gleich. ... Aleppo ist in Syrien eine so bedeutende Stadt, dass der Sieg im Kampf um die Herrschaft darüber für alle Kriegsparteien wichtig und vielleicht sogar entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf ist. Angesichts dessen scheint das Schicksal der Zivilbevölkerung nicht viel zu zählen.“
Das Blatt hat sich gewendet
Die Schlacht um Aleppo verläuft zugunsten der Rebellen und wird den Wendepunkt im Syrienkrieg einleiten, ist die saudi-arabische Tageszeitung Asharq Al-Awsat überzeugt:
„Der Grund, weshalb die Rebellen in Aleppo siegen werden, ist, dass die verschiedenen Gruppen eine militärische Allianz eingegangen sind. Sie kämpfen unter einer Flagge. Außerdem zeichnen sie sich durch eine hohe Kampfmoral aus. Denn in dieser Schlacht gibt es keine Alternative zum Sieg. ... Die syrische Revolution ist wieder erstarkt. Sie hat aufgehört, sich zu verteidigen, und ist zum Angriff übergegangen. Die jüngsten Entwicklungen in Aleppo sind nicht nur eine gute Nachricht für die Rebellen und für das syrische Volk, sondern für jeden Araber. Denn die bewaffnete Opposition trotzt einer regionalen religiösen Allianz, bestehend aus Russland, Iran und den schiitischen Milizen, die sich über die Grenzen Syriens hinaus ausbreiten wollen. Die syrische Revolution ist auch eine arabische Revolution.“
Verteidiger Aleppos unterstützen
In Aleppo zeigen sich die Folgen des asymmetrischen Kriegs in Syrien, meint Der Tagesspiegel und fordert den Westen auf, dringend die moderate Opposition zu unterstützen:
„Der Krieg in Syrien kann nicht militärisch entschieden werden? Assad und Russland beweisen das Gegenteil. Waffenlieferungen in Kriegsgebiete sind immer schlecht? Solange die moderate Opposition sich effektiv wehren konnte, waren Russland und Assad zu Verhandlungen bereit. Seit sie siegen, nicht mehr. Die USA und Europa stehen vor einer unangenehmen Wahl. Es gibt keine 'Guten', die man bedingungslos unterstützen kann. ... Aber die Verteidiger in Aleppo und anderen Zentren der moderaten Opposition sollte der Westen zumindest so weit unterstützen, dass Assad und Russland wieder ernsthaft verhandeln, weil ihre eigenen Verluste zu groß werden. Sonst bleibt nur zuzusehen, wie Syriens Städte sterben: gestern Homs, heute Aleppo.“
Friedensgespräche befeuern den Krieg
Die Genfer Friedensgespräche haben die Lage in Syrien nur verschlimmert und werden den Krieg nicht beenden, meint Le Temps:
„Die Belagerung von Aleppo ist gewiss auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, auf die Dynamik des Kriegs und auf Entwicklungen der Kämpfe, die man nicht vorhersehen kann. Doch wird Aleppo vor allem belagert, weil die Fristen, die im Genfer Prozess festgelegt wurden, ungeeignet sind. Die geschah, weil es keine besseren Lösungen gab und weil man sich den Anschein geben wollte, voranzukommen. Zu versuchen, die Landgewinne auszuweiten, bevor sich die Feinde möglicherweise um den Verhandlungstisch versammeln, ist eine banale Taktik. Was die Erfolgsaussichten jeglicher Konfliktregelungen betrifft, ist das eine so einfache wie perverse Logik. In Syrien ist dieses Detail jedoch zu einem Katalysator des Kriegs geworden. Der Rest ist nur Fassade und leeres Gerede. Die einzige Realität ist die vor Ort, das einzige Argument ist das der Waffen.“
Wegschauen wird Westen teuer zu stehen kommen
Der Fall Aleppos an die Regierungstruppen wird eine neue Flüchtlingswelle auslösen, warnt The Times:
„Die grausige Belagerung ist das Sarajevo des 21. Jahrhunderts und wir ignorieren es. Blockiert von den Terroranschlägen auf unserem eigenen Kontinent und der politisch gelähmten Führung in den USA, entgehen uns die Vorgänge in Aleppo. Wenn wir aufwachen, wird es zu spät sein. Die Stadt, die einst Syriens wirtschaftliche Metropole, Werkstatt und Marktplatz war, wird verlassen und niedergewalzt sein. ... Mit seiner Entscheidung, gemeinsame Sache mit Waldimir Putin zu machen, sendete der Westen eine Botschaft an die ganze Welt, dass er Syrien aufgibt, weil die dortigen Probleme zu schwierig zu lösen sind. Damit wird die Flucht in den Westen verstärkt - nach dem Fall Aleppos werden Hunderttausende in Richtung der türkischen Grenze ziehen - und der Terrorismus in keinster Weise bekämpft.“
Noch viel schlimmer als Srebrenica
Nichts anders als ein Kriegsverbrechen ist die Einrichtung der Hilfskorridore für die Tageszeitung Die Welt. Sie drängt den Westen zum Eingreifen:
„Vor gut 20 Jahren ließen die Weltgemeinschaft und der Westen tatenlos zu, dass serbische Einheiten 8.000 Bewohner der bosnischen Stadt Srebrenica massakrierten. Erst unter dem Schock dieser Untat entschlossen sie sich endlich zum Eingreifen. Heute nimmt im syrischen Aleppo eine humanitäre Katastrophe ihren Lauf, die Srebrenica noch weit übertrifft. ... Die Zivilbevölkerung wird vor die Alternative gestellt: flüchten oder rücksichtslos bombardiert und ausgehungert werden. Es ist in Wahrheit eine gewaltsame Vertreibung und so ein weiteres Kriegsverbrechen, das unter Federführung eines ständigen Mitglieds des UN-Sicherheitsrats begangen wird. ... Der Westen darf das nicht länger hinnehmen. ... Die Reue, die er nach Srebrenica zeigte, nimmt ihm sonst dieses Mal keiner mehr ab.“
An Assad führt offenbar kein Weg vorbei
Der Westen muss seine Syrien-Strategie wohl oder übel ändern, analysiert De Volkskrant:
„Ein Sieg Assads - mit Unterstützung durch Russland und den Iran - ist viel wahrscheinlicher als eine Niederlage. Assad hat - wenn man seiner eigenen Logik folgt - viel weniger Grund, seinen Gegnern entgegenzukommen als noch vor einem halben Jahr. ... Genauso ernüchternd ist die Frage, ob die USA und Europa, wenn sie Einfluss auf Syrien haben wollen, nicht den Kontakt zu Assad aufnehmen müssen. ... Man muss befürchten, dass es keine Alternative gibt, als mit dem Despoten zu reden. ... Zum einen, weil die bisherige Strategie Syrien nicht vor einem grausamen Bürgerkrieg behüten konnte. Aber auch, weil es keinerlei Grund gibt anzunehmen, dass auf Assad ein anständiger Demokrat folgen wird.“
Nicht aus Angst vor IS den Diktator verschonen
Um den IS zu schwächen, muss der Westen einen drohenden Völkermord durch die syrischen Truppen in Aleppo verhindern, fordert De Morgen:
„Es gibt einen wichtigen Grund für die Zurückhaltung des Westens in Syrien: Unsere Angst vor dem IS. Der allgemeine Eindruck ist, dass nach einem Abgang des syrischen Präsidenten Assad der Weg für das teuflische Kalifat des Islamischen Staats frei ist. ... Doch das ist falsch. Gerade die Bilder des Massenmords auf Staatsbefehl in syrischen Städten und unsere schlappe Reaktion darauf, jagen Hunderte auf den schrecklichen Weg des Dschihad-Terrorismus. Je mehr Assad ungestört gegen sein Volk vorgehen kann, desto mehr Vorwände haben die Dschihadisten, um sich an Unschuldigen blutig zu rächen. Assad und den Genozid zu stoppen und Syrien zum Frieden zu zwingen, liegt daher in unserem eigenen Interesse. Das wird den internationalen Terror nicht stoppen, doch es ist die einzige Möglichkeit, die Anziehungskraft des IS zu bremsen.“
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